1.
Noch
immer hallte die Stimme in meinem Kopf nach:
“Fahren sie langsam. Der Doktor wartet auf sie.“
Die
Schwester hatte gut reden. Da ging es doch um einen Menschen, einen Mann,
meinen Mann, den Vater meiner Kinder!
Und während er im
OP gelegen hatte, hatte ich Geschenkbändchen zusammengerollt. Eine
blödsinnige Beschäftigung, ich weiß.
Aber immer, wenn ich besonders nervös bin, gehe ich besonders blödsinnigen
Beschäftigungen nach. Zu etwas Sinnvollem wäre ich gar nicht in der Lage
gewesen und doch mussten meine Hände irgendwas tun.
Und dann kam
endlich der Anruf. Ich hatte gehofft, eine Antwort auf meine Fragen zu
bekommen. Was war mit ihm? Gestern war er noch gesund und heute stürzte die
ganze Welt über ihn ein. Auch wenn ihm immer öfter schwindlig oder schlecht
war, hätte doch keiner vermuten können, dass es ernsthaft krank sein könnte und
nun sah es ganz so aus. Aber er war doch erst 32, schlank, gesund!
Und dann hatte ich
gesagt: „Geh endlich zu einem Arzt. Das ist doch nicht normal, dass die immerzu
schlecht ist.“ Und der Arzt hatte ihm einen Blutdruck bescheinigt, der sonst
nur bei 2 Zentnern Übergewicht normal ist. Die Ursache konnte er sich nicht
erklären, wobei er einen Verdacht hatte, den er sich durch Untersuchungen im
Krankenhaus bestätigen lassen wollte.
Er wurde sofort
eingewiesen. Doch auch dort wusste man nicht so recht weiter und überwies ihn
in eine Spezialklinik. Und dort kam er sofort unters „Messer“. Man wollte ihm
Gewebsproben entnehmen und die dann auswerten. So naiv wie ich war hatte ich
erwartet, sofort zu erfahren, was los war.
Warum gab man am
Telefon eigentlich keine vernünftigen Antworten? Glaubte die Schwester, ich
würde mich auf der Stelle umbringen? Das würde doch die Situation auch nicht
ändern. Ich wollte doch nur wissen, was eigentlich los war!
Toms Mutter redete
immerzu von Blutkrebs. Ihre Schwester
war daran gestorben. Aber ich wusste, dass es das nicht war. Warum ich mir so
sicher war, hätte ich nicht erklären können. Aber ich war mir sicher, dass es
was anderes war.
Es war Winter und
es war kalt und die Straßen waren glatt. Aber ich spürte weder die Glätte, noch
die Kälte. In Rekordzeit hatte ich den benachbarten Landkreis erreicht. Die Hinweisschilder
„Klinikum – Dialysezentrum“ veranlassten mich immer wieder zu Stoßgebeten:
„Bitte lass es das nicht sein, Bitte nicht das!“, brabbelte ich vor mich hin.
Völlig konfus erreichte ich das Krankenhaus. Es war außerhalb der Stadt, auf
einen Berg errichtet. Weit und breit war nichts. Nur ein eisiger Wind wehte, er
pfiff regelrecht. Ich machte mir noch Gedanken, warum es so dezentral gelegen
war, da tauchte ich auch schon in das geschäftige Treiben ein.
Die kranken
Raucher hatten sich – zum Teil in Rollstühlen – vor dem Gebäude versammelt, um
ihrer Sucht zu huldigen.
Im Inneren
schwirrten Ärzte, Schwestern, Pfleger, Kranke und Gesunde herum. Alle schienen
zu wissen, wohin sie wollten. Alle, außer mir. Die Unmengen Hinweisschilder
brachten mich auch nicht unbedingt weiter. Wo war nur das Schild, auf dem stand:
„Hier geht es zu Tom Schneider“ ? Krampfhaft versuchte ich mich zu erinnern,
was die Schwester gesagt hatte. Station 2 oder 4 oder 5, Innere oder Allgemeine?
Dunkel aber bekannt kam mir das Wort „Wachstation“ vor. Also ging ich den
Wegweisern folgend dahin.
Es war so, als ob
ich in andere Welt eintauchte. Von dem geschäftigen Treiben auf den Gängen
draußen war nichts mehr zu spüren. Hier ging die Uhr langsamer, oder manchmal
auch schneller. Ich war umgeben von Maschinen, Schläuchen und Menschen, die
mehr tot als lebendig vor sich hinröchelten. Ich konnte hier nur falsch sein!
Gestern, gestern war er doch noch total fit gewesen. Hatte man sich getäuscht,
lag eine Namensverwechslung vor? So was soll es ja schon gegeben habe, in so
einem großen Haus. Ja, das musste es sein!
Doch dann führten
sie mich zu einem Zimmer, in dem er lag. Ganz allein, an unzähligen Maschinen
angeschlossen, überall waren Schläuche, Kabel, Drähte! Da lag er
schlafend, in diesem OP Hemdchen, dünner
und blasser, als ich erwartet hatte. Der Anblick traf mich wie ein Schlag. Ich
wich zurück und lehnte mich an die Wand im Flur. Tausend Gedanken schossen
durch meinen Kopf und keiner war greifbar. Nur das Stumme: "Nein, das ist nicht wahr!" blieb.
Was sollte ich jetzt tun? Was sollte ich sagen? Ich biss mir auf die Lippen und
alle Tränen verschwanden.
Mit festem Schritt
ging ich ins Zimmer. Es wachte auf, sah mich an und mit einem Lächeln – wo ich
das herholte, weiß ich wirklich nicht – küsste ich ihn und fragte: „Hey, was haben
sie denn mit dir gemacht? Dich kann man ja wirklich nicht eine Stunde alleine
lassen.“
Er versuchte
ebenfalls zu lächeln, aber es gelang ihm nicht.
Ich setzte mich an
sein Bett, versuchte seine Hand zu halten, was durch die angelegten Schläuche
und umwickelten Fingerspitzen nicht unbedingt einfach war.
Aber ich tat so,
als ob alles normal sei und mein Lächeln schien in mein Gesicht gemeißelt zu
sein.
„Wie fühlst du
dich?“, fragte ich zögernd, und war mir nicht sicher, ob ich wirklich eine
Antwort hören wollte.
„Ich weiß
nicht...schwach...Ich glaube, ich muss mal. Kannst du mir helfen? Ich will
keinen Pfleger fragen.“
Natürlich konnte
ich. Warum kann man manche Dinge, von denen man glaubt, wenn man sie erzählt
bekommt, man könnte sie nicht? Und ich ahnte ja auch nicht, dass es für ihn das
letzte Mal sein würde.
Er war schon
wieder müde und schloss die Augen.
„Schlaf ein
bisschen. Ich geh erst mal zum Arzt und
rede mit ihm.“
Er schloss die
Augen und ich verließ fluchtartig die Station. Irgendwie hoffte ich so diesem
Alptraum zu entkommen. Das konnte doch alles nicht war sein- das musste ein
Traum sein.
Und wie hieß nur
dieser Arzt? Es war was mit Sievers. Ich hatte an Colt Sievers denken müssen,
als ich mit der Schwester telefonierte. Aber das war es nicht. Der Name war
länger gewesen. Wo hatte ich nur meine Gedanken? Ich gebe zu, ich bin eine
Katastrophe in Sachen Namen und Gesichter. Aber in dieser Situation sollte ich
mich doch erinnern! Nichts, gar nichts, völlige Leere! Wen sollte ich nur
fragen? Und was sollte ich denn fragen? Wo sollte ich den Mann finden, dessen
Namen ich nicht mehr wusste?
Ich beschloss
einfach eine Schwester zu fragen und beschrieb
ganz umständlich was mit meinen Mann war
und das ich den dazugehörigen Arzt suche, aber ich doch den Namen vergessen
hatte.
Und sie lächelte
mich tatsächlich an. Und ihr Lächeln strahlte so viel Mitgefühl aus. Sah sie
mir die Panik an? Sah sie mir an, dass ich mich mit dieser Situation völlig
überfordert fühlte? Oder war ich etwa eine von vielen, die sich diesen Namen
einfach nicht merken konnte? Vielleicht führten
ja die Schwestern so eine Art Strichliste, wie viele Leute den Namen
vergessen hatten? In meiner Panik kamen mir die unmöglichsten Gedanken.
Das passiert mir
immer wieder. Bei wirklich traurigen Angelegenheiten kommen mir die
verrücktesten Gedanken.
Da war mal diese
Trauerfeier, auf der ich mir immer wieder das Lachen verkneifen musste, weil
ich während alles um mich herum weinte, daran dachte, wie hinreißend komisch
diese Frau war und wie oft wir mit ihr gelacht hatten.
Dieser Gedanke
ließ mich einfach nicht los. Er hatte sich so sehr in meine Gedanken gebohrt,
dass ich in mich reinlächeln musste, während um mich herum alle weinten. So bin
ich eben.
Jedenfalls sagte
die Schwester lächelnd „Station 5.4, Zimmer 503 und der Mann heißt
Ravelsiever.“ Ich weiß nicht mal, ob ich mich bedankt habe, aber ich durfte
diese Information jetzt nicht wieder vergessen und so brabbelte ich den Satz
wieder und wieder vor mich hin, bis ich endlich am Fahrstuhl war. Unter
fortwährenden Gebrabbel drückte ich den Knopf für die Station 5, fiel
buchstäblich aus der Tür und sah mich um. ‚Wo ist jetzt vier?‘, dachte ich noch
und schon hatte ich den Namen vergessen. Ich blickte mich um in dem Gewirr aus
Gängen und Türen, die sich alle automatisch öffneten, wenn man nah genug
herankam. Und wie durch ein Wunder fand ich die Tür 503. Aber sie war
verschlossen. Panik machte sich in mir breit. ‚Toll, war der jetzt etwa schon
weg?‘. Ich fand die zum Zimmer gehörige Station und erklärte wieder so gut ich
konnte, was ich wollte und blickte ganz entschuldigend die Schwester an, dass
ich den Namen vergessen hatte. Eigentlich hatte ich Krankenschwestern in meiner
Vorstellung immer als die heimlichen Hausdrachen eines Krankenhauses abgestempelt,
aber bereits nach so kurzer Zeit sah ich ein, dass dies ein absolutes Vorurteil
war und es gar nicht an dem ist. Sie suchten den Mann für mich und führten mich
zurück zu seinem Zimmer und baten mich zu warten. Ich würde ihn schon erkennen.
Was würde er mir wohl sagen? Was war mit Tom? Ich hatte
keinerlei Vorstellung. Und die Minuten dehnten sich zu Stunden. Dann kam er
endlich: groß, schlank, die moderne, eckige Brille ließ ihn irgendwie noch
nervöser erscheinen.
Ich hörte kaum zu,
als er sich vorstellte, ich wollte nur wissen, was mit Tom war.
„Wir sind uns sicher, dass es sich um eine
Erkrankung der Nieren handelt. Darum wurde ich als Nephrologe herangezogen. Der
unnatürlich hohe Blutdruck und die Kreatinwerte im Blut ließen keine andere
Vermutung zu. Ich habe eine Nierenbiopsie vorgenommen und das entnommene Gewebe
sofort per Kurier nach Hamburg ans tropische Institut geschickt. Bei einer
Biopsie wird durch die Baudecke Gewebe direkt aus der Niere entnommen. Es wird
nicht geschnitten und man kann schneller zu einer Diagnose kommen, kann anhand
des Gewebes die Art der Erkrankung feststellen. Wir wissen noch nicht, ob es
sich um eine glomeruläre, interstitielle, vaskuläre, tubuläre oder zystische
Nierenerkrankung handelt. Es gibt zahlreiche Erkrankungen, die wir nicht diagnostizieren
können, ohne die pathologischen Befunde.“ Dieses Wort allein, hörte sich für
mich mehr nach Tot als nach Leben an. Waren die Nieren einfach „gestorben“? Er
referierte über die verschiedenen
Nierenerkrankungen, die es gibt. Als ich aufhörte, irgendwas zu verstehen,
unterbrach ich ihn einfach. Ich war hier nicht in einer medizinischen Vorlesung
und mit den verwendeten lateinischen Begriffen konnte ich gar nichts anfangen.
„Halt“, rief ich
„ich verstehe kein Wort. Was hat er denn nun?“
„Ich kann es noch
nicht sagen. Es gibt viele Möglichkeiten.“
„Und was wäre das
wahrscheinlichste?“, fragte ich leise, aber ungeduldig. Vielleicht würde die
Antwort nicht so schlimm ausfallen, wenn ich ihn leise fragte. Andererseits
wollte ich wissen, was kommen würde – im schlimmsten Fall. Besser werden konnte
es ja immer noch.
„Akute
Niereninsuffizens“. War die kurze, niederschmetternde Antwort. Ich hatte nicht
viel von seinem Vortrag verstanden, aber das war selbst mir klar –
Dialysepflichtigkeit.
„Wir sind uns
nicht sicher, ob der hohe Blutdruck, die Glumeroli der Nieren zerstört hat,
oder ob die versagende Niere den Blutdruck hochgetrieben hat. Wir geben ihm
zunächst Blutdrucksenkende Mittel, um die Niere nicht völlig zu zerstören. Noch
hat er Harndrang und daran erkennen wir zunächst, dass noch eine Restfunktion
der Niere da ist. Des weiteren haben wir ihm einen Halskatheder gesetzt, damit
er dialysiert werden kann, was wir auch sofort gemacht haben. Die Blutwerte
sind so dramatisch schlecht, dass wir eine Vergiftung des Körpers befürchten
müssen.“
Ich saß
zusammengesunken auf dem Stuhl, während er versuchte das Urteil, dass er
gesprochen hatte abzumildern. Doch es halte immer wieder nach: Dialysepflicht..
Warum waren meine Stoßgebete nicht erhört worden? Warum musste das uns
passieren? Während meiner Fahrt ins Krankenhaus hatte ich das schon geahnt,
ohne sagen zu können, woher diese Vorahnung kam. Auch hatte ich nur eine vage
Vorstellung von Dialyse, die ich meist aus diversen Krankenhausserien
aufgeschnappt hatte. Aber bereits das reichte aus, um mich in Panik zu
versetzen.
„Geben sie die
Hoffnung nicht auf. Vielleicht fällt der Befund positiver aus, als wir das
glauben. Und selbst wenn, auch unter der Dialyse kann eine hohe Lebensqualität
erreicht werden.“
„Weiß er, was mit
ihm los ist?“, fragte ich scheu.
„Nein. Ich will
ihnen die Entscheidung überlassen, wann er es erfährt.“ Ich! Ich sollte eine
derartige Entscheidung treffen! Ich sollte entscheiden, wann er ein solches
Urteil erfährt! Verstand ich doch selbst kaum, was hier los war.
Nein, ich fühlte
mich dieser Situation in keiner Weise gewachsen! Was verlangte er da von mir?
„Wenn wir die
Ergebnisse haben, werden wir weitersehen. Dann möchte ich gerne mit ihnen
beiden sprechen. Vielleicht ist es ja doch eine reversible Erscheinung und das
Nierengewerbe ist nicht völlig zerstört und alles normalisiert sich wieder. Wir
werden sehen.“
Damit hatte er
diese Aufgabe hinter sich gebracht. Die Erleichterung war ihm anzusehen. Es ist
sicher sehr schwer, seinen Patienten und deren Familien Diagnosen zu überbringen,
deren Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu ertragen. Nun war es an mir die
nächsten drei Tage durchzuhalten, Tom aufzumuntern und die Hoffnung nicht
aufzugeben. Vielleicht...
Und in dieses
Vielleicht setzte ich meine gesamte Hoffnung.
Ich ging zurück zu
ihm.
Und die Umgebung
erschlug mich gleich wieder. Kurz nach mir kam sein Chef mit seiner Frau. Ich
hatte ihn kurz angerufen und angedeutet, dass irgendwas schlimmes passiert war
– was, das wusste ich ja selber nicht. Und da standen nun die zwei.
Und plötzlich war
es mit meiner Selbstbeherrschung vorbei. Hemmungslos heulte ich los. Es
schüttelte mich wie ein kleines Kind, ich konnte mich gar nicht beruhigen und
wusste nicht mal, warum ich heulte. Ich hatte ja nicht mal die geringste
Ahnung, was auf mich zukommen würde. War es die Angst um Tom, der scheinbar
apathisch vor mir im Bett lag? War es die Angst, dass ich nicht wusste, wie
unsere Zukunft aussehen würde? Gab es überhaupt eine Zukunft? Existenzangst?
Angst wegen der Kinder?
Ich konnte keinen
klaren Gedanken fassen. Vielleicht hätte ich mich auch Tom zu liebe
zusammenreißen müssen, ich musste ihm doch Hoffnung und Kraft geben. Oder
vielleicht hätte ich mich auch wegen seines Chefs zusammenreißen sollen. Aber
mein Körper sah das anders. Er wohl der Meinung, jetzt diese Unmengen Tränen
produzieren zu müssen, ohne das mein Kopf das gestattet hatte.
Die beiden
begannen mich zu trösten, offensichtlich fanden sie meinen Gefühlsausbruch gar
nicht so schlimm. Es würde schon werden und ich soll nicht verzweifeln und
immer nach vorne schauen – so was in der Richtung.
Tom’s Chef hat eine merkwürdige Art mich
anzusprechen – in der 3. Person. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er
nicht weiß, ob er mich duzen oder siezen soll, oder weil man einfach so spricht
in der Gegend, aus der er kommt, jedenfalls redet er schon immer so mit mir und
während ich das am Anfang immer sehr belustigend fand, habe ich mich inzwischen
daran gewöhnt.
„Wisst ihr“,
begann er „ ich hatte auch schon einen Herzinfarkt, ich leide seit Jahren
am Bechterew und den damit verbundenen
Erkrankungen. Aber ich lebe damit. Und egal was Tom hat, man kann mit so vielen
Dingen leben. Ich hätte auch nie geglaubt, dass ich nach meinem Herzinfarkt
jemals wieder arbeiten kann. Und seht mich an: Heute habe ich vier Filialen .
Solange man an sich glaubt, eine Familie hat, die hinter einem steht, geht
alles.“
Fasziniert sah ich
den Mann an. Ich wusste das alles gar nicht. Er war für mich eben sein Chef,
nicht ein Mensch wie die anderen um mich herum, eben sein Chef. Er wirkte auf
mich immer wie dieses Gemälde von Lucas Cranach mit dem mittelalterlichen
Kaufmann: groß und stark wie ein Bär, mit einem Vollbart und Augen, die Ruhe
und Güte ausstrahlen. Wenn er lacht, dann lacht sein Gesicht und sein ganzer Körper
mit. Und es ist unglaublich ansteckend. Er lacht nicht oft, er lobt auch nicht
oder tadelt, doch wenn er den Kopf bedächtig hin und herwiegt, dann weiß ich,
dass er nicht zufrieden ist. Seit Jahren gestalte ich seine Filialen und es
macht mir unglaublichen Spaß. Ich weiß noch, wie ich ihn kennengelernt hatte:
Als bei Tom an der Arbeit wiedermal über die Deko schimpfte und mich darüber
ausließ, dass es so viele unaufgeräumte Ecken gab, und ob dass denn sein Chef
nicht sehen würde und was der eigentlich für ein Ignorant sein müsse – und er
stand die ganze Zeit hinter mir. Ich kannte ihn ja nicht und wäre am liebsten
in den Erdboden versunken und Tom auch – das konnte ich ihm ganz deutlich
ansehen.
Aber er fing so
schallend an zu lachen, daß ich ihn sofort mochte und langsam konnte ich Tom’s
Schwärmerei für ihn verstehen.
Und seine Frau?
Ich mag sie. Sie ist nicht die typische Chef Frau, ein Modepüppchen, die sich
auf den Erfolgen ihres Mannes ausruht.
Sie arbeitet überall mal. Nicht so, dass sie nichts
richtig könnte, im Gegenteil, sie kontrolliert die Wareneingänge genauso
selbstverständlich, wie sie in der Buchhaltung aushilft, wenn Not am Mann ist.
Es fehlte eigentlich nur noch dass sie
verkaufen würde. Aber das lehnt sie ab. Komisch, denke ich manchmal, sie hat so
eine überzeugende Art! Dass sie mich ganz selbstverständlich duzt, hat mich nie
gestört, wenngleich ich das nicht kann.
Wenn sie sich
neben mich stellt und mir zusieht – früher hat mich das irritiert, nervös
gemacht – jetzt nicht mehr. Manchmal muss man Menschen eben kennenlernen, um
sie zu verstehen: wenn sie neben mir steht, will sie einfach zuschauen, wie ich
das mache, vielleicht einen Gestaltungstipp abgucken- aber eben nicht, um mich
zu tadeln, oder zu verbessern – das muß man eben erste lernen.
Jedenfalls mag ich
die beiden. Das ist so ein respektvolles mögen, ich habe unglaubliche Achtung,
vor dem was sie geschaffen haben und finde schön, dass sie Mensch geblieben
sind.
Jetzt bemühten sie
sich, mich zu trösten und merkwürdiger Weise gelang ihnen das auch - als sie gingen, waren meine Tränen getrocknet
und mein Schluchzen hatte sich beruhigt
Tom sprach leise
und es strengte ihn sehr an:
„Was hat der Arzt
gesagt?“
„Er weiß nicht
genau, was dir fehlt, erst wenn der die Ergebnisse der Biopsie hat, kann er was
sagen, in drei Tagen.“
Ich streichelte
wieder seine Hände, sein Gesicht. Aber er schien das gar nicht wahrzunehmen. Er
war so weit weg. Merkt er überhaupt, dass ich da war?
Um ihn abzulenken,
erzählte ich von der Arbeit und was die Kinder machten. Ich wollte nicht, dass
er sich genau wie ich, ständig drüber Gedanken machte, was passiert war und warum
und wieso gerade ihm.
Dabei hätten wir
doch reden müssen! Aber wie immer fürchteten wir uns vor so ehrlichen
Gesprächen. Man konnte sich ja mit unwichtigerem ablenken.
Er sagte mir noch,
wen ich anrufen müsse, um bestimmte Sachen erledigen zu lassen. Ich gab ihn
noch einen Kuss und hatte das Zimmer noch nicht verlassen, da war er schon
wieder eingeschlafen.
Ich sah jetzt
weder Ärzte, noch Schwestern, noch Patienten oder Besucher, ich rannte
fast. Ich wollte aus diesem Alptraum
wegrennen. Draußen in der frischen, kalten Luft blieb ich abrupt stehen. Warum?
Warum? Warum? – mehr dachte ich nicht. Ich dachte nicht mal das „Warum“ zu
Ende, mein Kopf war leer. Ich kann mich
auch nicht mehr daran erinnern, wie ich nach Hause gekommen bin.
Plötzlich stand ich vor unserem Haus. Die Kinder grüßte ich von ihrem Vater, auch
wenn der nicht dergleichen gesagt hatte – er hatte es einfach – und ich
verstand das nur zu gut - vergessen.
Mit meinen
Schwiegereltern konnte ich nicht reden und sie empfanden meine Wortkargheit
sicher als echt schlimm. Ich beruhigt nur Toms Mutter, dass er kein Blutkrebs
habe – soviel sei sicher. Alles andere verschwieg ich. Ich konnte einfach
nichts sagen. „Na, dann ist es ja gut. So schlimm kann es ja nicht sein.“ Ich sagte nichts, schlich in meine Wohnung
und war ganz für die Kinder da. Sie lenkten mich ab und gaben mir Kraft. Doch
als sie im Bett waren, brach dieser Alptraum wieder über mich herein.
Mit einer Flasche
Wein, Zigaretten und dem Telefon setzte ich mich in die Küche, ich wollte mit
jemanden reden. Aber wer war wohl in der Lage, mir auch zuzuhören?
Ich sollte die
schwarze Gabi anrufen, sie ist auch Ärztin, dachte ich. Nele hatte sie so
getauft. Als sie klein war, verwirrte ihn die Tatsache, dass
meine Freundin den gleichen Namen wie meine Schwester hatte und auf Grund ihrer
tiefschwarzen Haare, bekam sie diesen Beinamen. Sie hat ihn immer noch und wird
ihn wohl immer behalten. Sie ist meine älteste Freundin, nicht, dass sie alt
ist, ich kenne sie nur schon so lange. Ihr Mann und ich haben zusammen gelernt
und in dem Moment, als er sie mir vorstellte, wusste ich, dass sie ein ganz
besonderer Mensch ist. Sie ist völlig anders als ich und ich weiß auch nicht,
warum sie meine angebotene Freundschaft erwiderte. Sie hat die Figur, die ich immer haben
wollte, sie raucht nicht, sie trinkt fast nie, sie ist unglaublich fleißig. Ihr
Medizinstudium hat sie mit Auszeichnung bestanden, den Doktortitel noch vor
ihrem Diplom verteidigt – eine Sache, die meine absolute Bewunderung verdient.
Ich hatte es nie so mit dem Lernen. Ich verstand nicht, warum ich mir all den
theoretischen Kram merken sollte, ihn auswendig aufsagen können musste. Für
mich waren meine praktischen Fähigkeiten immer wichtiger.
Sie verliert nie
die Beherrschung, sie hat unglaublichen Geschmack, macht Sport – sie spielt
sogar perfekt Tennis, eine Tatsache um die ich sie wirklich beneide. Ich meine,
ich habe bestimmt auch starke Seiten, aber ich habe auch Schwächen – sie nicht.
Sie lebt in der
Nähe von Leipzig, wir sehen uns nicht oft, aber wenn, dann ist das jedes Mal
sehr intensiv. Jedenfalls beschloss ich sie anzurufen. Aber was sollte ich denn
sagen?
„Gabi, ich bin’s.“
Ich verschwendete
keine Zeit mit den üblichen Floskeln, kam gleich zum Thema.
„Tom geht es nicht
gut.“
Ich erzählte, was
bis dahin passiert war. Sie schwieg, keine Nachfragen, sie ließ mich einfach
reden und aus mir sprudelten alle Ängste und Sorgen.
„Bitte, sag mir
was los ist. Gibt es Hoffnung, die Niere noch zu retten, kann es sein, dass sie ihre Funktion wieder
aufnimmt?“
Ich wollte, dass
sie mich aus dem Alptraum reißt, mir sagt „Alles wird gut. Du träumst nur“
Aber als ich ihr
Schlucken am anderen Ende hörte, wusste ich, dass sie mir keine Hoffnung machen
konnte. Verflucht, warum sind Freunde eigentlich so weit weg, wenn man sie
braucht?
„Es kann alles und
nicht bedeuten“, begann sie. „Es gibt wirklich so unendlich viele
Nierenerkrankungen und aus dem was du mir erzählst hast, kann ich unmöglich
eine Diagnose stellen. Außerdem ist das wirklich nicht mein Fachgebiet. Es ist
schon möglich, dass auf Grund der Dialyse die Niere wieder zum Arbeiten
angeregt wird. Prinzipiell musste er wohl dialysiert werden. Wenn dieser Wert,
das Kreatin, einen kritischen Wert überschreitet, müssen sie das einfach tun.
Ich kann dir jetzt alles Mögliche erzählen, aber das würde dir nicht
weiterhelfen. Warte ab, denk positiv.“ Ich hatte mehr gehofft, aber ich wollte
auch nicht belogen werden. Dann kam mir eine Idee. „Was hältst du davon, wenn
du den Arzt anrufst. Ich werde ihn von seiner Schweigepflicht entbinden und ihm
sagen, dass er dir Auskunft geben soll. Dann kannst du mir alles übersetzen und
mir sagen, was ich machen soll und wie unser Leben weitergeht. Ich verstehe
sein Medizin Deutsch sowie so nicht. Was meinst du?“ Sie war sofort begeistert.
„So können wir das machen. Ich ruf eine Kollegin aus dem Studium an, die sich
auf Nephrologie spezialisiert hat an und verständige mich mit ihr.“ Ich gab ihr
gleich die Nummer der Klinik und den Namen des Arztes. Wie ein Wunder, hatte
ich ihn mir nun urplötzlich gemerkt.
Den Abend
überstand ich mit Hilfe der Flasche Wein. Ich fühlte mich so allein, grübelte
und konnte doch keinen klaren Gedanken fassen.
Die Kopfschmerzen
am nächsten Tag nahm ich in Kauf. Und ich überstand sogar den nächsten Tag. Die
Kinder brachte ich in die Schule und in den Kindergarten, ging arbeiten. Ich
stürzte mich förmlich in die Arbeit, bloß nicht aufsehen, bloß an nichts
denken.
Tom‘s Kollegen
teilten sich in zwei Lager: die einen löcherten mich mit Fragen, was mit Tom
wäre, wie es ihm ginge, die anderen behandelten mich wie eine Leprakranke –
bloß nicht zu nah rangehen. Ich fragte mich, was mich wohl mehr störte. Die
Fragen, die ich beim besten Willen nicht beantworten konnte, oder wollte, oder
das Gefühl, dass mir die anderen gaben, dass irgendwas Schlimmes geschehen sein
musste.
Andererseits
verstand ich es. Ich wäre wohl auch in die „Lepragruppe“ einzuordnen. Ich traue
mich auch nie zu fragen, Gefühle und Emotionen zu wecken, weil ich nie weiß,
wie ich mit Gefühlen anderer umgehen soll.
Ich weiß noch, als
der Vater eines guten Freundes gestorben war, mied ich ihn fast. Ich wollte ihm
seine Ruhe lassen, wusste nicht, wie ich ihm hätte Trost geben sollen.
Vielleicht hätte ich auf ihn zugehen sollen. Und wenn er nicht mit mir hätte
reden wollen, hätte er das schon gesagt. Aber ich war eben nicht in der Lage,
ihm Hilfe anzubieten.
Tom sollte am
nächsten Tag auf eine normale Station verlegt werden, noch überwachten sie
andauernd seine Körperfunktionen. Seine Eltern wollten ihn heute besuchen. Das
war mir auch recht. Und trotzdem bewegte ich mich zu Hause wie ein Löwe im
offenen Käfig – unfähig, mein Gefängnis zu verlassen.
Obwohl ich bei Tom
sein wollte, musste ich mich auch um meine Kinder kümmern. Und eigentlich ist
das kein „Muss“ für mich. Ich liebe es mit ihnen zu spielen. Andererseits
wollte ich lieber mit den Kindern spielen, als mich dem Krankenhausklima
auszusetzen – ich fühlte mich hin und her gerissen.
Als ich sie dann
ins Bett gebracht hatte, war ich froh, diesen Nachmittag überstanden zu haben und
kaum lagen sie, brach die Einsamkeit über mir zusammen und ich hätte sie am liebsten
wieder rausgeholt, um weiter zu spielen.
Auch der Anruf bei
Tom war nicht so, wie ich mir das erhofft hatte. Eine Mauer stand zwischen uns
und anstatt über unsere Gefühle, unsere Ängste und Hoffnungen zu sprechen verloren
wir uns in Belanglosigkeiten.
Weder die Arbeit,
noch die Kinder beschäftigten mich vordergründig. Immer wieder dachte ich an
ihn und wie unser Leben weiter gehen würde.
Tom arbeitete viel
und machte seinen Job gut. Und alles andere erledigte ich. Ich kümmerte mich um
den Haushalt, die Kinder mit ihren großen und kleinen Problemen. Wenn ich der
Meinung war, es müsste renoviert werden, dann tat ich das eben. Warum sollte
ich da auf Tom warten? Im Stillen amüsierte mich immer das Gejammer meiner
Freundinnen, wenn sie unbedingt renovieren wollten und ihre Männer nicht. Ich
tat es eben, wenn es Zeit dazu war. Tom kriegte zwar jedes Mal einen Anfall,
wenn ich nach einer beiläufigen Bemerkung, dass es wiedermal sein müsse,
einfach anfing. Aber trotzdem war er mit dem
Endergebnis jedes Mal zufrieden . Einmal haben wir versucht, ein Zimmer
zusammen zu tapezieren – es endete im totalen Streit und Chaos – von da ließ er
mich machen.
Und so klärte ich
eben alle Probleme selber. Das hatte
sich so ergeben und eingespielt.
Ich hätte ihn
gerne gefragt, wie das mit der Dialyse war und wie sich dieser Halskatheder
anfühlt. Aber ich konnte irgendwie nicht. Und eigentlich hoffte ich, dass er es
von alleine erzählen würde. Aber er tat es nicht und so stand eine
Sprachlosigkeit zwischen uns, die wir beide nicht durchbrechen konnten.
Ich rede nicht
gerne über Dinge, die mir Sorgen machen und Angst. Tom auch nicht. Aber
vielleicht hätten wir es tun müssen, hätten wir beide über unseren Schatten
springen müssen. Und ich weiß, dass es an mir gewesen wäre, den ersten Schritt
zu tun. Ich hatte die sein müssen, die ihm Mut machen sollte.
Warum war ich
nicht in der Lage dazu?
Der nächste Tag
verlief ähnlich und ich hoffte nur, dass die Zeit schneller verging und ich
Antworten bekommen würde.
Die Station, auf
die Tom verlegt worden war, war hell und freundlich, die Einrichtung erinnerte
ehr an ein Hotelzimmer, als an ein Krankenhaus. Jeweils zwei Zimmer mit
insgesamt 4 Betten wurden durch einen gemeinsamen Aufenthaltsraum verbunden.
Die Schwestern waren unglaublich nett, hilfsbereit und freundlich.
In der Station
wurden hauptsächlich Krebspatienten betreut, so dass ich das Klima mitunter als
sehr bedrückend empfand.
Ich hatte nicht
mit Tom gesprochen, ich konnte ihm nicht sagen, dass seine Erkrankung auf eine
Dialysepflichtigkeit hinauslief. Und er hatte mir nicht gesagt, dass er es
bereits wusste. So nahmen wir beide an, dass es der andere noch gar nicht
wusste.
Fürchteten wir auszusprechen
was war? Würde es dann plötzlich nicht mehr rückgängig zu machen sein, oder
hatten wie einfach nur Angst vor der Reaktion des anderen? Glaubte Tom, ich
würde ihn dann nicht mehr lieben, ihn verlassen? Oder glaubte ich, Tom würde an
dieser Tatsache verzweifeln?
Als es endlich so
weit war und die Untersuchungsergebnisse vorlagen, raste ich wieder wie eine
Verrückte in die Klinik. Ich wollte um keinen Preis der Welt, dass das Gespräch
verschoben wurde, weil der Arzt vielleicht schon Dienstschluss hatte. Der Name
war mir schon wieder entfallen. Ich bin ein Chaot und ich hasste mich in dem
Moment dafür.
Aber ich erkannte
ihn sofort wieder. Er wirkte sehr nervös, als er das Zimmer betrat. Mir war das
ja auch schon das letzte Mal aufgefallen. War das einfach seine Art, oder war
es ein schlimmes Vorzeichen? Noch bevor ich diesen Gedanken zu Ende denken
konnte begann er zu reden. „Wir haben heute Morgen die Ergebnisse zunächst per
Fax erhalten.“ – eine kunstvolle Pause, die sich endlos zu erstrecken schien.
„Es ist so, wie wir bereits befürchtet hatten. Beide Nieren sind irreversible
geschädigt.“ Ich spürte, wie die Farbe aus meinem Gesicht wich. ‚Warum?’
hämmerte es wieder durch meinen Kopf und ich drückte Toms Hand so fest, dass er
sie erschrocken zurückzog. „Die Ursachen können so vielseitig sein, dass wir
das erst in weiteren Test herausfinden können. Sie können genetisch bedingt
sein, sie könnten aber auch durch den plötzlich ansteigenden Blutdruck
hervorgerufen worden sein, wobei wir die Ursache des angestiegenen Blutdruckes
in jedem Fall klären müssen“ Es folgte wiedermal ein wissenschaftlicher Vortrag
mit so vielen Fachbegriffen, dass ich kein Wort mehr verstand. Genetisch
bedingt? Bedeutet das etwa, dass auch unsere Kinder so etwas in sich tragen könnten?
„Ich habe das
bereits ihrer Schwester erklärt.“- Damit meinte er wohl die schwarze Gabi, die
sich als Toms Halbschwester ausgegeben hatte.
„Und wie geht es
jetzt weiter?“ fragte Tom mit fester Stimme.
Wo nahm er nur so viel Selbstkontrolle her? -
Ich war den Tränen nah.
„Wir werden sie
regelmäßig dialysieren müssen. Da sie nun keinerlei Harndrang mehr haben, ist
es ein Anzeichen dafür, dass auch die geringe Restfunktion komplett ausgesetzt
hat.“
Ich konnte Tom
nicht ansehen. Es war, als ob dieser Mann ein Todesurteil gesprochen hatte. Und
erst sehr viel später sollte mir bewusst werden, dass es viel mehr als das war.
„Verzweifeln sie
nicht. Auch unter der Dialyse kann man durchaus eine gewisse Lebensqualität
erzielen. Wir sollten jetzt daran gehen, uns um ihre Zukunft zu kümmern. Sie
müssen wesentliche Entscheidungen treffen, die ihr weiteres Leben bestimmen.“
Tom sollte sich in
den nächsten Tagen entscheiden, welche Form der Dialyse er durchführen wollte:
die Hämodialyse, oder die Perentionaldialyse.
Bei der ersten
Form handelt es sich um die allgemein bekannte „Blutwäsche“. Dabei wird
operativ eine Arterie und eine Vene miteinander verbunden - ein so genannter
„Chant“ gelegt, durch den das Blut in eine riesige Maschine gepumpt wird, und
gereinigt wieder zurück in den Körper gelangt. Dazu muss man 3 x wöchentlich
eine Dialysestation aufsuchen, wo man dann für 4 bis 5 Stunden an diese
Maschine angeschlossen wird.
Die zweite
Variante wird vom Patienten zu Hause selbst durchgeführt. Dazu wird in die Bauchdecke
ein Katheder operiert, durch den Glukose in den Bauchraum gepumpt wird. Durch
Filtrationen werden die Giftstoffe in die Flüssigkeit abgegeben und durch eine
Maschine wieder aus dem Körper gepumpt. Obwohl diese Art zeitaufwendig ist,
bleibt der Patient flexibel, kann problemlos arbeiten gehen und kann sich frei
bewegen.
Ich wusste sofort,
dass Tom sich dafür entscheiden würde.
„Prinzipiell
werden sie, wenn sie es wünschen, auf eine Transplantationsliste gesetzt. Mit
Hilfe von Eurotrans wird dann eine passende Niere gefunden werden. Dazu suchen
sie sich eine Transplantationsklinik, die sie auch betreuen wird. Aber ich muss
ihnen gleich einen Teil Hoffnung nehmen. Es dauert – je nach Klinik – 4 bis 5
Jahre. Leider ist die Spendebereitschaft in Deutschland extrem gering, so dass
wir auf Organe anderer Länder angewiesen sind.“
Tom fand als
erster die Worte wieder „Ich möchte die Dialyse zu Hause machen. Ich will
weiterhin arbeiten und das geht nur so.“ Ich hörte die Verzweiflung aus seiner
Stimme.
Plötzlich war er
schwer krank und noch vor 50 Jahren wäre er einfach gestorben – das war mir
plötzlich mehr als bewusst.
„Wir werden dazu
erst einige Tests machen müssen. Entscheiden sie sich nicht gleich, überdenken
sie alles in Ruhe. Abgesehen davon, muss ich sie darauf hinweisen, dass sie
wichtige Vorraussetzungen schaffen müssen. Sie brauchend dazu einen fast
sterilen Raum, mit Wasseranschluss. Ihre Frau wird unter den nächtlichen
Unruhen mit leiden. Und sie sollten auch die ethische Seite nicht außer Acht
lassen. Sie sind beide noch sehr jung. Und Sexualität spielt in ihrem Leben
sicher noch eine wichtige Rolle.
Bedenken sie, sie haben dann einen Katheder im Bauch. Beziehen sie bitte auch
das in ihre Entscheidung ein.“ ‚Wie kann
der Mann in dieser Situation an Sex denken!’, dachte ich empört. Ich fand das
in der gegebenen Situation so unwichtig. Wichtig war in diesem Moment nur, dass
er leben konnte und ich war bereit alles
auf meine Schultern zu laden, was dazu notwendig war. Wie sollte mich ein
Schlauch, der aus seinem Bauch ragte daran hindern, ihn zu lieben? Das war ja
wohl absurd.
Und doch muss man
diesem Arzt danken, dass er so offen Probleme ansprach, an die wir gar nicht
dachten. Wie sollten wir auch? Wir hatten ja keine Ahnung, was auf uns zukam,
weder in dem einen, noch in dem anderen Fall. So war diese Aufklärungsarbeit,
die er vornahm, unglaublich wichtig.
Und wieder
begingen wir den Fehler nicht miteinander zu reden, unsere Ängste und Sorgen
für uns behielten und nicht in der Lage waren, sie mit dem anderen zu teilen.
Na ja, Tom ist
nicht unbedingt der Mensch, der stundenlang über Gefühle sprechen kann. Und
deshalb habe ich mir das auch abgewöhnt. Es verunsichert mich, wenn ich dann so
alleine über Gefühle rede. Also schweige ich auch.
Vielleicht sollte
man ja wirklich nicht alles zerreden.
Es wird sich schon
alles klären – von alleine, so wie immer.
Wir schaffen das –
dachte ich.
Völlig betäubt
verließ ich das Krankenhaus, so viel musste durchdacht werden. Ich wusste, dass
Tom seine Entscheidung bereits gefällt hatte – auch ohne, dass er mit mir
darüber sprach, oder mich nach meiner Meinung fragte. Seine Arbeit war sein
Leben und er würde alles tun, um ihr weiterhin nachgehen zu können.
Den Abend
verbrachte ich wieder mit einer Flasche Wein, den Informationsmaterial, dass
uns der Arzt gegeben hatte und mit Gabi am Telefon.
Sie hatte sich
eine haarsträubende Geschichte einfallen lassen, um an die Informationen zu
kommen, die sie mir nun weitergab. Auch hatte sie wie versprochen mit ihrer Studienkollegin
gesprochen und riet uns in jedem Fall zur Perentionaldialyse. „Weißt du, viele
Kuratorien sehen das eigentlich nicht gerne, wenn die Patienten sich für diesen
Weg entscheiden. Aber es gibt keinen vernünftigen Grund die Perentionaldialyse
abzulehnen. Tom bleibt seine Möglichkeit zu arbeiten erhalten. Was in dem
anderen Fall wirklich äußerst schwierig zu realisieren wäre, selbst wenn er
einen verständnisvollen Chef hat. Aber immerhin leitet er diese Filiale. Und
wenn er an zwei von fünf Tagen ausfallen würde – den 3. Termin könnte man
sicher auf einen Samstag verlegen – ich weiß nicht, ob das funktionieren kann.
Ich glaube es nicht. Und sie sagt aus ihrer Erfahrung wird es nicht gehen. Der
zweite Weg wird auch schwer, aber ihr schafft das schon. Da bin ich mir sicher.“
Irgendwie hatte
sie schon Recht. Sie erklärte mir noch mal genau, wie das eigentlich
funktioniert. Es hörte sich alles sehr leicht an. Wenn sie mir auch die
möglichen Erkrankungen aufzeigte, die sich einstellen könnten. Am wichtigsten
wäre wohl Sauberkeit, weil die Möglichkeit, dass über den Bauchkatheder
Bakterien in den Bauchraum gelangen, extrem groß sind und dies führt zu
Bauchfellentzündungen. Wie schmerzhaft das sein kann, wusste ich nur zu genau.
Im letzten Jahr hatte ich mir eine zugezogen und verbrachte mit unglaublichen
Schmerzen eine Woche im Krankenhaus.
„Dann ist es ganz
wichtig, die Trinkmengen genaustens zu kontrollieren. Damit es nicht zu
Wassereinlagunerungen im Körper kommt. Man merkt das zuerst an geschwollenen Füßen
und Beinen. Darauf müsst ihr ganz sehr achten und jede Veränderung sofort mit
einem Arzt besprechen.“
Die Ratschläge und
Hinweise nahmen kein Ende mehr und ich konnte mir gar nicht alles merken. Aber
sie war jeder Zeit für mich da – das wusste ich.
Meine Gedanken
drehten sich jedoch im Kreis und fanden den Ausgang nicht mehr. Sie hatte
zweifellos Recht und Tom auch. Aber wie sollte ich dieses Wohnproblem lösen.
Vor meinen Augen entstand eine Art
Krankenhauszimmer, mit Rohrbett mit Waschbecken.
Unser Schlafzimmer
war eine ausgebaute Bodenkammer. Das Fenster war nur eine Dachluke. Es war
immer so schön gemütlich und wenn es
regnete, fühlte man sich wie im Zelt. Ich mochte es. Aber ich wusste genau, ich
würde es niemals steril kriegen, geschweige denn einen Wasseranschluss legen
können. Trotzdem hing ich an dem Gedanken. Ich wollte das Zimmer nicht
aufgeben. Man müsste doch eine Rohrleitung legen können und wenn ich ein
dichtes Fenster einbauen würde..
Was blieben denn
sonst für Möglichkeiten?
Gedanklich baute
ich die ganze Wohnung um, verlegte alle Zimmer: Küche ins Wohnzimmer,
Wohnzimmer ins Kinderzimmer, Schlafzimmer in die Küche, Kinderzimmer in den
Partyraum. Und den Partyraum? Es passte gar nichts. Der Aufwand wäre
unermesslich.
Die ganze Woche verbrachte
ich mit diesen Gedanken.
Als ich mit Tom
darüber sprechen wollte, blockte er ab. Befürchtete er, dass ich das alles
nicht wollte? Ich wollte doch, aber ich wusste einfach nicht wie. Also ließ ich
es. Es war an mir, eine Lösung zu finden. Aber wo war sie? Ich sah sie einfach
nicht.
Auch wenn ich den
Eindruck hatte, dass er das Gespräch abgeblockt hatte, machte er sich ja doch
Gedanken darüber. Vielleicht hatte er auch keine Lösung auf Lager und wollte
deshalb nicht mit mir darüber sprechen?
Als ich mitbekam,
dass er mit seinen Eltern darüber sprach, war ich unendlich enttäuscht. Wir
lebten zwar mit im Haus seiner Eltern, aber warum sprach er nicht mit mir? Ich
war doch seine Frau, mit mir lebte er doch!
Durch seinen Vater
erfuhr ich dann, wie ich es machen sollte. Das tat weh! Aber ich ignorierte den
Schmerz, hatte gar keine Zeit, ihn zuzulassen.
Ich musste mich
darum kümmern, dass alles so werden würde, wie er es wollte, wie es sein
musste, um die Perentionaldialyse durchzuführen. Um Ängste und Sorgen konnte
ich mich später kümmern, jetzt war keine Zeit dazu – die Planung und
Durchführung beanspruchte meine gesamte Kraft.
Leider hatte er
damit, dass er zuerst mit seinen Eltern geredet hatte noch was anderes
geschafft, er hatte eine Mauer zwischen mir und ihnen geschaffen.
Sie wollten nur
helfen und unter normalen Bedingungen hätte ich das auch gesehen. Aber in dem
Moment hatte ich das Gefühl, sie wollten ihn mir wegnehmen. Dachten sie
vielleicht, ich könnte nicht genug für ihn sorgen? Ihm nicht all das sein, was
er brauchte? Ich redete mir das ein, mit aller Kraft.
Dass sie einfach
nur besorgte Eltern waren, die ihr Kind über alles lieben, sah ich nicht. Hätte
ich doch nur mit Tom geredet. Vielleicht wäre er in der Lage gewesen, meine
völlig irren Gedankengänge wieder in die richtige Richtung zu lenken! Aber
natürlich schwieg ich darüber. Meine sonst immer so impulsiven Gefühlsausbrüche
schluckte ich runter. Und redete mir ein, alleine damit fertig zu werden.
Als ich ihn einmal
unmittelbar nach einer Dialyse – die über den Halskatheder durchgeführt worden
war besuchte, verstand ich ihn. Ich verstand, warum er das auf gar keinen Fall
wollte. Er war unheimlich schlapp und müde, gerade so, als ob er einen Marathon
gelaufen wäre. Er tat mir so unendlich weh und ich versuchte ihn aufzumuntern,
aber es gelang mir nicht. Er war rein körperlich so am Boden und es hatte den
Anschein, als schäme er sich dafür. Wie sollte ich nur zu ihm durchdringen? Ich
fand keinen Weg. Dann klammerte er sich an mich und ohne zu reden verstand ich
den stummen Hilferuf. Ja, ich würde alles tun, um ihn in Zukunft davor zu bewahren,
ich würde es so umbauen, wie er wollte. Ich schaffe das. Aber warum sprach er
nicht mir? Weil er ein Mann ist und Männer keine Schwäche zeigen dürfen? Am
liebsten hätte ich ihn an den Schultern gepackt, ihn geschüttelt und geschrieen
„Ich bin’s! Red mit mir!“ Aber ich nahm ihn nur in den Arm und sagte nichts.
Er würde seine
Heimdialyse machen können.
Mein Plan war
fertig: Die Küche würde ich in den Partyraum bauen, Wasser und Starkstrom für
den Herd wäre dort kein Problem, weil der Raum direkt über den Keller lag. Der
Raum war zwar in der unteren Etage, in der meine Schwiegereltern wohnen (wir
bewohnen das Obergeschoss), aber das würde schon gehen. In unsere alte Küche
könnte ich dann das Schlafzimmer bauen – Wasseranschluss war da ja schon vorhanden.
Unsere Bar würde in den Keller umziehen müssen. Ob wir da wohl wieder feiern
würden, bezweifelte ich. Eigentlich hatte ich die Möbel gleich verkaufen wollen,
hatte schon jemanden gefunden, der sie nehmen würde. Aber Tom konnte den
Gedanken, sich davon trennen zu müssen, einfach nicht ertragen. Also beschloss
ich, ihn ganz langsam daran zu gewöhnen, dass die Möbel überflüssig geworden
waren. Ob ich dann aber noch mal jemanden finden würde, der sie haben wollte,
war zwar nicht sicher. Aber eigentlich war das ja auch egal.
Ich begann alles
in Kisten zu verstauen, renovierte den Kellerraum. Verlegte den Fußbodenbelag
neu, verschenkte das Besuchersofa, trennte mich von so vielen Dingen, dass ich
nicht mehr wusste, welchen Sachen ich wohl am meisten nachtrauerte. Ich
verstand, dass Tom an seiner Bar gehangen hatte. Mir ging es ja jetzt ähnlich: da waren die
Babyspielzeuge der Kinder, die ich immer aufgehoben hatte, da war die Sammlung
von Postern und Fotos von Popgruppen aus meiner Jugend, da waren Berge von
Stoffen, die ich mal irgendwann vernähen wollte... Säckeweise schleppte ich die
Sachen weg. Da war die Nähmaschine. Was sollte ich damit? Ich verschenkte sie. Ich
hatte ja eine und das würde wohl reichen. Ich hatte die zweite geschenkt
bekommen und sie immer aufgehoben, falls meine mal kaputt ging. Das hört sich
zwar schlimm an, aber ich kann eben alles gebrauchen. Und nun trennte ich mich
von allem.
Es blieb keine
Zeit zum Trauern.
Und immer waren
Helfer da, die die Möbel in andere Zimmer schleppten. Ich brauchte nicht viel
fragen, Freund, Bekannte, Arbeitskollegen von Tom , die wiederrum Freunde mitbrachten… Ich hätte heulen können über soviel
Hilfsbereitschaft. Manchmal lachte ich sogar, wenn wir dann in meiner komplett
zerlegten Küche saßen und gemeinsam was aßen.
Doch immer
tauchten neue Probleme auf. Mein uralter Küchenschrank, den ich mit soviel
Liebe von einer Haushaltsauflösung erbeutet und zurecht gemacht hatte – ich
hatte ihn in einem bezaubernden mintgrün gestrichen, hatte für die Scheiben
Gardinen selbst gehäkelt – passte einfach nicht in den anderen Raum. Der Herd
war kaputt und mein Kühlschrank war uralt. Wir brauchten dringend neue Möbel.
Aber woher sollte ich das Geld für eine neue Küche nehmen? Es würde mich
mindestens 10000 DM kosten. Ich belieh unsere Lebensversicherung.
Doch dann stellte
ich fest, dass es nicht möglich ist, eine Küche binnen vier Wochen zu bekommen.
Überall sprach man von sechs und mehr Wochen. Und die Ausstellungsstücke,
passten einfach nicht. Es war schrecklich. Andererseits fehlte mir die Zeit,
alle Möbelhäuser aufzusuchen. Ich musste ja auch noch für die Kinder da sein,
ging jeden Tag 6 Stunden arbeiten und fuhr täglich ins Krankenhaus, musste
renovieren und war oft zu stolz, Hilfe anzunehmen – abgesehen, von den
Möbelpackern. Ich wusste nicht, wie ich all das schaffen sollte. Mein Tag hatte
auch nur 24 Stunden. Woher nahm ich die 6 Stunden, die mir täglich fehlten? Vielleicht
habe ich mir damals meine Schlafstörungen zugezogen. Wenn ich 5 Stunden täglich
schlief, hatte ich schon den Eindruck, nicht alles zu schaffen. Meine große
Tochter Nele musste schlagartig
erwachsen werden. Trotz ihrer erst 9 Jahre, übertrug ich ihr oft die Aufgabe,
auf ihr 3jährige Schwester aufzupassen,
oder mit ihr zu spielen, oder sie ins
Bett zu bringen. Und die Kleine musste hören. Vielleicht war das falsch, aber es
ging einfach nicht anders.
Tom legte ich
meine Pläne für die neue Küche vor, zeigte ihm Prospekte, aber es schien ihn
gar nicht zu interessieren. Warum war er so teilnahmslos? Ich konnte doch nicht
alles selbst entscheiden. Selbst die Muster für den Korkboden, schleppte ich
ins Krankenhaus.
Tom hatte wieder
keine Lust, dass zu entscheiden. Nur auf mein andauerndes Drängen, wählte er
eine Farbe aus. Ich hätte eine ganz andere gewählt, musste ihm aber im nachhinein
Recht geben. Ein befreundeter Raumausstatter verlegte mir das ganze für nur
1000 DM. Tapezieren konnte ich selber, nur beim Putz bekam ich Hilfe von Toms
Schwager. Ich hatte mich für ein ganz blasses lila entschieden. Doch die
Katastrophe sah ich am nächsten Tag: der
Putz war gelblich angelaufen. Wahrscheinlich schlugen die Spanplatten durch.
Wieder hatte ich einen Tag verloren, den ich mit nochmaligem Anstreichen des
Putzes verbrachte. Doch dann war alles perfekt. Die Küchenbauer konnten
loslegen.
Ich hatte die
Küche mehr zufällig entdeckt, in einem ziemlich kleinen Küchenstudio – es war
Liebe auf den ersten Blick. Man war auch in der Lage, sie innerhalb kürzester
Zeit nach meinen Vorstellungen und den Gegebenheiten des Raumes umzubauen. Dass
noch eine Weile die Mikrowelle fehlen würde, die Dunstabzugshaube, nicht
perfekt war – damit konnte ich leben. Ich stand in meiner neuen Küche und war
begeistert! Gut, mein gesetztes Preislimit hatte ich mit 3000 DM überschritten,
aber dafür sparte ich ja an allem anderen. Die Gardinen würden eben noch eine
Weile warten müssen. Und schließlich sparte ich ja auch Geld, weil ich alles selber
machte oder irgendwelche Leute anschleppte, die mir halfen Den Herd schloss mir
ein Freund an. Da hatten wir wirklich Spaß. Er war gelernter Elektriker, wusste
also was er tat. Unser Sicherungskasten hängt im Keller, unter der Treppe und
da er wirklich groß ist, stand er völlig verkrampft vor diesem Ding. Völlig
erstaunt stellte er fest, dass
verschiedene Leitungen gar keine Erdung hatten, machte seine Witze, dass es ja
kein Wunder sei, dass es in unserem Sicherungskasten schon gebrannt habe – in
einer schwachen Stunde hatte ich ihm mal davon erzählt. Da ich nicht wirklich
der Stromexperte bin, genau genommen den allergrößten Bogen um jede Art von
Arbeit mit Strom mache, verstand ich nicht, wovon er redete. Plötzlich zuckte er zusammen, fiel fast und hörte schlagartig mit seinen Witzen auf. Er
hatte so einen mordsmäßigen Schlag bekommen, dass selbst er – ein Mensch, der
immer seine Späße macht – nicht mehr scherzen konnte. Ich bekam immer mehr
Angst. Ich wollte doch nicht einen Freund, an dieses Werk aus Stromleitungen
verlieren. Ich hüpfte um ihn herum wie das Rumpelstilzchen ums Feuer. Noch
Wochen später zog er mich damit auf, dass ich so eine Angst um ihn gehabt
hätte.
Endlich konnte ich
an den Umbau des Schlafzimmers denken. Ich hatte nur noch 2 Wochen Zeit.
Tom war inzwischen
der Bauchkatheder eingesetzt worden und man hatte begonnen den Bauch ganz
allmählich mit Glukose zu füllen. Er würde von nun an immer 2 Liter Flüssigkeit
im Bauraum haben. Und da sich das am Anfang unmöglich verteilte, erinnerte er
an eine Schwangere im 4. Monat. Wir scherzten darüber. Und Tom konnte zumindest
teilweise wieder lachen.
Der Katheder
funktionierte einwandfrei. Das Kuratorium für Dialyse hatte bereits Kontakt
aufgenommen und alle notwendigen Vorkehrungen getroffen, um eine
Perentionaldialyse durchzuführen. Dazu musste ein Cykler bestellt werden. Das
war die Maschine, mit deren Hilfe man die Dialyse zu Haus durchführen konnte.
Doch die Dialyse
funktionierte auch ohne diese Maschine. Momentan tauschte er im vier Stunden
Takt die Flüssigkeit im Bauch aus: Er ließ sie einfach in einen Auffangbeutel
laufen und befestigte die neue Flüssigkeit entsprechend hoch, so dass sie von
ganz alleine reinfloß. Man experimentierte noch mit den Medikamenten, um ihn
genügend Vitamine zuzuführen, den Blutdruck stabil zu halten. Aber wie würde
sich der Blutdruck verändern, wenn er das Krankenhaus verlassen würde, sich
bewegen würde? Keiner konnte das vorhersagen.
Dann meldete sich
das Kuratorium bei mir zu Hause an um zu prüfen, ob die Möglichkeiten einer
Heimdialyse überhaupt gegeben waren.
Ich musste an den
Besuch der Mütterberatung denken, als Nele geboren war. Da kam eine Beamtin die
prüfte, ob das Kind in ordentlichen Verhältnissen aufwuchs, ob das Kind ein
Bett hätte und ob es auch gebadet werden konnte. Ich fand das damals so
erniedrigend. Ich hätte wohl ehr jemanden gebraucht, der mir Tipps gab, was ich
machen sollte, wenn das Baby schrie und ich keine Ursache dafür fand. Aber man
kontrollierte nur, in welchen sozialen Verhältnissen es aufwuchs.
Und jetzt meldete
sich jemand an, der mich wieder kontrollieren wollte und dieses Gefühl in
meinem Bauch von damals kehrte zurück. Ich musste noch so viel machen: die
Küchenfliesen waren noch an der Wand, einen Teil der Dachschräge musste ich
ausbauen, der Fußboden müsste neu verlegt werden, an tapezieren war noch gar
nicht zu denken. Einen entsprechenden
Waschtisch hatte ich auch noch nicht und woher sollte ich einen Fliesenleger
nehmen, der meine immer enger werdenden Geldmittel nicht auffraß? Aber je mehr
Probleme auftauchten, umso ruhiger wurde ich.
Beim
Dachschrägenausbau half mir ein Nachbar – Toms Freund. Er half mir auch beim
Einbau kleiner Halogenleuchten, die Fliesen bekam ich problemlos von der Wand –
ich hatte mir das viel schlimmer vorgestellt, die neuen Fliesen brachte mir der
Sohn einer Freundin an, das Wasser verlegte Toms Cousin, der auch einen neuen
Heizkörper einbaute, der auf Grund des Platzmangels unbedingt verändert werden
musste.
Würde ich diese
Prüfung bestehen?
Dann kam die
Ärztin mit einer Schwester. Mir war sehr unwohl bei diesem Besuch und doch war
ich stolz darauf, was ich geleistet hatte.
Als sie wieder
gegangen waren, fragte ich mich, warum sie überhaupt dagewesen waren. Sie sahen
kurz in alle Räume, aber an Interesse fehlte es ganz offensichtlich. Meine
Küche, die ich voller Stolz zeigte, machten sie sofort runter. Die Ärztin
erzählte von all ihren automatischen Schränken und wie toll das alles bei ihr
wäre. Hatte ich erwartet, dass sie ein Wort der Anerkennung sagen würden? Hatte
ich nicht gearbeitet ohne Luft zu holen? War ich nicht ein Organisationstalent
– auch in Bezug auf meine Küche – gewesen, auf die ich so stolz war? Ich wurde
immer kleiner und es war ein Wunder, dass sich mich am Schluss überhaupt noch
sehen konnten, so klein wie ich mich fühlte. Wollte ich nicht einfach nur ein
Wort der Annerkennung? Aber ganz offensichtlich war die Ärztin bei den
Vorlesungen über Psychologie nicht im Hörsaal gewesen, oder es war einfach zu
lange her.
Dann lästerten sie
bei einem Kaffee, über einen anderen Patienten, der sich auch für die
Heimdialyse entschieden hatte. Dazu hatte er sich im Keller einen Raum
eingerichtet. Ich verstand das zwar auch nicht, aber ich sagte nichts dazu. Ich
kannte weder den Mann, noch die Umstände, die dazu geführt hatte. Wie sollte
ich mir also ein Urteil darüber bilden können?
Warum hatte ich
eigentlich Angst gehabt, dass sie die Heimdialyse ablehnen würden? Weil noch nicht alles fertig war? Doch all
meine Ängste und meine Aufregung waren umsonst.
Ich empfand nur
Antipathie für die beiden. Und denen sollte Tom sich anvertrauen – ich konnte
mir das einfach nicht vorstellen.
Als ich Tom von
meinen Eindrücken erzählte, meinte er, er habe vom Chefarzt erfahren, dass das
Kuratorium prinzipiell kein Freund der Heimdialyse ist. Verstehen konnte er das
auch nicht. Aber er verteidigte sie trotzdem. Was sollte er auch dagegen sagen?
Sie würde ihn betreuen und so wie die Lage war, wohl für eine sehr lange Zeit.
Bei der Wahl für
die Transplantationsklinik hatten wir uns für die örtlich nächstgelegene
entschieden, oder besser: Tom hatte sich dafür entschieden. Er hatte die Zeit
und die Ruhe, sich damit zu befassen. Ich verstand seine Entscheidung, denn im
Falle einer passenden Niere musste er die Klinik ja schnellstmöglich erreichen
können. Zu diesem Zwecke bekam er sogar einen Pieper, den er ständig bei sich
tragen sollte.
Das gab mir
richtig Hoffnung, vielleicht täuschte sich ja der Arzt und Tom’s Pieper würde
sich schon bald melden, vielleicht hatten ja die anderen Patienten alle eine
andere Blutgruppe und er war der einzige mit 0 positiv? Solche Gedanken konnten
mich wirklich für kurze Zeit extrem aufbauen und ich lebte in diesen
Tagträumen.
Leider war das
Erwachen dann immer umso schlimmer.
Wenn ich zu Tom
ins Krankenhaus fuhr, war es jedes Mal ein schwerer Gang. Ob ich die Kinder
dabei hatte oder nicht, er wirkte immer niedergeschlagen, mutlos. Seine kleine
Tochter Anne durfte er nicht mal auf den Arm nehmen – mehr als 3 Kilo durfte er
fortan nicht heben. Das hing mit der Flüssigkeit im Bauchraumraum zusammen, die
Bauchdecke und die Muskulatur durfte nicht beansprucht werden.
Doch er vertrug
die Dialyse gut. Und das machte ihm wenigstens etwas Mut. Die Ermattung, die er
nach der Hämodialyse erlebt hatte, blieb aus. Auch die Schwestern auf der
Station – die waren einfach Spitze. Am Ende seines Aufenthaltes, fragten sie
mich sogar, ob ich einen Kaffee wollte, wenn ich gerade um die Kaffeezeit da
war.
Einmal traf ich
den Arzt im Fahrstuhl. Ich erkannte ihn nicht gleich, doch er sprach mich an,
wie es mir ginge. Entsetzt sah ich ihn an: „Wie es mir geht? Ich habe Angst und
ich mache mir unendlich viele Sorgen um meinen Mann, Ich habe ihn nie so
erlebt. Ich meine er war noch nie aus Ausbund an Gefühlsausbrüchen, aber so wie
er jetzt ist, so war er auch noch nie. Meinen sie nicht, man sollte mal einen
Psychologen hinzuziehen?“ Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. „Wieso
denn das?“ Er wirkte verständnislos. „Wieso? Haben sie ihn in den letzten fünf
Wochen lachen sehen? Ich nicht. Er ist 32 Jahre alt und darf seine Tochter
nicht mehr auf den Arm nehmen. Er wird nie wieder in ein Schwimmbad gehen
können. Sein Leben wird so eingeschränkt sein, dass ich mir das noch nicht mal
auszumalen bereit bin. Und ich habe wirklich momentan nicht viel Zeit darüber
nachzudenken. Aber er hat sie. Was glauben sie, wie er sich fühlt?“ Entsetzt
sah er mich an. Sicher hatte er die Sache gar nicht so gesehen. Als Nephrologe
war sein Teil der Arbeit getan – er konnte nicht mehr machen. Doch als Chefarzt
und Mensch? Bei meinen nächsten Besuchen erzählte mir Tom immer öfter, dass der
Doktor sehr häufig nach ihm sah, sich Zeit nahm und lange mit ihm sprach. Und
ich hatte den Eindruck, dass ihm das gut tat. Einen Psychologen wurde er nicht
vorgestellt, vielleicht hatte er es abgelehnt, er sprach nicht darüber – und
ich auch nicht. Aber ich war froh, überhaupt den Mut gefunden zu haben, etwas
gesagt zu haben.
Es dauerte auch
nicht lange und die schwarze Gabi und ihr Mann Stefan besuchten uns. Zwar
wussten sie, dass Tom noch nicht zu Hause war, aber sie wollten ihm auch beistehen.
Wir schafften es sogar, dass Tom stundenweise das Krankenhaus verlassen konnte.
So vertrieben wir uns die Zeit in der Stadt und Tom sah mal wieder was anderes,
als seine inzwischen vertraute Umgebung. Wir redeten unglaublich viel. Gabi
wollte ganz genau wissen, wie er sich fühlte und wie es ihm ging. Komisch, sie
hatte keine Scheu all die Fragen zu stellen, die ich nicht stellten konnte. Wie
sein Blutdruck sich verhielt, wie er sich im Dialysezentrum fühlte, wie das mit
seinem Harndrang war, was er überhaupt fühlte und wie er seinen Körper fühlte.
Tom gab zu allem bereitwillig Auskunft und redete, so wie ich ihn lange nicht
mehr hatte reden hören. War ich einfach nicht in der Lage, die richtigen Fragen
zu stellen? Hatte ich Angst ihn zu verletzten, oder nur mich selber? Sicher,
Gabi war Ärztin und er hatte gelernt, mit Ärzten zu reden. Und sie war uns
immer eine gute Freundin. Aber ich war seine Frau?!
Als wir später zu
Hause, alleine waren, erzählte ich ihr davon, wie ich das empfunden hatte.
„Das habe ich
schon zu oft erlebt, wie Sprachlosigkeit zwischen den Ehepartnern entsteht,
wenn so etwas über sie hereinbricht. Aber ich bin mir sicher, dass ihr das
trotzdem schafft.“
Die Arbeit zu
Hause ging gut voran, aber noch war ich lange nicht fertig und Toms Entlassung
stand unmittelbar bevor. Wir hatten beschossen, ihn ins Besucherzimmer seiner
Eltern einzuquartieren, bis ich fertig sein würde.
Dann kam die
Grundausstattung zur Heimdialyse: der Cycler – eine Maschine so groß wie eine
altmodische Schreibmaschine, Verbandsmaterial, Einweghandschuhe, medizinische
Klemmen und Scheren, ein Blutdruckmessgerät, sogar eine Personenwaage,
Cyklerschlauchsysteme und natürlich das Dialysat. Man hatte ihn auf eine
Durchlaufmenge von 12 Litern nachts und zusätzlich zwei Litern am Tag
eingestellt. Das bedeutete für mich pünktlich alle 4 Wochen 350 Liter
Flüssigkeit – abgepackt in Beutel und die in Kartons zu 10 Kilo – vom Laster in
den Keller und täglich vom Keller in die zweite Etage zu schleppen. Tom durfte
ja nichts tragen. Und ich schleppte, all die Wochen, Monate und am Ende Jahre.
Die benötigten Mengen musste ich per Fax bestellen, 1 Woche vor Anlieferung.
Ich weiß nicht warum, aber ich vergaß es manchmal einfach. Es hatte sich
einfach so eingeschliffen, dass ich dafür zuständig war. Und ich vergaß es eben
einfach und wenn ich es vergaß, dann sah Tom mich mit so einem vorwurfsvollen
Blick an – der tat weh, unendlich weh. Ich vergaß es ja nicht mit Absicht, aber
es war so viel, woran ich denken musste und da passierte es eben.
Dann kam das
nächste Problem auf mich zu: Essen. Tom bekam einen äußerst strengen Diätplan,
mit entsprechenden Kochanweisungen. Salzarm – na dachte ich mir ja schon, aber
Kaliumarm – was war das? Alles was ich bis dahin über das schonende Kochen und
den Erhalt von Vitaminen gelernt hatte, konnte ich komplett vergessen.
Kartoffeln sollten, wenn möglich, 24 Stunden vor dem Verzehr in Wasser eingeweicht
werden, das Kochwasser während des Kochens
4- bis 5-mal abschüttet werden, für Gemüse galt das gleiche – und alles
immer schön sprudelnd kochen! Instantprodukte oder Fertiggerichte waren
absolutes Tabu. Joghurt und Bananen nur im Ausnahmefall essen – die Liste nahm
kein Ende mehr. Wenn ich abends im Bett lag und meine Arbeit beendet hatte,
führte ich mir diese Lektüre zu Gemüte. Wie sollte ich da überhaupt noch
kochen? Man hatte mir aber – und dafür war ich echt dankbar – ein paar Rezepte
mitgegeben.
Wenn ich mich
jetzt noch mal informieren müsste, würde ich mich im Internet informieren:
einfach Suchwort Kaliumarm kochen eingeben und man hat seitenweise Erklärungen, Hinweise,
Kochrezepte. Aber ich hatte eben kein Internet, so dass die paar Seiten nach
kurzer Zeit auswendig konnte
So gab es bei uns
eben gefüllte Zucchini. Das Gehackte band ich nicht mit Semmelmehl, sondern mit
Quark – ich lernte nach und nach die gewohnten Handgriffe durch andere zu ersetzten.
Ich kaufte eben Putenfleisch, statt Schwein, kochte mehr als ich gebraten
habe.
Ich telefonierte
mit Doreen. Wie durch Zufall fiel mir ein, dass sie doch Diätkochin gelernt
hatte. Ich kannte sie noch nicht, als die in der Lehre war und sie hatte nie in
ihrem Beruf gearbeitet. Aber vielleicht wusste sie ja noch was.
Wir führten eine
merkwürdige Freundschaft, obwohl uns nur wenige Kilometer voneinander trennen,
hören wir manchmal wochenlang nichts voneinander. So hatte ich auch vergessen,
ihr von Tom zu erzählen.
Und als ich die jetzt anrief und ihr jetzt erzählte,
was passiert war, fing sie ganz bitterlich an zu weinen. Ich hatte mit Bestürzung
oder mit 1000 Fragen gerechnet, aber
diese Reaktion verwunderte mich nicht nur, sie erschreckte mich. Sie konnte
sich gar nicht mehr beruhigen und ich kam nicht dazu, meine Fragen zu stellen.
Sie versprach, bei mir vorbeizukommen. Aber jetzt könne sie nicht reden.
Als sie am
nächsten Tag vorbei kam, stellte sie mir die erwarteten tausend Fragen, vor
allem wie das weiter ginge. Zu meinem eigenen Erstaunen musste ich feststellen,
dass ich einen unglaublich konkreten Plan hatte. Ja, es hörte sich fast an, als
ob alles für mich normal sei und ich irgendwoher neue Kraft geschöpft hätte,
die mich weitermachen und nicht verzweifeln
ließen.
Ich spürte
regelrecht, wie Doreen aufatmete. „Ich hatte schon Angst, dich völlig
verzweifelt vorzufinden. Entschuldige, dass ich so losgeheult habe und mich
nicht beherrschen konnte. Ich musste immer wieder an meine Lehre denken. Ich
war für kurze Zeit auf der Dialysestation eingesetzt. Und was ich dort gesehen
habe, war schlimm, einfach nur schlimm. Die Leute, die da an den Maschinen
hingen, die waren mehr tot als lebendig. Sicher, das ist Jahre her, trotzdem…“
Sie holte tief Luft und ich merkte, dass sie wieder kurz vor einem totalen
Heulkrampf war. „Umso mehr freut es mich eben, dass es nicht mehr so zu sein
scheint. Ich habe Tom schon so gesehen, wie ich die Menschen damals gesehen
habe..“ Ich begann sie auszufragen, wie das mit dem Essen wäre und mit kaliumarm
und ob sie noch ein paar Tipps für mich
auf Lager hätte. Und sie hatte jede
Menge, auch wenn sie erst überlegte, aber ihr fielen immer wieder neue Sachen
ein. Vor allem einfache Dinge fielen ihr
wieder ein, die das Kochen nicht in
Strapazen ausarten lassen, z.B. Soßen anzudicken, in dem man eine Kartoffel mit
kocht. Wir gackerten bis spät in die Nacht. Als sie ging, ging es uns beiden
besser.
Hatte ich wirklich
einen so konkreten Plan von meinem zukünftigen Leben? Würde ich das alles
schaffen? Und das die nächsten Jahre? Ich schob den Gedanken an Jahre weit von
mir. Ich gestattete mir an den nächsten Tag zu denken – auf keinen Fall weiter.
Und strahlte ich wirklich eine solche Souveränität aus, dass ich das alles
schaffe? Dass ich keine Angst habe? Dabei war ich doch manchmal völlig
verzweifelt und heulte mich in den Schlaf. Ich fragte nicht mehr nach dem
„Warum“, ich war eigentlich nur noch verzweifelt.
2.
Doch dann kam
endlich der Tag der Entlassung. Endlich würden meine täglichen Fahrten ins
Krankenhaus wegfallen und ich würde mehr Zeit haben, mich wieder um die
Kinder kümmern können und endlich das
Schlafzimmer fertig kriegen. Und Tom kam endlich heim. Ich hoffte, dann könnten
wir auch wieder „normal“ miteinander umgehen, die Umgebung würde uns nicht mehr
einschüchtern.
Wie ein Fremder
betrat er das Haus, unsere Wohnung, sah sich an, was ich gemacht hatte – kein
Wort kam über seine Lippen. Er war maßlos müde, als ob er die letzten Wochen
nicht geschlafen hätte.
Das wird schon
wieder, tröstete ich mich. Er konzentrierte sich darauf sein „Krankenzimmer“
einzurichten, ließ sich nicht ablenken. Also begann ich, seine Wäsche nach und
nach in die Waschmaschine zu stopfen. Ich wollte diesen Krankenhausgeruch
loswerden, ich wollte alles loswerden, was mich ans Krankenhaus erinnerte, was
mich daran erinnerte, was mit Tom passiert war.
Irgendwie verlief
der Abend traurig. Ich hatte mich so gefreut und nun war so eine bedrückende
Stimmung. Als die Kinder im Bett waren, legte auch er sich hin.
Ich kroch zu ihm.
Ich schlief mit
ihm.
Nicht weil ich es
vor Verlangen nicht mehr ausgehalten hatte. Dazu war auch ich viel zu müde,
nicht nur körperlich. Ich fühlte mein eigenes Ich nicht mehr. Ich tat es für
ihn, wollte ihm das Gefühl weitergeben, dass ich ihn liebe, dass ich ihn
brauche und ich wollte diesen Arzt lügen strafen.
Mich störte sein
Katheder nicht. Und auch in den Jahren die folgen sollten, störte er mich nie.
Es gab die vom Arzt angesprochenen ästhetischen Vorbehalte nicht.
Aber das Klima
blieb angespannt. Er redete nicht darüber, was ihn bedrückte. Und ich kam
einfach nicht drauf. Ja, seine Lage war schlimm. Aber wir waren doch alle für
ihn da, waren um ihn.
Die folgenden
Abende und Nächte verbrachte ich mit der Renovierung des Schlafzimmers. Meine
Nachbarin half mir. Es war wirklich lustig. Der Nachbar von Gegenüber lag in
seinem Wintergarten und beobachtete uns, wie wir versuchten die 4 Meter langen
Deckenbahnen anzukleben. Das muss ein wirklich komischer Anblick gewesen sein,
wie wir zwei Frauen lachend versuchten, die Tapete an die Decke zu kriegen.
Stellenweise hatten wir mehr Kleber in den Haaren hatten, als auf der Tapete
war. Dann kam auch noch mein Schwiegervater und gab uns gute Ratschläge. Wieso
ich keine Tapezierbürste verwendete?!
„Wenn Gott gewollt
hätte, dass ich Tapezierbürsten verwende, hätte er mir Tapezierbürsten wachsen
lassen und keine Hände.“, sagte ich lachend.
Er gab mir dann keine guten Ratschläge mehr. Dafür schien unser Nachbar
von gegenüber sich noch mehr zu amüsieren und wir konnten uns nicht verkneifen,
ihn mit unserem Bier zuzuprosten. Wenn er uns schon so offensichtlich
beobachtete, sollte er wenigstens wissen, dass wir das auch wussten.
Ich strich das
ganze quittegelb. Fanden alle sehr gewagt, aber wenn der Raum schon steril sein
sollte, dann sollten die Wände wenigstens nicht an ein Krankenhaus erinnern.
Dann fuhr ich los,
kaufte Kleiderschränke – bis dahin hatten wir die Einbauschränke im
Kinderzimmer benutzt – schleppte mit meinen Nachbarn die Betten runter, räumte
alles ein – und dann war ich endlich fertig. Es war kaum zu glauben – ich war
fertig. Ich hatte in nur acht Wochen die ganze Wohnung umgebaut, Unmengen Geld
ausgegeben und gearbeitet wie ein Tier. Und obwohl ich so stolz auf mich war,
ich konnte mich nicht darüber freuen. Ich war zwar froh, wieder mit Tom in
einem Zimmer zu schlafen, aber irgendwie stellte sich das erhoffte Glücksgefühl
nicht ein.
Tom richtete sich
ein. Der Spültisch war zwar noch nicht angeschlossen, aber in dem
Besucherzimmer seiner Eltern hatte er
auch keinen Abfluss. Ich wollte endlich wieder mit ihm in einem Bett schlafen
können. Ich wollte endlich mit all der Arbeit fertig werden. Irgendwie war ich
am Ende meiner Kräfte. Und dabei begann nun erst die Zeit, in der ich sie brauchen würde. Da hatte der Arzt
wohl recht und mir wäre lieber gewesen, ich hätte auf ihn gehört und wäre
sparsamer mit ihnen umgegangen. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam.
Der Cycler
funktionierte gut. Auf den ersten Blick war es ein unheimliches Gewirr von Strippen,
an die Tom sich anschloss. Aber eigentlich war es ganz einfach: Es wurden drei
Beutel Flüssigkeit mit dem Schlauchsystem verbunden, das wiederrum mit der
Maschine verbunden war. An einen Schlauch schloss er seinen Bauchkatheder an
und der letzte Schlauch wurde für den Ablauf der Flüssigkeit verwendet. Die
Flüssigkeit wurde auf einer Wärmeplatte, die sich auf dem Cycler befand auf 37
°C erwärmt – das ist zwar logisch, dass er sich keine kalte Flüssigkeit in den
Bauch laufen lässt, aber ich hatte über so was noch gar nicht nachgedacht. Die
ganze Prozedur führte er mit Unmengen an Desinfektionsmitteln,
Einweghandschuhen und Mundschutz durch. Das Fenster war geschlossen und er
schloss auch meistens die Tür zu, damit keine Bakterien in den Raum geschleudert
wurden. War er erst mal angeschlossen, konnte er den Raum nicht mehr verlassen
– für die nächsten sieben Stunden. Gut, da er ja nicht mehr pinkeln konnte, war
dass eigentlich auch kein Problem. Wenn er was brauchte, konnte ich es ihm ja
bringen. Es veranlasste uns aber dazu, einen Fernseher fürs Schlafzimmer zu
kaufen, so konnten wir wenigstens zusammen fernsehen.
Die Maschine
begann dann zu gurgeln und zu pumpen – aber alles in allem ein Geräusch, mit
dem man gut leben und schlafen konnte, wenn man sich erst mal daran gewöhnt hatte.
Am Anfang wachte
ich oft auf, wenn das Pumpen begann und lauschte, ob auch alles klar ging. Dann
wurde es zur Gewohnheit. Die Maschine war zu einem Teil unseres Lebens
geworden.
Toms Eltern und
seine Schwester hatten sich sofort zur Lebendspende bereiterklärt. Auch
Freunde, die die gleiche Blutgruppe wie er hatten, waren dazu bereit. Da ich
wusste, dass ich eine andere Blutgruppe habe als er, schied ich von vornherein
aus – das dachte ich. Ich erfuhr erst sehr viel später, dass die
Blutgruppe nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Außer dem Arzt,
der seine Krankheit diagnostiziert hatte, hatte ich nie mit einem Arzt
gesprochen. Ich traf niemanden, der mir erklärte, wie das alles von statten
geht, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen. Es war einfach niemand da,
der mich aufklärte, welche Möglichkeiten es gab, ohne dass ich fragen musste.
Viele Fragen wusste ich gar nicht und hätte doch so gerne die Antworten auf die
nicht gestellten Fragen gewusst!
Und so ahnte ich eben
auch nicht, dass Blutgruppen eine untergeordnete Rolle spielen.
Später, in der
Transplantationsklinik schnappte ich mal auf, was ich eigentlich für eine wäre,
dass ich nicht dazu bereit gewesen wäre, für meinen Mann zu spenden – das
verletzte mich so sehr. Mir hatte doch nie jemand gesagt, dass dazu eigentlich
ganz andere Parameter von Wichtigkeit sind. Ich fühlte mich wie eine Aussätzige
und am meisten störte mich, dass ich mich nicht mal wehren konnte. Und noch ein
anderer Gedanke plagte mich: Wenn es wirklich ein genetischer Defekt war, der
ihn erkranken lies, wäre ich die einzige, die für die Kinder da sein könnte,
wenn sie diesen Defekte geerbt hatten.
Zwei sehr lange
und enge Freunde von Tom, die spontan bereit dazu waren, gab man nicht mal die
Möglichkeit sich untersuchen zu lassen, ob sie überhaupt in Frage kämen – auch wenn sie es noch so ehrlich meinten
und Tom helfen wollten.
Dank des
Dschungels deutscher Gesetze führte da einfach kein Weg hin.
Es könnte eine
„Abhängigkeitsverhältnis“ aufgebaut werden, oder man könnte sich bereichern.
Ja, was glaubten die eigentlich alle? Wo sollten wir denn das Geld her
haben, eine Niere zu „Kaufen“! Wir
hatten ja nicht mal das Geld für eine neue Küche! Ich fand das so absurd, dass
ich nicht mal was dazu sagen konnte.
Und die, die sich
dazu bereit erklärt hatten, dachten ohne Zweifel nicht mal andeutungsweise an
so was.
Toms Schwester
fiel gleich durch das Raster, weil sie selbst nicht die stabilste Gesundheit
hat.
Auf seine Eltern
kamen nun Unmengen an Untersuchungen zu. Es wurde alles untersucht, von den
Augen, bis zur Knochendichte. Sie ließen alles geduldig über sich ergehen.
Selbst, wenn sie nicht geeignet wären, am Ende würden sie genau wissen, welche Krankheiten in ihnen
schlummerten – es gab aber zur Beruhigung aller, nichts erwähnenswertes. Doch die
Untersuchungen nahmen kein Ende. Zu Anfang hatte ich gehofft, dass alles
innerhalb kürzester Zeit vorbei sein würde, dass sie zum Spenden geeignet sein
würden und in einem halben Jahr alles vorbei wäre. Doch das waren Illusionen.
Anstatt die Bereitschaft so gut wie
möglich zu unterstützen, eine Transplantation so schnell wie möglich in die
Wege zu leiten, gewann ich immer mehr den Eindruck, dass den Spendern alle
Steine der Welt in den Weg gelegt werden sollten. Ich verstand das nicht.
Wollte man den Einschränkungen, die mein Mann hinnehmen musste kein Ende
setzen? Toms Mutter hatte zusammen mit ihrer Tochter eine Reise nach Amerika
geplant, war schon dabei, die Reise zu stornieren, weil ja eine mögliche
Transplantation bevorstand. Aber das Kuratorium war der Meinung, man habe ja
viel Zeit und so schnell ginge das ja auch nicht und sie sollte ganz unbesorgt
fahren. Warum ging es nicht so schnell? Ich wünschte diesen Ärzten, eine Woche
mit dieser Maschine zu leben. Man konnte damit leben – sicher, wir hatten es
auch gelernt. Aber vielleicht würde man sich dann doch mal mehr bemühen.
Oder sahen die
Ärzte ganz andere Problemfälle, so dass unser Fall doch gut aussah und sie
darum unsere Ungeduld nicht verstanden? Oder war das auch einfach nur eine Art
der „Prüfung“ für die Spender? Wollte man so sicher gehen, dass die
Bereitschaft keine spontane unüberlegte Aktion war und dass man auch in Monaten
noch dazu stand?
Ich fand keine
Antworten auf meine Fragen.
Es war Frühjahr
geworden.
Nele besuchte die
dritte Klasse der Grundschule und sollte nun noch mal die Schule wechseln, da
die Grundschule in unserem Ort geschlossen werden sollte. Nachdem die Klasse
bereits innerhalb des Ortes in ein kleineres Schulgebäude umgezogen war, sollte
es hier nun gar keine Schule mehr geben.
Die Eltern
organisierten Proteste, wir zogen sogar vors Landratsamt, um unseren Unmut dort
kund zu tun. Ich war natürlich dabei, da ich es unglaublich fand, wie die
Kinder hin und her geschoben wurden. Aber all unsere Bemühungen, den
entsprechenden Stellen klar zu machen, was sie den Kindern antaten, hatten
keinen Erfolg. Ich verstand ja, dass man sparen musste. Aber mussten sie bei
den Kindern anfangen?
So wurde dieser
Jahrgang in den ersten vier Schuljahren, den wichtigsten Jahren, dreimal
umgeschult und sie hatten drei verschiedene Lehrer.
Ich dachte an
meine eigene Schulzeit. Ich hatte mich immer geborgen gefühlt, hatte meine
Lehrerin und meine Schule geliebt und eine Beziehung dazu aufgebaut. Das würden
diese Kinder nie erleben.
Als Nele`s
Jahrgang die 10. Klasse erreichte – natürlich in verschiedenen Schulen, da sie
nach der vierten Klasse ja wieder auseinander gerissen wurden – stellte sie
eines Tages fest, dass nur 7 von den damals 25 Kindern die 10.Klasse geschafft
hatten. Die anderen 18 waren sitzen geblieben oder zurückgestellt worden, oder
mussten aus irgendeinem anderen Grund eine Klasse wiederholen.
Als mir das
bewusst wurde, dachte ich an die selbstgefälligen Beamten in den Behörden, die
leichtfertig die Schule geschlossen hatten – Schulnetzoptimierung. Sie hatten richtig was erreicht damit. Oder
war der gesamte Jahrgang „dümmer“ als andere Jahrgänge?
Tom war nach wie
vor krankgeschrieben.
Trotzdem ging er
zur Arbeit, stundenweise. Sah die Post durch, wollte sich auf dem laufenden
halten. Er wurde empfangen wie ein Kriegsheld. Alle freuten sich, ihn nach acht
Wochen wieder zu sehen. Und obwohl man ihm den langen Krankenhausaufenthalt
ansah, traute sich keiner so recht zu fragen, was denn mit ihm wäre.
Sie wollten alle
nur, dass er wiederkam. Der Gedanke, einen anderen Chef zu bekommen, bedrückte
alle. Sie waren ein eingeschworenes
Team. Hatten zusammen einen Konkurs hinter sich gebracht und der hatte nur
enger zusammengeschweißt.
Während seiner
Abwesenheit, hatten die anderen seine Arbeit
mit übernommen. Zwar war keiner da, der kontrollierte, aber das war in dieser
Zeit auch nicht nötig. Sie erledigten den Schriftverkehr, Entscheidungen über
Anschaffungen traf Tom vom Krankenhaus auf. Beschwerden bearbeiteten die
anderen so einigermaßen, sicher nicht
so, wie er es gemacht hätte, aber sie waren vom Tisch – nur das zählte in
diesen Momenten. Jeder tat was er konnte und so gut er konnte. Tom konnte
wirklich stolz auf seine Leute sein.
Viel zu spät
bemerkte ich bei einem Blick auf unsere Kontoauszüge, dass da etwas nicht
stimmen konnte. Ich hatte zwar viel Geld ausgegeben, aber es konnte ja nicht
sein, dass ich unseren Dispo derart beansprucht hatte. Ich rechnete nach,
prüfte jede Position, und es dauerte ewig, bis ich dahinter kam.
Toms Gehalt
fehlte. Völlig schockiert rief ich seine
Lohnbuchhalterin an. Sie sitzt in einem der anderen Häuser. Ich kannte
sie und mochte sie, sie ist so gründlich und ordentlich und verlässlich und so
was schätze ich sehr.
Sie klärte mich
auf, dass Tom seit nun mehr als sechs Wochen krank ist und die Zahlung durch
den Arbeitgeber damit eingestellt wird. Die Krankenkasse übernimmt nun die weitern
Zahlungen, bis zu seiner Gesundschreibung.
Völlig erbost rief
ich da an. Was war denn nun wieder los? Ging denn mal irgendwas glatt?
Ich wurde
aufgeklärt, dass ich das zu beantragen habe und dass das nicht von alleine
läuft. Ja, woher sollte ich denn das wissen? Ich war noch nie in so einer Lage,
dass jemand länger als 6 Wochen krank war und bei meinem Mutterschaftsurlaub
war das alles von alleine gegangen.
Irgendwie wusste
ich ja, dass der Arbeitgeber nur sechs Wochen bezahlt, aber was dann kommt,
wusste ich einfach nicht. Wieder ein Punkt, über den mich niemand aufgeklärt
hatte.
Ich hatte
angenommen, dass die Krankenkasse das von alleine merkt, wenn einer ihrer
Versicherten so lange krank ist und dann von sich aus zahlt. Schließlich
wussten die ja auch, was ihre Versicherten verdienten anhand der abgeführten
Beiträge.
Ich stellte also
die erforderlichen Anträge, reichte Lohnbescheinigungen ein und wartete. Ich
wartete ziemlich lange, bis wir endlich Geld bekamen. In der Zwischenzeit
musste ich eben zusehen, wie ich klarkam. Tom wollte ich mit den Problemen
nicht belasten. Er würde sich sicher so verkommen, als ob er seine Familie
nicht mehr ernähren konnte. Er hat da eben total altmodische Vorstellungen: Er
ist der Ernährer. Ich wollte sein Selbstbewusstsein auf gar keinen Fall untergraben.
Er hatte genug mit seiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit zu tun. Immer
wieder stieß er an die Grenzen seiner körperlichen Belastbarkeit und da wollte
ich ihm das eben ersparen. Und es ging
ja auch. Wir kamen über die Runden, auch ohne, dass er sich damit befassen
musste.
Als die
Krankenkasse endlich das erste Geld überwies, musste ich feststellen, dass es
nur 70% seines Einkommens war. Ich war unglaublich sauer. Er hatte die letzten
10 Jahre in die Krankenkasse eingezahlt und nie Leistungen bezogen. Er war einfach
nie krank. Und nun nahmen die Abzüge vor - ich empfand das als echte Frechheit.
Dass sie seinen Krankenhausaufenthalt bezahlt, die Operation und Untersuchungen
bezahlt hatten, dass sie die Maschinen und das Dialysat bezahlt hatten, warf
ich ungerechter Weise nicht mit in die Wagschale.
Und das Problem
war ja auch vom Tisch, als Tom wieder gesund geschrieben wurde. Zwar scheuten
sich die Ärzte davor, ihn wieder arbeiten zu schicken, aber Tom wollte es so.
Er wollte merken, dass er gebraucht wurde.
Sein Chef war äußerst verständnisvoll und drängte ihn
nicht. Ließ Tom so arbeiten wie er konnte, akzeptierte, dass Tom mittags immer
nach Hause fuhr, Zwischendialyse machte. Er aß bei seiner Mutter. Schließlich
war eine regelmäßige, gesunde Ernährung für ihn sehr wichtig. Nur so konnte er
auch seine Leistungsfähigkeit steigern. Und nach und nach normalisierte sich
sein Leben, fand er seinen Arbeitsrhythmus wieder.
Problematisch
blieb sein Blutdruck. Der spielte ständig verrückt. Wir versuchten das zu beobachten.
Es musste sich doch ein Zusammenhang herstellen lassen, zwischen dem was er tat
und dem plötzlichen Ansteigen oder Abfallen. Wir konnten ihn nicht herstellen.
Manchmal saß er nur in seinem Büro, ging ganz normaler Arbeit nach und
plötzlich stieg der Blutdruck sprunghaft an.
Einmal passierte
ihm das mitten in einem Kundengespräch. Er war plötzlich nicht mehr in der Lage
zu sprechen. Völlig panisch und mit letzter Kraft versuchte er dem Kunden klar
zu machen, dass sie das Gespräch auf später vertagen müssten. Er hatte die
Fähigkeit verloren, mehr als einfache Wörter zu sprechen, eine Art motorische
Aphasie hervorgerufen durch das
sprunghafte Ansteigen des Blutdrucks.
Sein Verstand war
völlig klar und er erlebte das mit vollem Bewusstsein mit. Und das war wohl das schlimmste. Er wollte
etwas sagen und war nicht in der Lage, seinen Mund zu öffnen. Seine Kollegen
riefen mich an. Sie scheuten sich davor, einen Arzt zu rufen.
Ich brachte ihn
nach Hause. Er kullerte sich auf dem Bett zusammen und war völlig verzweifelt.
Ich hatte einfach nur Angst, stellte mir vor, wie es wäre, wenn dieser Zustand
anhielt. Wie gern hätte ich ihn in den Arm genommen, ihn und mich getröstet,
aber er ließ mich nicht an sich heran. Ich fühlte seine Einsamkeit, seine
Hoffnungslosigkeit und drang nicht zu ihm durch. Was sollte ich nur tun? Wie
kommt man dagegen an? Hätte ich vielleicht nur hartnäckiger sein sollen? Aber
meine eigene Angst und mein Entsetzen hielten mich zurück. Ich versagte einfach
und hätte doch da sein müssen. Wir hätten beide für uns da sein müssen, uns
gegenseitig auffangen müssen, wenn wir zu fallen schienen.
Wie lange würde
dieser Zustand andauern? Es waren sehr ungewisse und angsterfüllte Stunden. Wir
hatten beide keine Ahnung von dieser Auswirkung des Bluthochdrucks. Aber
nachdem er einige Zeit Ruhe um sich herum hatte und ein schnellwirksames
flüssiges blutdrucksenkendes Mittel eingenommen hatte, fand er auch wieder die
Worte um sich verständlich zu machen.
Er lernte nun sehr
schnell auf die ersten Anzeichen zu reagieren und schnellstmöglich ein
Medikament einzunehmen.
Auch seine Augen
wurden von dem Bluthochdruck in extreme Mitleidenschaft gezogen. Eine
Veränderung am Augenhintergrund führte
zu einer irreversiblen Sehschwäche. Aber da er als Kind schon eine Brille
getragen hatte, gewöhnte er sich schnell wieder daran.
Es kam noch öfters
vor, dass ich ihn von der Arbeit abholte, weil sein Blutdruck plötzlich
hochschnellte und er dann auch nicht mehr fahren konnte.
Aber wir wussten
nun, wie wir damit umzugehen hatten. Solche Angstattacken, wie beim ersten Mal
bekamen wir nicht wieder, auch wenn ich mir jedes Mal wieder Sorgen machte.
Irgendwas konnte doch da nicht stimmen, wenn der Blutdruck verrückt spielte!
3.
Unseren
Jahresurlaub hatten wir bereits im Dezember mit Freunden gebucht, bevor Tom
erkrankt war: wir wollten zusammen mit ihnen in ein Ferienhaus in
Südfrankreich, ganz in der Nähe der spanischen Grenze.
Ich glaubte nicht
mehr an diesen Urlaub. Aber Tom wollte fahren. Wir hatten aber beide keine
Ahnung, wie das gehen sollte, wenngleich uns das Kuratorium zuriet Man eröffnete uns sogar die Möglichkeit, das
Dialysat direkt an unseren Urlaubsort liefern zu lassen. Der Vertrieb des
Materials war Europaweit kein Problem. Aber wir lehnten ab. Tom meinte, das
können wir nicht machen, wenn das was schief geht und es ist ja auch nicht so,
als ob man ein Brot vergessen hätte. Für ihn war das eben lebenswichtig und
bereits einen Tag ohne Dialyse konnte verheerende Folgen haben. Aber er wollte
den Urlaub. Und ich brauchte ihn. Vielleicht wollte er ihn auch, weil ich ihn
so dringend brauchte. Ich weiß es nicht und er sagte nicht dazu. Wir
beschlossen also zu fahren. Das Kuratorium fertigte uns eine Liste der
nächstgelegenen Ärzte und Krankenhäuser an. Vor Antritt der Fahrt bekamen wir eine
weitere Liste mit den verabreichten Medikamente und den aktuellen Blut- und
Dialysewerte. Für den Fall, dass etwas passierte, mussten die Ärzte auch dort
sofort im Bild über seinen Zustand sein.
Doch dann ergab
sich ein weiteres Problem. Ich fuhr ein Beetle Cabrio – es reichte durchaus für
meinen Job und auch wenn ich größere Sachen transportieren wollte, schaffte ich
es immer, mir ein entsprechendes Fahrzeug zu besorgen. Dazu hatte ich ja auch
Kunden, die über Lieferfahrzeuge verfügten.
Tom fuhr eine
Passat Limousine. Aber wie wollten wir zu viert und mit all dem Dialysat mit
der Größe dieses Auto auskommen? Alles
unterbringen?
Mit Heulkrämpfen
und kurz vorm totalen Nervenzusammenbruch schaffte ich es, Tom mit diesem Problem
zu konfrontieren. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie das gehen
sollte. Und unsere Geldmittel würden nicht auch noch ausreichen, ein Auto zu mieten. Würde jetzt doch der urlaub ausfallen
müssen?
Aber Tom hatte die
rettende Idee: er ließ eine Dachbox aufbauen
–und seit dem bin ich von diesem Auto überzeugt. Scherzend meinte Tom,
was ich nicht reinkriegen sollte, und ich brauche, dass kaufen wir eben neu.
Und es war kein Problem, im Gegenteil Wir hatten mehr als genügend Platz.
Mitten in der
Nacht starteten wir. Frank war schon am frühen Abend ins Bett gegangen, da er
ja sieben Stunden an der maschine bleiben musste. Vor uns lagen 2000 km - 20 Stunden
- Fahrt. Wir hatten uns vorgenommen, Zwischenstation einzulegen.
Die Kinder
schliefen natürlich nicht im Auto. Sie waren viel zu aufgeregt: Urlaub,
Abenteuer... Stellenweise fragte ich mich, warum wir mitten in der Nacht
aufbrachen, wenn sie so wie so nicht schliefen. Warum schlafen eigentlich
andere Kinder bei Autofahrten, nur meine nicht? Die ersten Kilometer ging es
auch noch, aber nach und nach wurde es für sie verständlicherweise immer
langweiliger. Sie wollten lieber aufstehen, als immerzu angeschnallt sitzen bleiben zu müssen. Wir
tauschten die Plätze. Mal saß Nele vorne und ich spielte mit Anne, dann saß
Anne vorne und ich rätselte mit Nele, dann saßen wieder beide hinten und ich
vorne und dann stritten sie sich. Ich dachte mir immer wieder neue Spiele aus,
um sie abzulenken. Aber es war trotzdem für uns alle anstrengend.
Als wir in Lyon
ankamen, waren wir alle vier am Boden, die Kinder waren müde, Tom war am Ende
seiner Kräfte und ich war völlig entnervt. Es war das erste mal, dass ich Tom
so erlebte. In all den Jahren hatte ich ihn so körperlich am Ende nie erlebt.
Das machte mir unheimlich Angst – und gab mir andererseits Kraft. Auch wenn ich
dachte, nach all den Staus, dem Verfahren, der Hitze völlig am Boden zu sein,
raffte ich mich auf. Tom packten wir erst mal ins Bett und ich beschäftigte die
Kinder, indem ich mit ihnen durch die Stadt lief, in den Parks Tauben
jagte, und mit ihnen am Ufer der Rhone
saß und Bougette aß. Wir sahen den Schiffen zu . Auch die Kinder
erholten sich recht schnell. Komisch, dass sie das so einfach können. Aber ich
war darüber sehr froh, weil ich mir nicht auch noch um sie Sorgen machen
wollte.
Tom hatte sich
einigermaßen erholt, hatte eine Zwischendialyse gemacht und wir setzten uns
noch ein bisschen in eines der Straßenkaffees. Aber Tom wollte zurück. Bei ihm
ging eben die Erholungsphase nicht so schnell. Ich wäre so gerne noch sitzen
geblieben, ich liebe das Treiben in Frankreich, beobachte die Leute so gerne,
die eine ganz eigene Ruhe ausstrahlen, immer freundlich sind….
Gedankenverloren
sagte ich: „Ach, lass uns noch ein bisschen sitzen, es ist so schön.“ Ich
machte ihn auf die Leute um uns herum aufmerksam. Aber er war einfach zu
fertig, um das zu sehen. „Dann gehen wir eben.“, entschieden unsere Freunde für
mich. „Du siehst doch, dass er total fertig ist!“, zischte mir Sylvia zu. Ja,
ich sah es. Aber ich war gerade dabei mich zu erholen. Für den Rest des Abends
würde ich unser Hotelzimmer nicht verlassen, würde mit den Kindern auf dem
Boden liegen und spielen. Sylvia und Volker würden noch mit einer Flasche Wein
vor dem Hotel sitzen.
Aber vielleicht
haben Freunde nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, einem ab und zu
den Kopf gerade zu rücken und einen
daran zu erinnern, dass man eben auch an den anderen denken muss.
Ich wischte den
Gedanken an mich weg. Ich spiele gerne mit den Kindern, hatte das in den
letzten Wochen so wie so vernachlässigt.
Der nächste Tag
war genauso stressig, bis wir endlich unser Quartier gefunden hatten. Ich lud
aus, schleppte die Koffer rein, das Dialysat. Tom richtete sich wieder ein.
Volker kam mir zu
Hilfe: „Komm, ich trag das bisschen Zeug rein.“ Das kam mir sehr gelegen. Auch
wenn er nichts sagte, sah ich ihm an, wie er unter dem Gewicht zusammenzuckte.
Zugegeben, 20kg sind nicht viel, aber wenn man
das acht mal hintereinander macht und das auch noch treppauf, dann ist
das schon anstrengend.
Da wir in unserem
Quartier keinen Wasseranschluss im Schlafzimmer hatten, hatte sich Tom
Ablaufbeutel mitgenommen. Ohne Zweifel sind die unheimlich teuer, denn das
Kuratorium geizte unheimlich damit. So verwendeten wir sie 2-3-mal und hofften,
dass das nicht zu Problemen führen würde. Frühs schleppte ich dann den riesigen
Ablaufbeutel, der immerhin die Ablaufflüssigkeit der ganzen Nacht und seiner
Trinkmenge enthielten ins Bad.
Der Urlaub verlief
ohne irgendwelche Komplikationen – aber auch ohne den geringsten Urlaubseffekt
für mich. Wenn Tom mich nicht beanspruchte, dann taten es die Kinder. Unsere
Freunde hatten einen Sohn- ein Jahr jünger als unsere große und Einzelkind. Und
genauso benahm er sich auch. Ständig schlichtete ich irgendwelche
Streitigkeiten zwischen den drei Kindern. Es war einfach grausam. Es blieb
nicht die geringste Zeit für mich. Manchmal setzte ich mich hin und schrieb in
mein Tagebuch, nur um meine Ruhe zu haben.
Ich kaufte mir
Inliner. Es waren tolle Teile. In Deutschland waren sie so übermäßig teuer,
dass ich mir das immer verkniffen hatte. Ich probierte sie auch gleich aus, auf
einem Fußweg. Und plötzlich kam ein Hund um die Ecke gebogen – ein deutscher
Schäferhund, der nur französisch bellt ! Ich bekam einen völligen Panikanfall.
Es war auch kein Mensch in der Nähe zu sehen, zu dem der Hund gehören konnte.
Ich fiel, der Hund kam immer näher – dann tauchte der Besitzer auf, der ihn
wieder zurückpfiff. Ich war so wütend. Einmal unternahm ich was alleine, wollte
nur die Ruhe und die Sonne genießen und dann passierte mir so was. Welche
Gefühle diese Begegnung in mir auslösten, wurde mir erst viel später bewusst.
Der schönste
Ausflug, war ein Ausflug nach Barcelona. Es waren nur 200 km und ich bin ganz
begeistert von dieser Stadt. Ja, die wollte ich noch mal sehen, die wollte ich
meinen Kindern zeigen: die Sagrada Familia, das Piccaso Museum, die Kathedralen
und Gassen, in denen die Wäsche von Haus zu Haus aufgehängt wurde, in den die
buntesten Blumen blühten, den Park, in dem Freddy Mercury gesungen hatte, das
Schloss, direkt am Plaza de Cataluna mit seiner Stierarena, die Olympia Anlage.
Ich hatte wieder einen nicht abzuarbeitenden Plan gemacht. Aber es gab ja auch
so viel zu sehen. Ich wäre so gerne in die Sagrada Familia gegangen. Auch bei
meinem ersten Besuch in dieser Stadt hatte ich es nicht geschafft sie zu
besichtigen. Aber ich wollte und mußte
Rücksicht auf die anderen nehmen – die Schlange war unendlich lang. So
veraschiedete ich mich mit einem wehmütigem Blick von diesem gigantischen
Bauwerk. ‚Aber das nächste Mal...‘, nahm ich mir ganz fest vor.
Ich könnte hier
stundenlang in den Parks, auf den Mauern oder am Hafen sitzen – diese Stadt hat
eine unheimliche Wirkung auf mich. Und ich genoss die Atmosphäre. In keiner
anderen Großstadt fühlte mich so geborgen und wohl. Von dem hektischen Treiben,
das ich in anderen Großstädten fühlte, war hier nichts zu spüren. Doch Tom
ermüdete dieser Ausflug sehr. Die Hitze und die fehlende Möglichkeit sich
auszuruhen, zeigten deutliche Folgen. Auch musste er ja nach wie vor seine
Trinkmengen strengstens kontrollieren.
Während ich mir in
diesem Urlaub einige Minuten nur für mich stahl, mußte ich immer wieder an die
Musik denken, die ich früher gehört hatte: Gerhard Schöne, Hermann van Veen...
All die Liedermacher, die mit ihren Liedern die Welt, das Leben erklärten. Und
während ich kleine Spaziergänge unternahm, summte ich immer wieder die
altbekannten Melodien.
Wo waren nur meine
alten Schallplatten? Ich mußte sie unbedingt rauskramen, wo waren die alten
Kassetten?
Die Heimreise war
wesentlich problemloser. Vielleicht waren wir doch alle mehr erholt. Wir fuhren
die Strecke in einem Stück. Klar waren wir fertig, als wir ankamen, aber es war
nicht vergleichbar mit der Hinfahrt.
Und dann fand ich
meine alten Lieder wieder. Das war ein unbeschreibliches Gefühl, es war wie
nach Hause kommen, wieder zu sich selbst finden, oder wie die plötzliche
Erkenntnis, was eigentlich zählt im Leben.
4.
Wir gingen wieder
arbeiten, die Kinder verbrachten ein paar Ferientage bei den Großeltern. Unser
Leben hatte sich wirklich normalisiert.
Ich ging oft mit
ihnen ins Schwimmbad, wir genossen einfach den Sommer. Tom konnte nicht mit,
wollte auch nicht. Ich hatte ihm einen Männerbadeanzug besorgt. Allein das war
ein unglaubliches Unterfangen, weil es so was einfach nicht gibt. Im
Sportgeschäft hatte ich mit der netten Verkäuferin alle möglichen Kataloge
gewälzt, bis wir einen fanden. So konnte er doch zumindest seinen Katheder vor
den neugierigen Blicken der anderen verstecken. Tom fand ihn blöd. Ich konnte
das gar nicht verstehen. Ich finde Männer in solchen Teilen unheimlich sexy.
Aber vielleicht sehen das Männer ja anders. Er verzichtete lieber auf die
Schwimmbadbesuche.
Ich versuchte,
Kontakt mit anderen Dialyseangehörigen zu bekommen. Wie kamen die mit der
Situation klar. Wie meisterten die ihr Leben? Ich fragte im Kuratorium nach
Adressen. Das Wort „Selbsthilfegruppe“ kam einfach nicht über meine Lippen. Das
hörte sich so schlimm an. Ich wollte nur mal mit anderen reden.
Einen
Internetanschluss hatten wir zur damaligen Zeit leider noch nicht. Und wenn,
dann hätte ich nicht gewusst, wie ich damit umgehen soll.
Also blieben mir
nur das Krankenhaus und das Kuratorium. Aber so recht traute ich mich nicht,
mit ihnen über meine Fragen zu reden und so musste ich auf Gespräche mit anderen
und vielleicht auf Hilfe von anderen verzichten.
Ich erzählte Tom
davon. Kam er denn mit der Situation klar? Er verwarf meinen Gedanken. „Nein, ich
will das nicht. Ich will nicht mit anderen die Krankheit durchdiskutieren. Ich
will mich nicht nur damit beschäftigen. Es gibt doch wohl noch andere Dinge in
meinem Leben. Du hast die anderen Patienten nicht gesehen. Ich will da nicht
allzu viele Kontakt. Die sind nur krank.“
Ich verstand schon
seine Einwände.
Andererseits war
es ja so, er konnte seine Fragen anderen stellen. Er hatte das Kuratorium, den
Arzt in der Klinik, Patienten, mit denen er ins Gespräch kam. Ich hatte
niemanden. Selbst die kleinen Dinge, wie eben die Sache mit dem schwimmen
gehen, musste ich ausprobieren, konnte nicht auf Erfahrungen anderer
aufbauen.
Im Kuratorium
wurden nur Menschen behandelt, die wesentlich älter waren als wir. Aber
vielleicht konnte man irgendwas erfahren, was uns das Leben leichter gemacht
hätte.
Wie lange waren
die krank? Vielleicht trifft man ja auch
mal jemanden, der schon transplantiert ist. So jemand müsste doch die vielen
Fragezeichen in meinem Kopf auflösen können.
Es gelang mir
leider nicht. Und so trug ich meine Ängste weiter allein mit mir herum.
Nele sollte im
Oktober 10 Jahr werden. Ich empfand das immer als etwas ganz besonderes: den
10. Geburtstag. Und für all die Entbehrungen der letzten Monate wollte ich sie
auch gerne entschädigen, sie wieder in den Mittelpunkt unseres Leben rücken und
so buchten wir ein Wochenende im Euro Disney Land Paris, mit Hotelübernachtung,
Geburtstagstorte und allem was dazugehört.
Aber wir fuhren
nicht.
Kurz vor Antritt
der Fahrt, ging es Tom zusehends schlechter. Er dachte zunächst, er habe sich
eine Magen Darm Grippe zugezogen, er brach und kam gar nicht mehr vom kloh
runter. Nachts war das besonders schlimm, denn er war am Cycler angeschlossen
und konnte praktisch den Raum nicht verlassen.
Also täuschten wir für das Gerät einen Stromausfall vor, er klemmte sich
ab. Das Gerät nahm seine Funktion wieder auf, nachdem wir den Stecker wieder
eingesteckt hatten. Wir hatten die Maschine ausgetrickst. Tom wurde aber immer
schwächer, bis wir einen Arzt holen mussten. Er wurde sofort ins Krankenhaus
eingewiesen. Wieder auf seine „alte“ Station, die Schwestern konnte sich noch
gut an ihn erinnern und er wurde behandelt wie ein alter Freund. Er hatte sich
eine Bauchfellentzündung zugezogen. Wie war es nur dazu gekommen? Wir hatten
doch alles so gemacht, wie es uns erklärt worden war! Ich hörte irgendwann auf,
darüber nachzugrübeln, es brachte uns einfach nicht weiter, ich nahm es als
gegeben hin. Wieder stellte sich das „Geldproblem“ ein. Der Arbeitgeber zahlte
auf Grund der Ersterkrankung, die zu dieser Erkrankung geführt hatte, nicht.
Dementsprechend war wieder die Krankenkasse in der Pflicht. Ich reichte unsere
Ansprüche ein. Und diesmal ging es schneller, weil ich ja wusste, was
einzureichen war und in welchem Zeitraum.
Aber ich war nur
so unendlich traurig, dass wir nicht mit Nele wegfahren konnten. Sie hatte sich so darauf gefreut. Aber alleine zu
fahren, das traute ich mir einfach nicht, auch Tom gegenüber hätte ich es als
unfair empfunden.
Und dann fing ich
wieder an zu bauen – ein Geschenk musste sie
ja bekommen und es sollte etwas besonderes sein.
Ich baute unser
altes Schlafzimmer um – die Dachkammer. Ich würde ihr daraus ihr erstes eigenes Zimmer bauen, in
das sie sich zurückziehen konnte. Bisher teilte sie sich ein Zimmer mit ihrer
kleine Schwester. Das war nie ein Problem. Aber langsam kam sie eben in ein
Alter, in dem sie sich auch mal zurückziehen wollte. Da es aber eben nur eine
Dachkammer war, die nur aus schrägen Wänden bestand, war es nicht einfach, Möbel
aufzustellen. Aber ich schaffte es: ein gemütliches kleines Zimmer, in der sie
auch ihre Musikanlage aufstellen konnte.
Es war Platz für ihre Poster und ihre kleinen „Schätze“.
Ich glaube, sie
hat sich echt gefreut, weil sie nichts davon mitbekommen hatte. Und die
Geburtstagsparty war echt Spitze: Mit ihren
Freunden feierten wir eine richtiges Märchenfest – und sie war die
Prinzessin –wenigstens diese eine Mal.
Obwohl ich alles
getan hatte, was ich konnte – ich fühlte mich mies, weil sie nicht das bekommen
hatte, worauf sie sich so gefreut hatte. Ob sie das je verstehen würde? Sie
wirkte ja nicht enttäuscht auf mich und trotzdem blieb das schlechte
Gewissen.
Tom besuchte ich
wieder täglich im Krankenhaus, nach 3 Wochen konnte er entlassen werden.
Inzwischen waren
um den Katheder Wucherungen aufgetreten. Die Haut war um den Schlauch, der aus einer Art gummihafter
Hartplastik bestand, angewachsen. Doch durch die ständigen Bewegungen während
der Nacht wurde der Schlauch natürlich auch beansprucht und die weiche, empfindliche
Bauchhaut reagierte darauf. Sie machte einfach diese Bewegung nicht mit. So
entstanden Hautwucherungen um den Schlauch. Wenn die dann aufplatzten, bluteten
sie unheimlich. Tom tupfte dann das ganze mit Desinfektionsmittel ab – ohne
eine Miene zu verziehen. Es brannte sicher höllisch, aber er ertrug das. Als er
das den Ärzten zeigte, entschloss man sich, das ganze einfach wegzuätzen. Ich
weiß nicht, welche Schmerzen er ertragen musste, kann das ja nicht
nachempfinden, aber allein der Gedanke lies mich erschaudern.
Und so kam es
auch, dass ich ihm nicht erzählte, wie ich mich fühlte. Er machte doch viel
schlimmeres durch. Tag für Tag schleppte ich seine Kisten, räumte den Müll weg
– und das waren unendliche Mengen an Müll, die da Nacht für Nacht produziert
wurden, ich schlief kaum. Aber was war das schon im Vergleich zu ihm?
Und es sah ja auch
keiner, kein Mensch war da, der mal gefragt hätte „Wie geht es eigentlich
dir?“. Ich sehnte mich nach jemand, der
mich in den Arm nahm und mich tröstete, mir neue Kraft gab, mir vielleicht auch
sagte „Du schaffst das Du bist so stark“ Aber es war keiner da. Logischerweise
nahmen alle Anteil an Toms Leiden. Was ich tat, war einfach nur
selbstverständlich. Ich konnte ihm sein Leiden nicht nehmen, aber ich konnte
ihm doch wenigstens ersparen, mich bei ihm auszuheulen. Und ich tat es auch
nicht. Ich wollte mich auch nicht jemand anders anzuvertrauen. Das erschien mir
so egoistisch.
Auch mit den
Transplantationsvorbereitungen war kein Ende in Sicht. Zwischen den
verschiedenen Arztterminen lagen manchmal 4 Wochen. Weiß eigentlich
irgendjemand von den Ärzten, was vier Wochen Dialyse heißt, Nacht für Nacht?
Wenn sich irgendein kleines Teilchen im Bauchraum vor den Katheder setzte und
die Maschine nicht abpumpen konnte, hupte sie in einem so schrillen Ton, dass
man an Schlafen gar nicht mehr denken konnte. Tom bewegte dann den Katheder und
es ging weiter. Ich lag dann lauschend im Bett, wartend, wann es wieder hupen
würde. Oder er bekam Hunger. Er konnte ja nicht weg, also weckte er mich und
ich brachte ihm was. Oder er musste wiedermal brechen, was häufig vorkam. Für
ihn war das sicherlich schlimm, aber für mich auch.
Ich verstand
langsam den Mann, von dem die Ärztin erzählt hatte, der sich sein Zimmer im
Keller eingerichtet hatte. Wie sehr musste er seine Frau geliebt haben, um ihr
das alles zu ersparen? Ich stellte mir immer mehr die Frage, ob die Dialyseärztin
eigentlich wusste, wovon sie da gesprochen hatte. Verstand sie eigentlich, wie
sehr ihr Patienten litten und die Angehörigen auch? Warum tat sie nicht alles,
um die Transplantation voranzutreiben?
Inzwischen war
Toms Mutter durch das Raster der Tansplantationsfähigkeit gefallen. Sie litt
seit Jahren unter chronischen Bluthochdruck. Nicht dass das ein Problem für sie
war, aber damit war sie eben nicht in Lage zu spenden. Unsere gesamten
Hoffnungen lagen nun auf Toms Vater, der als letzter übrig geblieben war.
Und was war
eigentlich mit der „Liste“? Erst sehr viel später erfuhr ich, dass jedes Mal,
wenn einer seiner Werte nicht optimal war, er sofort von der „Liste“ gestrichen
wurde und sich wieder und wieder hinten anstellen musste, auch bei jedem
Krankenhausaufenthalt, fiel er automatisch raus.
Sein Arzt im
Krankenhaus hatte sehr viel Interesse an ihm. Er wurde andersherum auch Toms
Kunde und Tom sah ihn dadurch sehr oft, unterhielt sich mit ihm. So hatte Tom
wenigstens jemanden, mit dem er mal über seine Probleme mit der Krankheit reden
konnte, dem er vertraute und der auch Hilfe geben konnte, weil er damit
Erfahrung hatte.
Als er das
Krankenhaus verlies, um eine Stelle in einer Klinik in seiner Heimat
anzutreten, trauerten wir sehr darum. Ich weiß nicht, ob mein Gefühlsausbruch
daran Schuld war, oder ob er einfach nur so betroffen war, dass es einen so
jungen Mann „getroffen“ hatte, aber er mochte Tom. Das war nicht zu übersehen.
Inzwischen war es
wieder Winter geworden. Tom war nun schon seit einem Jahr krank. Wie lange
würde es wohl noch dauern? Immer öfter klagte er über geschwollene Füße. Ich
dachte nicht mehr an Gabis Warnung, ich hatte es einfach vergessen. Aber auch
seine Beine waren merklich angeschwollen. Im Kuratorium riet man ihm, ein
stärkeres Dialysat anzuwenden. Es gibt da
verschieden konzentrierte Lösungen. Je höher konzentriert die Lösung
ist, umso mehr Wasser wird dem Körper entzogen. Aber man muss damit sehr
vorsichtig umgehen. Eine Daueranwendung dieser hochkonzentrierten Lösungen ist
äußerst gefährlich. Denn letztlich ist
es, wie wenn man Erdbeeren einzuckert, damit sie die Kinder lieber
essen: je mehr Zucker man verwendet, je mehr fallen die Erdbeeren zusammen. Und genauso verhielt
es sich auch mit dem Bauchgewebe. Es kann also nicht gut sein, die
hochkonzentrierte Glukoselösung zu lange zu verwenden. Es trat zunächst eine
Linderung ein. Aber die hielt nicht lange an. Ich spürte, dass etwas nicht
stimmte. Tom fühlte sich immer häufiger müde und schlapp. Es war nie so. dass
er es sagte, oder sich beschwerte, aber ich merkte es irgendwie. Seine
Gliedmaßen schwollen wieder mehr an. An einem Samstag – ich wollte
ausschlafen und hatte mich darauf
gefreut – weckte er mich völlig panisch früh um sechs „Katrin, ich krieg keine
Luft mehr.“ Ich war schlagartig wach. Ich setzte ihn aufrecht ins Bett – keine
Ahnung, woher ich die Eingebung hatte. Er röchelte und es hörte sich an, als ob
man ihn unter Wasser getaucht hätte. Obwohl sich Panik in mir breit machen
wollte, dachte ich völlig klar nach. Ich rief das Kuratorium an. Eine äußerst
verschlafene Schwester meldete sich. Ich beschrieb die Symptome. „Na, dann muss
er halt mal herkommen.“, sagte sie schläferisch. Ich rastete völlig aus und
schrie ins Telefon „Spreche ich irgendeine Sprache, die sie nicht verstehen? Er
kriegt keine Luft mehr. Was soll ich machen? Bewegen Sie endlich ihren Hintern
zu einem Arzt und geben sie ihn mir. Es ist mir völlig egal, wieviel Uhr es
ist, und ob er vielleicht schläft. Mein Mann stirbt hier Stückchenweise. Also
bewegen sie sich!“ Da war sie wach. Ich hörte sie rennen und mit dem Arzt
sprechen. Doch der war genauso desinteressiert. Was war das eigentlich für ein
Haufen? Ich war so wütend und konnte das Desinteresse gar nicht fassen, schrie
nur noch ins Telefon „Ich bin in 20 Minuten da. Bis dahin könnten sie
möglicherweise mal wach werden und dann vielleicht mal was tun. Andernfalls
komme ich das nächste Mal mit der Bild Zeitung bei ihnen vorbei.“ Es war mir
völlig egal, was die dachten. Ich fand es eine unglaubliche Frechheit, wie die
meinen Mann behandelten.
Dadurch, dass ich
Tom aufrecht hingesetzt hatte, hatte ich ihm die Möglichkeit gegeben, wieder
atmen zu können. Das Wasser stand bereits in der Lunge. Und auch wenn ich das
nicht gewusst hatte, irgendwie hatte ich doch geistesgegenwärtig gehandelt. Ich
weckte Nele, sagte ihr kurz, was los war und dass sie sich um Anne kümmern
solle, befreite Tom von der Maschine, zog ihn an und packte ihn ins Auto und
raste wie eine verrückte ins Kuratorium. Dort war man in der Zwischenzeit
wirklich wach geworden und kümmerte sich auch ziemlich schnell und zielgerichtet
um ihn. Aber es war bereits zu spät. Man hätte vielleicht mal seine Warnungen,
die er in den Wochen zuvor abgegeben hatte hören müssen. Das Wasser konnte
nicht mehr aus dem Körper gezogen werden. Man wies ihn ins Krankenhaus ein –
wiedermal. Dort wurde ihm sofort ein Halskatheder gelegt und er wurde einer
Hämodialyse unterzogen. Zwar war er danach völlig erschöpft, schlief ewig, aber
das Wasser hatte man so aus dem Körper gezogen.
Später erzählte er
mir, dass allein das Anbringen des Katheders so schmerzhaft gewesen war, dass
er dachte, sterben zu müssen. Der Arzt hatte entschuldigend festgestellt, dass
er wohl Elefantenhaut hätte, er bekäme die Nadel einfach nicht durch die Haut
seines Halses.
Wieder drei Wochen
Krankenhaus, wieder war ich allein. Meist ging ich mit den Kindern ins Bett,
sie schliefen bei mir im Schlafzimmer. Aber ich konnte nicht schlafen.
Plötzlich störte mich die Ruhe.
Das Erlebnis mit
diesem Kuratorium veranlasste uns, einen neuen Betreuungspartner zu suchen. Es
musste doch noch andere Dialyseärzte geben. Lange diskutierten wir darüber.
Doch nachdem sie Tom nach diesem Erlebnis auch noch die Hämodialyse ans Herz
legten, gab es nichts mehr zu überlegen. Noch war es sein Leben und so lange er
die Wahl hatte, würde er auch wählen...
Ich freute mich
insgeheim. Mit waren die von Anfang an unsympathisch und ich hatte nur Tom zu
liebe nichts gesagt. Die Ärzte und Schwestern des Kuratoriums waren völlig geschockt.
Offensichtlich hatten sie noch nicht erlebt, dass es ein Patient ablehnt, von
ihnen behandelt zu werden.
Dementsprechend
war auch die Reaktion. Toms neue Ärztin bekam zunächst weder
Untersuchungsergebnisse, noch die Unterlagen zur Transplantationsvorbereitung.
Als nächstes standen sie urplötzlich vor unserer Tür und holten die Dialyseausrüstung
ab. Da diese von dem Kuratorium gestellt worden war, sah man keine Veranlassung
sie auch nur einen Tag länger bei uns zu lassen.
Und obwohl sie
wussten, dass der neue Cycler noch nicht da war, holte man die Sachen einfach
ab.
Ich konnte es
gar nicht fassen – das waren Ärzte!!
Immer
wieder musste
ich an Gabis Erzählung denken, als sie
den Eid des Hypokrates abgelegt hatte. Wo war der Sinn dieses Eides abgeblieben?
Man konnte den
Eindruck gewinnen, dass die nicht interessierte, was mit dem Patienten war.
Ging es hier einfach nur um Geld? Diese vage Vermutung schlich sich in meine Gedanken.
Ich schob diesen Gedanken gleich wieder soweit weg, wie ich nur konnte. Die
Bilder der Patienten drängten sich mir auf, die ich im Krankenhaus an den Maschinen
gesehen hatte. Nein, so konnte keiner denken!
Ja, es ging in den
Stationen auch richtig lustig zu. Sie veralberten sich gegenseitig, die
Schwestern versuchten immer wieder die Patienten aufzumuntern. Aber auf der
anderen Seite sah ich eben auch Menschen, die völlig apathisch in ihren Betten
lagen und auf nichts reagierten. Hatte dieses Kuratorium nur eine
„Einkommensquelle“ verloren?
Doch der fehlende
Cycler schockte uns nicht. Tom dialysierte sich alle 4 Stunden, so wie er es
bereits im Krankenhaus getan hatte, bis der neue Cycler eintraf. Aber diese
Reaktion bestärkte uns in unserer Entscheidung.
Vielleicht würde
sich jetzt auch langsam was in Richtung Transplantation passieren. Darauf
ruhten meine gesamten Hoffnungen.
Körperlich wurde
meinem Schwiegervater beste Gesundheit bescheinigt, abgesehen von ein paar
unerheblichen Erkrankungen.
In der
Transplantationsklinik fühlte ich mich auch nicht wirklich wohl. Die
Sprechstunde war in einem uralten Gebäude untergebracht, es war nicht gerade
Vertrauen einflössend, es erinnerte mich mehr so an Filme über medizinische
Entdecker, wie Semmel oder Robert Koch. Der Gedanke, dass man hier
transplantieren würde, erschien mir nicht sehr Erfolg versprechend, ehr wie ein
Experiment.
Das
Transplantationsteam setzte sich aus verschiedenen Medizinern zusammen: der
Nephrologin, die dem Team vorstand und die Entscheidung zu treffen hatte, wann
und ob zu transplantieren war. Sie war vielleicht zehn Jahre älter als wir.
Eine Frau, die zumindest mich einschüchterte. Die blonden Haare waren streng
zurück gekämmt, ihr fester Schritt und Händedruck schienen davon zu zeugen,
dass sie wusste, wer sie war, was sie wollte und dass es an ihrer Entscheidung
nichts zu rütteln gab. Mich schüchtert so ein Auftreten immer ein. Was muss man
tun, um ein derartiges Selbstbewusstsein zu entwickeln? Es machte diese Frau so
unnahbar. Sie nahm ohne Zweifel eine Position ein, die sie sich hart erarbeitet
hatte und auch wenn ich die Hierarchie in dieser Uniklinik nicht durchschaute
und nicht durchschauen wollte, schien sie eine hochgeachtete Ärztin zu sein.
Aber ungeachtet ihrer Verdienste war die doch auch ein Mensch, Patienten sollte
sich doch wohl fühlen. Vor allem solche Patienten wie wir, die verunsichert,
unwissend ihr gegenübertreten und Antworten wollen. Ich traute mich in ihrer
Nähe kaum zu atmen, so schüchterte mich ihr Auftreten ein.
Dann war da ein
Urologe, der den eigentlichen Eingriff vornehmen würde. Der Mann schien die
Ruhe selbst zu sein. Seinen Kittel hatte er immer offen, hielt sich im
Hintergrund und sagte nicht viel. Er lächelte uns aber immer entgegen und sein
Lächeln schien zu sagen: „Alles wird gut. Ihr schafft das.“
Außerdem gehörte
dem Team noch eine Ärztin, die alles organisierte, Termine vereinbarte und die
Patienten kontaktierte, zwei Assistenzärzten und manchmal Studenten.
Die 150km
Anfahrstrecke waren nie ein Problem. Aber
nachdem wir endlich dort waren, ließ man uns stundenlang sitzen. Klar,
das waren alles richtig gute Mediziner, vielbeschäftigte Menschen. Und wir? Wer
waren wir? Wir hatten doch einen Termin vereinbart. Warum konnte man diesen
Termin nicht einhalten? Wir taten es doch auch. Ich hätte kein Problem damit
gehabt, wenn das einmal vorgekommen wäre. Aber es war immer so. Mir vermittelte
das immer das Gefühl, dass unsere Belange unbedeutend waren, dass wir so eine
Art lästige Pflicht seien.
Das war wohl einer
der Gründe, warum ich mich dort eben nicht wohl fühlte.
Wenn sie dann
endlich auftauchten, hatte ich immer mal den Eindruck, dass sie nicht einen
Blick in die Akten geworfen hatten. Sie bemängelten, dass irgendwelche
Unterlagen fehlen würden und man sich doch wohl so kein Bild machen konnte.
Wir hockten also
zu siebt in einem winzigen Zimmer und ich hatte den Eindruck, dass es völlig
sinnlos war, überhaupt hierher gekommen zu sein.
Sie stellten Tom
ein paar Fragen. Dass er darauf tatsächlich antwortete, schien die Ärztin zu
beunruhigen. Waren das nur rhetorische Fragen? Und hatte sie gar keine Antwort
erwartet?
Das war für mich
einfach ein vergeudeter Tag. Es wurden keine Entscheidungen getroffen, es
wurden keine Untersuchungen gemacht, es wurden keine Empfehlungen gegeben.
Warum mussten wir da überhaupt hin? Ein kurzer Anruf hätte doch genügt. Die
Hauptarbeit schienen doch so wie so die Dialyseärzte zu machen.
Anders wurde es,
nachdem Toms Vater - 1 ½ Jahre nachdem er sich zur Spende
bereiterklärt hatte – die körperliche Spendetauglichkeit bescheinigt worden
war.
Es wurden
psychologische Tests angeordnet
Das war für mich
das i-Tüpfelchen des Schwachsinns. Nachdem mein Mann am Boden zerstört gewesen
war, die Krankheit seine Psyche angeknabbert hatte, er immer wieder Rückschläge
ertragen musste, hatte kein Arzt es für notwendig gehalten, ihn zu betreuen.
Und jetzt schien es das wichtigste auf der Welt zu sein – unfassbar!
Natürlich wurde
der Termin erst 6 Wochen später vergeben. Warum sollte man auch Eile in der
Sache machen? Es ging ja „nur“ um einen Kranken. Unsere Geduld wurde wieder auf
die Probe gestellt.
5.
Doch auch dieser
Termin konnte nicht wahrgenommen werden. Tom wurde wieder krank.
Immer öfter hatte
er extreme Magenprobleme.
Die
Kochanweisungen, die ich bei Beginn der Erkrankung erhalten hatte, konnte ich
immer mehr unberücksichtigt lassen. Toms Werte wurden ja regelmäßig überprüft.
Und je nach dem wie sie ausfielen, änderte ich die Ernährung, ließ Joghurt weg,
wenn der Kalziumwert zu hoch war, spülte Gemüse und Kartoffeln, wenn der
Kaliumwert zu hoch war, es gab keinen Spinat, wenn zu viel Eisen im Blut war,
keine Cola, wenn der Phosphor Wert zu hoch war
– ich entwickelte mich zum Ernährungsexperten, hatte mir Bücher mit genauen
Tabellen über die Werte der Lebensmittel gekauft.
Trotzdem ging es
ihm immer schlechter. Er vertrug keinen kalten Joghurt mehr, brach immer öfter
und hatte ständig Bauchschmerzen. Unsere Nächte waren dementsprechend
„erholsam“. Wenn ich dann früh um sechs aufstand, war ich manchmal echt
erleichtert, dass die Nacht rum war. Ich versuchte, seine Kost zu ändern, mehr
Vitamine, um Widerstandskräfte aufzubauen. Aber eigentlich ein völlig sinnloses
Unterfangen, denn mit jeder Dialyse spülte er nicht nur die Giftstoffe aus
seinen Körper, sondern auch die lebenswichtigen Nährstoffe, Aminosäuren und
Vitamine. Es war ein Kampf, den man nur verlieren kann. Aber er wollte zu keinem
Arzt, er wollte nicht schon wieder ins Krankenhaus. Doch eines Tages ging es
nicht mehr, er konnte nicht mal sein Bett verlassen.
Ich versorgte ihn
an der Maschine.
Mit dem Wechsel des Kuratoriums bekamen wir auch
keine Einweg Handschuhe mehr. Also musste ich mir das Desinfektionsmittel auf
meine Hände sprühen. Nun habe ich aber ein endogenes Exemen, das in folge des
ständigen Putzens, Wischens, und allgemeinen Sauberhaltens immer wieder aufbrach.
Die Schmerzen, die ich fühlte, als das Desinfektionsmittel auf die offenen
Stellen an meinen Händen auftraf, sind kaum zu beschrieben. Aber ich biss mir
auf die Lippen, sagte nichts. Tom tat es ja auch nicht.
Ich rief den
Hausarzt an, der der ihn damals ins Krankenhaus eingewiesen hatte, der die Krankheit
damals diagnostiziert hatte, ohne seinen verdacht zu äußern. Er ließ alles
stehen und liegen und kam sofort. Der ältere Herr hatte aus einem nicht
erklärbaren Grund Interesse an Tom, nahm Anteil an seinem Schicksal und hatte
sich in den vergangenen Monaten immer wieder nach seinem Befinden
erkundigt. Vielleicht ist er auch immer
so, ich weiß es nicht. Jedenfalls war er einer der wenigen Ärzte, die sich
offensichtlich ihren Beruf noch als Berufung betrachteten.
Aber Tom musste
sofort ins Krankenhaus eingewiesen werden, sein Blutdruck war so abgesunken,
dass er zu keinerlei Bewegung mehr in der Lage war. Er hatte sich häufiger und
intensiver dialysiert, als es abgesprochen war. So hatte er gehofft, dass es
ihn bald besser gehen würde. Aber das Gegenteil war eingetreten: sein Wasser-
und Nährstoffhaushalt war völlig am Boden.
Tom ist so ein
Mensch, der sich in jeder Lebenslage zusammenreisen kann und niemanden spüren
lässt, wie er sich wirklich fühlt. Und wenn der Arzt ihm nicht zuvorgekommen
wäre, hätte er sicher noch seine Tasche gepackt und wäre wohlmöglich noch
selber ins Krankenhaus gefahren. Aber der Arzt orderte sofort einen
Krankenwagen und ließ nicht zu, dass Tom sich überhaupt bewegte. Bei diesem
Blutdruck befürchtete er einen völligen Kreislaufzusammenbruch. Man trug ihn
sogar in den Krankenwagen.
Wiedermal
Krankenhaus, wieder 3 Wochen. Das herausfließende Dialysat war völlig trüb –
ein Anzeichen für vorhandene Bakterien im Körper. Er hatte unglaubliche
Schmerzen und man pumpte ihn mit Schmerzmitteln voll. Er sprach kaum noch mit
mir und für mich war jeder Gang ins Krankenhaus eine Qual. Ich wollte ihm doch
so gerne helfen, aber er ließ mich einfach nicht an sich ran, er sagte mir
nichts von seinen Schmerzen, von seinen Ängsten.
Als ich mal zwei
Tage hintereinander nicht fahren konnte, weil bei den Kindern
Elternversammlungen angesetzt waren, schrieb ich ihm. Es war ein richtiger
Liebesbrief, ich erzählte von meinen Ängsten, meinen Sorgen und wie sehr ich
ihn doch lieben würde und so gern etwas tun würde, damit er sich besser fühle.
Ich wollte ihm Mut geben, wollte ihm sagen, dass ich für ihn da war, aber er
reagierte nicht darauf. Er war gefangen in seiner Krankheitswelt und ließ mich
nicht zu ihm. Entweder ertrug ich es, oder nicht. Ich weiß nicht, ob es zu
dieser Zeit eine Rolle für ihn spielte. Ich glaube, er hatte mit allem
angeschlossen. Und das tat mehr weh, als die Nächte, die ich nicht schlafen
konnte: sein Desinteresse an mir, an den Kindern, an unserem Leben.
Entweder erriet
ich was mit ihm war, oder ich wusste es eben nicht. Warum sollte er sich die
Mühe machen, mir von seinen Ängsten zu erzählen? Eine seiner Ängste war, dass
man ihm die Möglichkeit der Perentionaldialyse nahm. Aber das wollte keiner.
Jeder betrachtete ihn als erwachsenen Menschen, der das alleine entschieden
müsse. Man gab zwar zu bedenken, dass er
immer wieder mit diesen Entzündungen und Schmerzen rechnen müsse und gleich die
ersten Anzeichen angeben solle, damit man ihm gleich helfen könne. Aber keiner
hätte ihn dazu gedrängt, seine Entscheidung zu überdenken.
Doch vorerst lag
er stumm und regungslos in seinem Bett.
Ich verstand nicht, was mit ihm war. Als sein Freund mit seiner Frau zu ihm
fuhr, waren sie völlig schockiert. Auch mit ihnen hatte er kaum gesprochen,
sein Bett nicht verlassen und nur an die Wand gestarrt.
Erst viele Monate
später erzählte er mir, dass man ihn mit einem so starken Betäubungsmittel
ruhig gestellt hatte, dass er schon bunte Muster sah, so Muster, wie wir sie
als Kinder immer im Kaleidoskop gesehen hatten. Er sagte, es wäre ein
angenehmer Zustand gewesen. Diese Aussage schockierte mich noch ihm nachhinein.
Wie allein musste er sich gefühlt haben! Was machte ich nur falsch, dass er
sich mir nicht anvertraute?
Wieder zu Hause
begannen die Routineuntersuchungen von neuem. HNO-Arzt, Knochendichtemessung,
Zahnarzt – alle Fachrichtungen musste er aufsuchen. Und das jährlich.
Der Termin beim
Psychologen musste wegen des nahenden Sommers verschoben werden. Es wurde ein
neuer Termin für Ende August vereinbart.
6.
Wieder
planten wir einen Urlaub. Bloß nicht in der Sonne, das bekam Tom eindeutig
nicht, auch wenn ich ein wahrer Sonnenanbeter bin.
Wir wollten
nach Österreich, wandern.
Unsere
Freunde lachten alle, weil jeder wusste, dass ich der Bewegungsmuffel
schlecht hin bin – und dann will ich wandern!
Tom war im
Frühjahr zu einer Produktpräsentation im Leutaschtal gewesen und war begeistert
von der Landschaft.
Als die
Einladung zu diesem Ereignis kam, waren wir zunächst nicht sicher, ob Tom überhaupt
mitfahren könnte. Wie sollten wir das Problem mit der Dialyse lösen? Er konnte
doch unmöglich den Cycler nur wegen 2 Tagen mitnehmen. Aber Tom entschloss sich
trotzdem zu fahren und wollte manuelle Dialyse machen. Ich hatte Bedenken, und
eigentlich auch Angst: er darf ja kein Gewichte tragen, würde er auch genügend
Zeit für die Dialysen habe, um nicht unterdialysiert zu sein, würden die
Anstrengungen nicht zu viel für ihn sein? Zu meiner Erleichterung fuhr der
Filialleiter eines der anderen Geschäfte mit, den ich gern mochte. Ich redete
mit ihm, sprach von meinen Bedenken, aber er versprach, auf Tom aufzupassen,
ihm beim Tragen zu helfen. „Mach dir keine Sorgen, ich bringe ihn dir gut
erholt wieder. Du wirst meinen, er käme aus dem Urlaub.“ Das gab mir ein gutes Gefühl. Ich weiß, dass
Tom nie was sagen würde, nie um Hilfe bitten würde und darum hatte ich eben
Angst. Die Anreise erfolgte mit dem Flugzeug.
Die Szenerie
am Flughafen war wohl einmalig. Obwohl es doch so unendlich viele
Dialysepatienten gibt, hatte man auf
diesem Flughafen so etwas noch nie erlebt.
Als er durch
den Metalldetektor ging, hupte es natürlich, weil an seinem Katheder ja auch
Metall ist. Seine Tasche fürs Handgepäck löste das blanke Entsetzen bei den
Beamten aus. Tom wurde sofort in eine separate Kabine mitgenommen.
Er zeigte den
Beamten den Katheder. Mit seinem Schwerbeschädigtenausweis konnte der sich
zunächst noch ausweisen, aber die Sache mit dem Handgepäck wurde genauer untersucht.
Aus Angst, dass etwas mit dem Dialysat passieren konnte, hatte er es ins
Handgepäck mitgenommen, ebenso Verbandsmaterial, die Wärmeplatte und die
Klemmen und Schere. Die Beamten waren fassungslos. Wie sollten sie das denn
akzeptieren können? Sie untersuchten die Wärmeplatte. Ich weiß nicht, ob sie
dahinter Sprengstoff vermuteten oder Rauschgift, jedenfalls wurde das Ding
gründlichst begutachtet und nach geraumer Weile und nach mehreren Telefonaten
als ungefährlich eingestuft. Und da sie ja normalerweise schon ein Problem mit
Nagelfeilen haben, wie sollten sie da die Schere akzeptieren können? Tom
erklärte und erklärte und nach und nach
erkannte sie dann doch, dass er eigentlich nur krank war und diese
Sachen im Notfall jederzeit benutzen können muss.
Während Tom
geduldig erklärte, empfand sein Kollege
das ganze als erniedrigend. War Tom nicht genug gestraft mit seiner
Krankheit, musste er sich dann auch den
Blicken und Fragen der Leute hier stellen? Er konnte es nicht fassen. Und
sicherlich war bei den Beamten auch Stück Neugier dabei. Sie hatten das
offensichtlich noch nie gesehen. Aber man ließ ihn ins Flugzeug mit all seinen
Sachen einsteigen.
Tom
verkraftete die beiden Tage relativ gut. Und er genoss es auch, mal wieder was
anderes zu sehen. Nachts waren sie noch in einem Casino und er erzählte mir
voller Begeisterung davon. Klar, als sie
wiederkamen, war er nicht unbedingt erholt, hatte wenig geschlafen und sein
Rhythmus war ein wenig durcheinander, aber es hatte ihm sichtlich gut getan.
Und da er
eben so begeistert von dieser Landschaft in Österreich war, wollte er diesen
Wanderurlaub.
Mir war alles
recht, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass mir das auch nur
andeutungsweise Spaß machen würde. Und Tom, wie sollte er mit seiner Krankheit
den körperlichen Strapazen, die ein Wanderurlaub mit sich brachte, klarkommen?
Wieder
bekamen wir eine Liste mit den Kliniken und Ärzten in Österreich und dem
angrenzenden Deutschland, wieder eine Liste mit den aktuellen Blut und
Dialysatwerten und wieder eine lange Autofahrt.
Trotz meiner
Bedenken war es ein phantastischer Urlaub. . Wir wanderten von Alm zu Alm,
waren den ganzen Tag unterwegs.
Nur einmal
überschätzten wir uns. Wir hatten das Hinweisschild „Nur für geübte
Bergwanderer und Schwindelfreie geeignet“ übersehen und stellten irgendwann
fest, dass der Aufstieg fast nicht möglich war. Wir waren wieder mit Sylvia und
Volker unterwegs und an dem Tag hatten uns Freunde von ihnen besucht. Wir waren
also sechs Erwachsene, 3 Kinder und ein Hund, die sich an den Drahtseilen an
der Bergwand entlang nach oben hangelten. Da ich selbst stellenweise unter
Höhenangst leide, hatte ich extrem viel mit mir zu tun und musste aber auch auf
Anne achten und sie festhalten. Tom war plötzlich so schlecht, dass er gar
nicht weiterkam. Ich war so froh, dass Volker sich um ihn kümmerte, da ich
sonst nicht gewusst hätte, wie wir das hätten schaffen sollen. Die Kreuze, die
an dem Weg standen und von den Abstürzen anderer zeugten, wirkten nicht gerade
aufmunternd auf mich. ‚Ich muss völlig wahnsinnig gewesen sein, als ich mich
auf dieses Abenteuer eingelassen hatte‘, schoss es mir durch den Kopf. Aber
komischerweise machte sich keinerlei Panik in mir breit. Ich wusste, dass ich
das schaffe. Zwar machte sich dieses Gefühl im Bauch breit, wenn ich nach unten
sah, so als ob ich schon schwebte, aber ich war die Ruhe selbst. Um die beiden
großen machte ich mir keine Sorgen. Ich wusste, dass alles in Ordnung war.
Ich fühlte
diese Ruhe in mir – das war fast unheimlich.
Als wir
endlich die Hütte erreicht hatten, fanden wir auch die Großen wieder. Sie waren
mit Andreas und dem Hund vorneweg geeilt und empfanden es als ein tolles
Abenteuer.
Unser
höchster Berg war 2600 m, eine fantastische Alm. Hier gab es weder Strom, noch
fließend Wasser, dafür deftiges Essen und selbstgebrannten Schnaps. Franzel,
der Hüttenbauer, war ein Urvieh. Er sah aus, wie der Großvater von Heidi, aber
wesentlicher lustiger. Man tanzte zum Schifferklavier und musste schon mal
damit rechnen, dass man von Franzel einen Kuss bekam, oder in den Po gezwickt
wurde. Die Wandersleute, die den langen Aufstieg geschafft hatten, waren
ausgelassener als woanders. Das war die schönste Alm, die wir gefunden hatten.
Auch die
Sonnenfinsternis verbrachten wir auf einer Alm. Wir hielten alle die Luft an. Die Kühe muhten, als ahnten sie
eine Gefahr, die Hühner flatterten ganz aufgeregt umher, die Schafe blökten und
auch in uns war eine ganz merkwürdige Unruhe. Und trotzdem hatte ich das
Gefühl, dass wir etwas ganz besonderes, einmaliges erleben würden. Es würde die
einzige Sonnenfinsternis sein, die ich sehen würde. Auch wenn ich wusste, dass
es nichts mystisches, geheimnisvolles war, erlebte ich diesen Moment sehr
intensiv. Ich dachte an mein Leben, an die Menschen, die ich liebte – es war
ein sehr schöner Augenblick, ich war in dem Moment, als die Sonne verschwand
völlig ruhig. Alles um mich war ruhig geworden – nur einen Augenblick lang,
dann war es vorbei.
Man hatte uns
in unserem Hotel einen Wanderpass gegeben und jedes Mal, wenn wir eine Alm
erreicht hatten, holten wir uns den Stempel der Hütte an, so dass wir am Ende
des Urlaubs den Wanderpass gegen ein Wanderabzeichen eintauschen konnten. Und
wir schafften es, uns das goldenen Wanderabzeichen zu erwandern.
Voller Stolz
zeigte ich es den lachenden Freunden. Sie witzelten rum, wen ich denn dafür und
mit wie viel Geld bestochen hätte, um das zu bekommen.
7.
Wieder zu
Hause, rückte der Termin bim Psychologen immer näher.
Tom fuhr
zusammen mit seinem Vater wieder in die Transplantationsklinik. Man wollte die
entsprechenden Tests dort machen, sich nur auf die Empfehlungen der eigenen
Universitätsärzte verlassen.
Die beiden
saßen zusammen in einem Raum und mussten Fragebögen beantworte, zwei Stunden
lang nur Fragebögen. Diese waren genau gleich.
Fragen in der
Art „haben sie als Kind gerne Mädchenkleider getragen?“ oder „Wenn sie im
dunkeln im Kino ein Portemonnaie finden, würden sie es behalten?“
Man wertete
die Bögen aus. Da die beiden allein in dem Raum gesessen hatten, beschuldigte
man sie, sie hätten die Fragen miteinander angesprochen – die Antworten waren
fast identisch. Aber da man beiden gesagt hatte, sie sollten nicht miteinander
reden, taten sie das auch nicht. Ich würde es jedem zutrauen, gegen dieses
Verbot zu verstoßen, aber nicht meinem Mann und seinem Vater. Die sind so
diszipliniert, das geht im normalen Leben eigentlich gar nicht. Und was ich
vorher schon wusste, sie sind gleich. Sie haben die gleiche Meinung, das
gleiche Lebensmotto, die gleiche Disziplin. Mich überraschte die Tatsache in
keiner Weise, dass auch ihre Antworten gleich waren.
Zu dem
nachfolgenden Gespräch wurden sie in einen Behandlungsraum geführt. Als Tom
nach Hause kam, quälte ich ihn geradezu mit Fragen zu dem Gespräch, da ich noch
nie bei einem Psychologen war, konnte ich mir das gar nicht vorstellen und war
so gespannt auf seine Erzählungen. Ich finde es immer wieder interessant,
woraus die Antworten ableiten und Menschen einschätzen können. Das hat für mich
schon was mystisches.
Tom erzählte
also weiter: „Der Behandlungsraum hatte ehr was von einem Wohnzimmer, als von
einem Arztzimmer. Er war eingerichtet, wie das typische Wohnzimmer einer DDR
Wohnung.“ Während er beschrieb, tauchte vor meinem Augen das Wohnzimmer aus dem
Film „Sonnenallee“ auf: alter abgetretener Teppich, eine Schrankwand, die auch
schon bessere Zeiten gesehen hatte, eckige, samtbezogene Sessel.
„Zwei Ärzte
unterhielten sich mit uns. Es war ein völlig normales Gespräch, über ihre
berufliche Entwicklung, Familie, Hobbys. Eben so was in der Richtung. Sie
sprachen zunächst kein Wort von Krankheit oder Transplantation.
Erst am Ende
des Gesprächs, sprach man das Thema direkt an.“
Ich weiß
nicht, ob die Ärzte es mit Absicht machten, oder ob Tom das falsch verstanden
hatte, jedenfalls empfand er das Gespräch als pure Provokation.
Man warf ihm
vor, seinen Vater zur Spendebereitschaft gedrängt zu haben. Führte ihm vor
Augen, dass seinem Vater das Gleiche passieren könnte wie ihm – Ausfall der
verbliebenen Niere und damit Dialysepflichtigkeit. Sie beleidigten mich, weil ich
ja nicht bereit war zu spenden – sie fuhren das gesamte Repatuar auf, um Tom zu
provozieren, ihn aus der Reserve zu locken. Aber reagierte nicht darauf, war
die Ruhe selbst, beantwortete alle Fragen.
Innerlich war
er jedoch am Toben und noch zu Hause konnte er gar nicht fassen, was und in
welcher Form ihm alles unterstellt worden war.
Beim nächsten
Termin in der Trasplantationssprechstunde wurde den beiden jedoch bescheinigt,
dass man aus psychologischer Sicht keinerlei Bedenken habe.
Tom war
wieder schockiert. Sollte das alles nur dazu gedient haben, um ihn zu
provozieren? Hatten sie das gar nicht so gemeint, wie sie es gesagt hatten? War
das alles nur eine Inszenierung? Aber Tom schob den Gedanken weit von sich weg.
Er hatte nicht mal mehr das Bestreben, das genauer zu hinterfragen. Es war ja
alles gut gegangen.
Und zwei
Jahre nachdem er erkrankt war, konnte es nun losgehen mit der Transplantation!
– dachten wir beide.
Aber sein
Blutdruck hatte sich noch immer nicht normalisiert. Nach wie vor traten extreme
Schwankungen auf. Das machte eine Transplantation natürlich unmöglich. Es war
nicht so, dass ich das einsah. Ich schob alles auf die nicht arbeitenden
Nieren. Wenn er erst transplantiert wäre, würde sich auch sein Blutdruck
normalisieren.
Die Ärztin
erklärte, dass man diese Schwankungen auf jeden Fall in den Griff kriegen
müsse. Sie befürchtete, dass der Blutdruck die transplantierte Niere zerstören
wird, so wie es auch mit seinen Nieren passiert war. Es war ein Teufelskreis!
Keiner fand
die Ursache für die Schwankungen. Tom solle nicht mehr arbeiten gehen. Doch das
lehnte er absolut ab. Er könne nicht den ganzen Tag zu Hause bleiben, dann
könnten sie ihn gleich erschießen. Und außerdem würde er auch nach der
Transplantation arbeiten wollen, ansonsten bräuchten sie das gar nicht machen,
weil dann sein Leben nicht mehr lebenswert ist. Er fühlte sich
verständlicherweise noch nicht alt
genug, um zu Hause zu bleiben.
Man hatte
inzwischen alle möglichen blutdrucksenkenden Mittel ausprobiert. Aber keines
schien zu ihm zu passen. Es kam immer wieder zu den gefährlichen Schwankungen.
Der Urologe meldete sich zu Wort: „Wir sollten über eine Nephrektomie
nachdenken. Möglicherweise belasten die nichtfunktionierenden Nieren den
Blutdruck.“ Nachdenklich blickte die Nephrologin ihn an. Ich sah von einem zu
anderen und hatte keine Ahnung, wovon die beiden sprachen. Aber mir die Blöse
zu geben, nachzufragen, das konnte ich auch wieder nicht. Also wollte ich mir
soviel wie möglich von dem Gespräch merken und mit Hilfe des medizinischen
Wörterbuches nachschlagen, wovon die beiden gesprochen haben. Andererseits
hoffte ich auf eine Antwort, die mir erklärte, um was es ging.
Aber die
Ärztin blickte nur finster und schien nachzudenken. Sie wusste, dass es ein
gefährlicher Eingriff war, die Nieren zu entnehmen, dass man nie genau
vorhersagen konnte, wie der Organismus reagierte, wenn er keine Nieren mehr
hatte – auch wenn sie nicht funktionierten.
Ihre
Entscheidung konnte Toms Lebensqualität verbessern oder aber enorm verschlechtern.
„Wir werden
ein anderes Mittel versuchen. Dieser Eingriff scheint mir zu gewagt. Sie
wissen, dass alle möglichen Nebenerscheinungen auftreten können. Wenn wirklich
die Nieren an dem schwankenden Blutdruck schuld sind, dann wissen wir wenigstens,
womit wir es im Moment zu tun haben. Entfernen wir die Nieren, wissen wir
nicht, was alles auf uns zukommt. Ich möchte damit warten, bis wir alle anderen
Möglichkeiten ausgeschöpft haben.“
Sie gab ein
paar Informationen an die beisitzende Ärztin. Man wollte ein anderes Medikament
ausprobieren, das ganz neu war und würde sich dazu aber wieder mit den Dialyseärzten
in Verbindung setzen.
Die
Information kam allerdings erst 4 Wochen nach unserem Besuch in der Praxis an.
Das war genau die Nachlässigkeit, die ich nicht verstehen konnte.
8.
Die ersten
Anzeichen der Hauterkrankung nahmen wir gar nicht war. Tom kratzte sich immer
mal, aber das taten wir ja alle von Zeit zu Zeit. Ich schob es auf die fehlende
Sonne – Tom mied ja Sonne, weil sie ihm nicht so gut bekam und er das Gefühl
hatte, vertrocknen zu müssen. Andererseits dachte ich an Vitamin D, irgendwo
hatte ich gehört, dass sich das ja mit Hilfe der Sonne bildet und wichtig für
die Haut sei.
Es hatten sich
an Armen und Beinen Flecken gebildet, die unglaublich juckten. Nachts
kratzt er sich so schlimm, dass er Schlafanzüge beim Kratzen zerriss. Ich
wachte davon auf, streichelte ihn, krabbelte ihn, kratzte ihn, stundenlang. An
Schlafen war ja so wie so nicht zu denken, wenn er sich so sehr kratzte, dass er die Haut bis aufs Blut aufgekratzt hatte.
Ich schleppte alle Salben an, die ich fand, streichelte ihn, bis ich völlig
ermüdet einschlief, um gleich wieder aufzuwachen, weil er nicht aufhören konnte
zu kratzen. Er zog Handschuhe an, um sich nicht völlig kaputt zu kratzen.
Nichts half. Die Ärzte in der Dialysepraxis sagten, dass dies eine bekannte
Nebenwirkung der Dialyse sei. Aber das half uns auch nicht weiter. Man musste
doch was dagegen tun können!
Also zum
Hautarzt – aber das ist auch immer so eine Sache. Hauterkrankungen sind so
vielseitig und ich verstand, dass auch der nur experimentieren konnte, um eine
Linderung zu schaffen. Auch seine Mittel halfen nicht. Erst wenn Tom ein Fleck
völlig aufgekratzt hatte, hatte er das Gefühl Ruhe zu haben. Doch dann kam
schon der nächste Fleck. Die aufgebrochenen Stellen versorgte er dann mit
Desinfektionsmittel und Salben. Das war sicher unvorstellbar schmerzhaft. Aber
er konnte nichts dagegen machen und auch die Ärzte konnten nicht helfen.
Manchmal
waren die Beine so verbunden, weil er die offenen Wunden auch nicht an der Luft
trocknen lassen wollte, dass die Wunden mehr an ein offenes Bein, als an eine
Hauterkrankung im herkömmlichen Sinne erinnerte.
Die
Transplantationsärzte waren auch ein wenig Ratlos. Sie überwiesen ihn in die
Sprechstunde der Hautklinik. Man sollte sich das da mal ansehen.
Die
Sprechstunde der Hautklinik war gnadenlos überfüllt. Ärzte, gefolgt von
Studenten, oder Assistenzärzte liefen von Behandlungszimmer zu
Behandlungszimmer und sahen sich die einzelnen Patienten an. Schwestern hatten
mit Verbänden, Terminvergaben oder Einweisungen in die Klinik zu tun. Es wirkte
auf mich wie ein großer Ameisenhaufen, in dem alle hin und her eilten, ihren
Beschäftigungen nachgingen, ohne sich um ihren
Nachbarn zu kümmern.
Auch wir
waren in so einem Behandlungszimmer gelandet und als wir die Tür hinter uns
geschlossen hatten, war es ganz still um
uns. Ein Arzt riss die Tür auf, stürzte herein und so wie er die Tür
geschlossen hatte, trat auch die Ruhe wieder ein. Von den geschäftigen Treiben
war nichts mehr zu spüren. In aller Ruhe ließ er sich Toms Problem schildern,
besah sich die Wunden und ich glaubte ihm fast Mitleid anzusehen, so intensiv
beschäftigte er sich damit. Er machte einen Abstrich von einem der Flecken, sah
in einem seiner vielen Bücher nach, verglich, verwarf seine Idee wieder. Und
endlich begann er zu reden.
„Ich glaube,
ich weiß um welche Art Erkrankung es sich handelt. Prinzipiell ist es bei
Dialysepatienten so, dass sie unter trockener Haut leiden, da sie ja alle Flüssigkeit aus ihrem Körper
filtern müssen. Der Juckreiz, den sie beschreiben, ist also eine normale
Reaktion auf ihre Niereninsuffizens. Aber die Knoten, die sich auf ihrer Haut
gebildet haben, haben damit nichts zu tun. Das ist was anderes. Beschreiben sie
mir den Krankheitsverlauf der einzelnen Knoten“
„Zunächst
sind es nur rote Flecken, die verschieden groß sind, etwa Hemdknopfgroß. Die
beginnen dann stark zu Jucken und das hört erst auf, wenn sie aufgekratzt sind.
Sie bluten auch nicht richtig. Dann bildet sich eine Haut drauf, die Flecken
jucken nicht mehr, und heilen ab.“
Verständnisvoll
nickte der Arzt und verglich Toms Bericht mit dem Buch, dass er aufgeschlagen
hatte.
Er war sich
nun ziemlich sicher. „Gestatten Sie mir, einen Kollegen dazuzuholen? Es ist
eine sehr seltene Erkrankung, zumal bei einem Mann ihres Alters.“ Er verschwand
um gleich darauf mit einem anderen Arzt wieder zu kommen. Der besah sich Tom,
seine Arme, seine Beine, seinen Körper, an dem ja eigentlich nichts war. „Ja“,
begann er „mein junger Kollege hat Recht. Sie sind an Prurigo Nodularis nach
Hyde erkrankt. Die Ursache für diese Erkrankung ist nicht bekannt. Und ich weiß
auch nicht, ob ihre Niereninsuffizens, oder der chronische Bluthochdruck im direkten Zusammenhang damit stehen. Normalerweise
tritt diese Krankheit bei Frauen mittleren und höheren Alters auf. In
Untersuchungsreihen wurden psychosoziale Störungen und allergische
Krankheitsbereitschaft als Ursachen angenommen. Aber bei ihnen?“
Er fuhr fort,
dass eine Heilung sehr schwierig sei und gab allgemeine Tipps, zuviel Seife
vermeiden und Wasser, das würde die natürliche Schutzschicht der Haut
zerstören. UVA und UVB Bestrahlungen könnten sich günstig auswirken. Auch
verschiedene Naturheilprodukte sollen schon gut gewirkt haben, Kräuter und in
jedem Fall Bäder. Tom verwies gleich darauf, dass es mit Bädern schwierig wäre
wegen seines Katheders.
Ich merkte
den beiden an, dass sie keine richtige Therapie vorschlagen konnten. Sie
verschrieben Salben – man müsse sehen, ob es damit Linderung gab. Mit
Medikamenten wollte man sich mit dem Transplantationsteam erst abstimmen.
Wir bekamen
einen neuen Termin.
Zu diesem
Termin kam gleich einer der Oberärzte dazu. Tom kam sich wie ein
Anschauungsobjekt vor. Ganz offensichtlich hatte man den Fall in größerer Runde
besprochen. Man hatte die Abstriche ausgewertet.
„Wir sind zu
dem Ergebnis gekommen, dass diese spezielle Form der Prurigo Erkrankung doch
auf ihre Dialyse zurückzuführen ist. Es ist eine psychosoziale Störung, was
bedeutet, dass ihr Körper extrem anfällig und bereit für Krankheiten ist. Um es verständlich
auszudrücken: Teile des Harnstoffs, der bei ihnen nicht natürlich ausgeschieden
wird, setzt sich unter der Haut ab und reizt sie so, dass sie krank wird. Eine
Heilung wird nicht möglich sein. Wir können nur versuchen, eine Linderung
herbeizuführen. Eine Heilung wird erst mit der Transplantation eintreten, wenn
ihr Körper Urin bildet und ausscheidet.“
Tom kratzte
also weiter, die Salben schlugen wenig oder gar nicht an. Die Medikamente
ermüdeten Tom, so dass er sie nach Absprache mit der Dialysepraxis wegließ.
9.
So
beschlossen wir, doch Urlaub in der Sonne zu machen. Vielleicht konnte sie
heilen, was die Medikamente und die Salben nicht schafften.
Tom wollte
gern an den Plattensee. Dort war er öfters im Urlaub, als wir uns noch nicht
kannten und er wollte Ungarn gerne
wieder sehen.
Wir fuhren
mit meiner Freundin und deren beiden Töchter.
Wie viele
Urlaube mussten wir eigentlich noch hinter uns bringen, mit der
Dialyseausrüstung? Wann würde es endlich so weit sein, dass unser Leben wieder
in normalen Bahnen verlief? Wann würden wir wiedermal in den Urlaub fliegen
können? Ich hasste es inzwischen, Stunden mit dem Auto zu fahren. Es war so anstrengend,
es machte mich echt fertig.
Auch wenn die
Sonne Toms Haus gut tat, war es andererseits für seinen Kreislauf gar nicht
gut, sich der Sonne auszusetzen. Er hatte unendlich Durst und hatte
andererseits Angst, dass es zu Wassereinlagerungen kommen könnte. Er scheute
sich auch im Plattensee baden zu gehen. Auch wenn wir gelesen hatten, dass die
Qualität des Wassers hoch sein soll, so hatten wir doch den Eindruck, dass er
unglaublich dreckig war. Vielleicht liegt das daran, dass er nicht tief ist und
der aufgewühlte Boden den See dreckiger erschienen ließ, als er in Wirklichkeit
war.
Am schönsten
war eigentlich immer unser Frühstück. Wir hatten zusammen ein Haus gemietet und
saßen dann stundenlang am Frühstücktisch, redeten, lasen, lachten.
Mein Geschmack
an Romanen hatte sich auf Grund meines Lebens auch geändert. Ich las jetzt
lieber Bücher über Schicksale und wie andere Menschen damit fertig geworden
waren. In diesem Urlaub hatte ich Ranickis Biografie in die Hände bekommen und
konnte sie gar nicht mehr weglegen. Es lenkte mich von meinen eigenen Problemen
ab und zeigte mir immer wieder, dass ich mich nicht und auf gar keinen Fall
beschweren kann: Mein Mann lebt, es geht uns gut, unsere Kinder sind gesund und
wir können in den Urlaub ... Und
trotzdem blieb ein „Aber“ Ich hätte
nicht erklären können, was mir fehlt, war nicht unzufrieden, oder meckerte über
die Situation. Ich war einfach nur müde, müde allem gegenüber.
Aber Dank
Ranickis Buch wurden meine eigenen Probleme, Ängste und Sorgen in den Hintergrund
gedrängt. Es ist einfach ideal, um in eine andere Welt einzutauchen und zu verschwinden
aus der eigenen.
Da Tom nicht
mit uns am Strand des Plattensees liegen wollte, unternahm er gerne mal was mit
den Kindern. Das tat auch mir gut und meine Freundin war begeistert.
Die Stätten
seiner „Jugend“ besuchten wir zusammen, den Pullovermarkt von Shiofok – betrübt stellten wir fest, dass
er seinen Zauber verloren hatte, Budapest, dass inzwischen noch dreckiger
geworden war und die Weinplantagen, die allerdings schöner waren als je
zuvor.
10.
Ich weiß
nicht mehr, wie ich auf die Idee kam, aber irgendwie hatte sich die Idee in
meinem Kopf festgesetzt, in die Kur zu fahren.
Andere
schwärmten immer so davon, ich wollte mich auch mal verwöhnen lassen. Aber was
viel mehr zählte, ich wollte einfach nur weg, mal was anderes sehen, mal mich
nur um mich kümmern – 3 Wochen nur.
Tom wollte
mich fahren, oder meinte, ich solle mit dem Zug fahren, er könne mich ja am
Wochenende besuchen - und all so Sachen.
Bis ich ihn
anschrie, daß ich wohl allein in der Lage sein würde, 500 km zu fahren und das
ich nicht will, daß er mich besucht. Das
war vielleicht fürchterlich hart für ihn. Aber verstand er nicht, sah er nicht,
daß ich nicht vor ihm weglief, sondern vor meinem eigenen Leben und das ich das
unbedingt brauchte, um nicht vor unserem gemeinsamen Leben davonzurennen?
Er sagte
nichts.
Und er half
mir nicht.
Ich packte
meine Koffer, die Koffer der Kinder, verstaute die Spielsachen, packte alles
ins Auto, gab ihn einen Kuß und war verschwunden.
Hätte er mich
nicht in den Arm nehmen können und mir die vor mir liegende Zeit gönnen können?
So gern wie
ich gehabt hätte, daß er mich besuchen würde, so sehr fürchtete ich mich davor,
vor den Nächten, vor dem Kratzen vor dem Nicht – Schlafen – Können.
Es kam mir
vor, als ob ich ewig nicht geschlafen hätte. Erst kam die Kleine auf die Welt,
und sie war ein fürchterlich nachtaktives Baby gewesen und als sie gerade
angefangen hatte durchzuschlafen, wurde Tom krank und ich schlief wieder nicht.
Es war
verrückt, es gab nichts, was mich hier nachts gestört hätte – das Kurheim lag
so abgelegen, daß es einfach nur immer ruhig war – abgesehen von dem Kinderlärm
tagsüber – und trotzdem, ich konnte nicht schlafen. Kaum dass ich eingeschlafen
war, wachte ich wieder auf, wußte oftmals gar nicht wo ich war. Und lag dann ewig wach. Immer wieder schreckte ich auf.
Und erst
jetzt in der Ruhe der Nacht und bei den langen Spaziergängen, wurde mir klar,
wie schwer ich litt. Daß ich mir immer nur Sorgen gemacht hatte, immer Angst
hatte, es könnte schlimmeres passieren.
Nach einer
Woche gelang es mir dann tatsächlich durchzuschlafen. Ich wachte nicht mehr
auf. Das tat unheimlich gut. Ich war wesentlich erholter, wenn ich frühs
aufstand.
Es war
verrückt, aber ich hatte nicht gemerkt, daß ich so fertig war. Ja, ich hatte
bemerkt, daß ich bedrückt war und völlig fertig, aber ich hatte nicht geahnt,
daß ich mich soviel besser fühlen konnte. Ich hatte mich an dieses schreckliche
Gefühl in mir gewöhnt.
Ich beschloss
mit einer der Psychologinnen zu sprechen. Wenn ich so viele Dinge nicht bemerkt
hatte, vielleicht war da noch mehr.
In mir war
ein Selbsterhaltungstrieb durchgebrochen, ich war besessen von dem Gedanken,
mich endlich wieder leicht und lustig zu fühlen, ich war noch nicht mal 35 und
kam mir uralt vor – verbraucht und zu nichts mehr fähig.
Ich lachte in
mich hinein, ob ich wohl auch auf den „Couch“ landen würde, die ich von
Fernsehen kannte?
Ohne Zweifel
war auch ein ungutes Gefühl in mir. Der
Gedanke, daß die nun anfange würden, meine Kindheit auseinanderzunehmen, mir
Macken einzureden, die ich gar nicht hatte – wenngleich ich sicher genug Echte
hatte - ließ mich doch ein wenig
erschaudern.
Eigentlich
wollte ich gar nichts über mich erfahren. Was ich über mich wissen wollte,
erfuhr ich, wenn ich selber in mich hineinhörte.
Ich wollte
wissen, wie es mir besser gehen konnte, wie ich mit Franks Leid umgehen konnte,
wenngleich ich dem gar nicht die Schuld daran gab, daß es mir so ging. Vielmehr
gab ich mir die Schuld. Ich war doch nicht fähig, mit Krankheit umzugehen.
Also nahm ich
all meinen Mut zusammen und bat um ein Gespräch. Die drei Psychologinnen sah
ich mir genau an. Wenn ich mit jemanden reden wollte, dann musste vom ersten Moment
an die Chemie stimmen. Dabei machte ich mir keinerlei Gedanken, was sie von mir
dachte, ob sie mich mögen würde, ich musste sie mögen können, nur das war
wichtig.
Ich hatte
nicht die geringste Ahnung, wie ich anfangen sollte. Was sollte ich erzählen?
Ich begann einfach, erzählte von mir, den Kindern, Toms Krankheit und das ich allen Mut verloren
hätte. Über manche Sätze wunderte ich mich selber. Ich weiß nicht, wie sie es
schaffte, dass ich sie sagte. Ich hatte mich noch nie irgendwo „beschwert“ oder
„ausgeheult“, dass es mir zuviel wurde. Sie unterbrach mich nicht. Als ich
verstummte, fragte sie „Wovon träumen sie?“ Völlig verwirrt sah ich sie an.
„Gibt es einen Traum, der häufig wiederkehrt? Sie scheinen ein sehr
phantasiereicher Mensch zu sein. Was fällt ihnen spontan ein?“ Sie hatte Recht.
Es gab Träume, die immer wider kehrten. „Zum einem träume ich immer wieder,
dass ich wieder studieren würde, ich habe das Studium abgebrochen, zum einen,
weil es gar nicht meinen Interessen entsprach und ich dann einfach den ganzen
Quatsch nicht stupide lernen kann. In meinem Traum bin ich wieder dort und
schaffe es einfach nicht. So sehr ich es auch will, ich bestehe die Prüfung
einfach nicht. In einem anderen Traum, sehe ich immer wieder einen Hund vor
mir, der mich anfällt. Aber diesen Hundetraum habe ich schon als Kind gehabt.
Ich laufe über Berge, immer Bergauf, Bergab und dieser Hund rennt hinter mir
her und ich kann einfach nicht vor ihm weglaufen, egal wie sehr ich mich auch
anstrenge. Aber in den letzten Monaten ist der Traum anders. Ich gehe z. B.
spazieren und da kommt dieser Hund und fällt mich an. Und es ist kein Mensch
da, der mir hilft. Ich will schreien, aber es kommt kein Ton aus meinem Mund.
Das ist einfach schrecklich.“ Bei dem Gedanken liefen Tränen über meine Wangen.
Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, doch in diesem Moment war dieser
Traum so nah, dass er mir wieder Angst machte und die Tränen, die ich nie hatte
weinen können, waren nun einfach da.
Sie sah mich
an und ich las alle Antworten in ihrem Gesicht. „Hatten sie so eine Begegnung
mit einem Hund?“ Spontan verneinte ich es. Doch dann fiel mir der Urlaub in
Frankreich wieder ein. Das hatte ich total vergessen. Ich erzählte ihr davon.
„War ihr Mann damals schon erkrankt?“ Ich bestätigte, dass er gerade ein halbes
Jahr erkrankt war.
Ganz spontan
erzählte ich auch, dass ich gerne joggen, oder Inliner laufen würde, aber immer
Angst hatte, dass dieser Hund vor mir stehen würde und ich mir das aus diesem
Grund nicht traute.
Ich hatte keine
Ahnung, wie viel Zeit sie für mich eingeplant hatte und ich hatte schon Angst,
gehen zu müssen, ohne eine Antwort zu erhalten, eine Antwort auf all meine
Fragen, auf die wichtigste Frage: Wie soll ich mein Leben schaffen? Ich fühlte
mich komischerweise so wohl. Ich erzählte einer Fremden von mir, meinem
Innersten und ich fühlte mich wohl dabei.
„Wissen sie,
sie schaffen alles. Da bin ich mir ganz sicher. Sie haben Angst und das ist
normal. Was sie erleben, ist nicht das, was sie kennen, was wir bei unseren
Eltern gelernt haben. Ein Mensch den sie lieben, ein junger Mensch wird
schwerstkrank. Sie haben gelernt, dass alte Menschen krank werden und sterben
und jetzt sehen sie, dass es uns alle treffen kann. Dass ihr Mann gestorben
wäre, hätte er vor 50 Jahren gelebt. Das zu verarbeiten braucht Kraft. Oftmals
verarbeiten wir alle das in unseren Träumen. Sie auch. Darum habe ich sie auch
danach gefragt, sonst hätte ich die Signale, die ihre Seele, ihr Geist oder wie
immer sie das bezeichnen wollen, gibt woanders gefunden. Aber sie müssen was
tun, sonst wird es ganz schlimm. Ich bin froh, dass sie doch noch den Weg zu
uns gefunden haben. Ihre Angst ist reine Verlustangst, Angst einen geliebten
Menschen zu verlieren. Wir werden immer wieder Menschen verlieren, die wir
lieben, aber wir dürfen dabei uns selbst nicht verlieren.
Sie leben!
Und so egoistisch wie das klingen mag. Sie
sind der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Sie tun alles für andere und nie
etwas für sich selbst. Seien sie mal
egoistisch, denken sie mal an sich! Einen ersten wichtigen Schritt haben sie
getan, als sie hierher gefahren sind. Und sicher sagen sie sich irgendwo, dass
sie eigentlich gar nicht hier sein dürften, weil sie einen kranken Mann zu
Hause gelassen haben. Aber laden sie ruhig ein wenig Last auf die Schultern der
anderen. Geben sie seinen Eltern ein wenig, der Schwester, den Freunden. Sie
helfen gerne. Glauben sie nicht, sei seien Ghandi und müssen alles auf sich
laden. Das schlimme ist, sie projizieren ihre Angst in all ihre Lebensbereiche.
Ich werde ihnen ihre Angst nicht nehmen können, ich kann ihnen auch kein
Medikament verschreiben, das ihnen ihre Angst nimmt. Sie werden selbst was
dagegen tun müssen. Und das müssen sie unbedingt. Noch haben sie nur Angst, auf
einsamen Wegen sein, wenn sie aber nichts tun, wird die Angst so groß, dass sie
eines Tages nicht mehr ihr Haus verlassen.“ Erstaunt sah ich sie an. Sie hatte
Recht. Ich hatte in den Jahren der Krankheit nie in mich reingehorcht, obwohl
ich doch ein Mensch bin, der sich ständig Gedanken um sich und seine Umwelt
macht, hatte ich mich selbst vergessen. Ich akzeptierte die angebotene Hilfe
der anderen nicht. Das brauchte ich doch nicht. Ich schaffe alles alleine. Aber
ganz offensichtlich war es wohl doch nicht so. Sie rückte mir den Kopf zurecht,
war stellenweise richtig aggressiv – und sie schaffte es, sie riss mich aus
meiner Angst.
„Sie wollen
sich sportlich betätigen? Dann tun sie das. Das ist meine Hausaufgabe für sie.
Sie werden den kleinen Weg am Bodden entlang joggen. Packen sie sich am Anfang
ein Spray ein, einen Stock, ein
Taschenmesser, irgendwas, von dem sie glauben, ihren Traumhund von sich fern
halten zu können. Machen sie es und dann sehen wir uns wieder.“ Damit hatte sie
mich entlassen.
Ich dachte
darüber nach. Verflucht sie hatte Recht. Mein wider aufgenommenes Studium: ich
hatte Angst zu versagen, die sich vor mir aufbauenden Aufgaben nicht zu
schaffen, auch wenn es dazu eigentlich gar keinen Grund gab. Selbst wenn ich
etwas nicht schaffen sollte, ich war doch auch nur ein Mensch. Und da waren
doch genug andere um mich herum, die zu helfen bereit waren. Warum nahm ich die
Hilfe nicht an? Glaubte ich dann, weniger gut, oder stark zu sein? Hatte ich
Angst, für Tom dann weniger wichtig zu sein? Ich hatte keine Probleme mit der
Situation, ich hatte Probleme mit mir selber. Ich mutete mir zuviel zu. Und ich
hatte es nicht erkannt. Keiner hatte es erkannt. Auch Tom nicht, meine Freunde
nicht. Keiner sah, dass es mich
zerstörte.
Und wenn ich
ganz tief in mich hineinhörte, hatte ich damit ein Problem, dass es keiner sah,
auch wenn ich das vor mir selber noch nicht zugegeben hatte. Ich war doch auch
immer für andere da, half, wo immer ich konnte, gab alles und nun war keiner
für mich da!
Aber ich
durfte mich nicht unterkriegen lassen. Und ich würde mich nicht unterkriegen
lassen. Mit zittrigen Beinen machte ich mich auf den Weg am nächsten Morgen.
Die Kinder schliefen noch und sie würden noch schlafen, wenn ich wiederkam. In
jeder Hand mit einem Spray bewaffnet machte ich mich auf den Weg. Und ich hatte
Angst, den ganzen Weg entlang hatte ich Angst. Ob meine Beine nun vor Aufregung
zitterten, dass ich laufen würde, ob vom Laufen selber oder vor Angst, wusste
ich nicht. Ich wiederholte meinen Ausflug jeden Morgen und es tat mir immer
besser. Irgendwann hatte ich den Mut, ohne meine Sprays in der Tasche
loszulaufen. Ich musste es wagen. Und dann passierte es: mein Alptraum wurde
wahr: Da stand dieser Hund auf meinem Weg. Ich erstarrte, verfluchte die Frau,
die mich geschickt hatte, wollte in Panik ausbrechen. Doch plötzlich kamen mir
ihre Worte in den Sinn. Wenn dieser Hund mich zerfleischen wollte, dann würde
er es eben tun. Ich würde nicht mehr davor weglaufen. Meinem Schicksal kann ich
nicht davonlaufen. Ich beruhigte mich, die Ruhe, die ich bei der Sonnenfinsternis
empfunden hatte, überkam mich, eine seltsame Ruhe. Ich rannte an dem Hund
vorbei und sagte „Guten Morgen Hund.“ Er sah mich an und lief in eine andere
Richtung davon.
Sprachlos
stand ich da.
Doch dann
jubelte ich, sprang in die Luft, schrie vor Freude. Ich fühlte mich so stark.
In das nächste Gespräch mit der Psychologin ging ich wesentlich entspannter.
Ich erzählte ihr davon und konnte den Stolz auf mich selbst in meiner Stimme
nicht verbergen. Sie lenkte die Sprache, ohne ein weiteres Wort über die
Ereignisse zu verlieren, auf mein angesprochenes Eheproblem, auf die
Sprachlosigkeit, die Unfähigkeit über Gefühle zu reden. Ich war zunächst
irritiert. Warum sagte sie nichts zu meinem Laufen. Ich hatte Lobesworte erwartet,
erwartet, dass sie sagt: „Na sehen sie, es geht doch. Alles wird gut!“ aber
nichts dergleichen kam. Auch so eine Lektion, die sie mir lernte: Wenn mir
etwas gelungen ist, brauche ich keine Anerkennung von anderen. Ich hatte meine
Bestätigung doch bereits gefunden.
Sie führte
mir vor Augen, dass die Sprachlosigkeit meines Mannes über die ich mich beklagt
hatte, ehr meine eigene Sprachlosigkeit war. Wenn ich ein Problem hätte, solle
ich mit ihm sprechen. Ich wusste, was sie meint. Ich konnte mich nicht beklagen
ohne bereit zu sein, Probleme anzusprechen. Oft genug verschwieg ich meine
eigenen Gefühle, befürchtete, dass sie lächerlich klingen würden. Aber sie
waren nicht lächerlich, nicht für mich. Und dazu muss ich stehen. Sie waren
wichtig für mich und schrieen danach rausgelassen zu werden. Und was wichtig
für mich ist, dafür muss ich zu kämpfen bereit sein.
Als ich meine
Kur beendete gab sie mir noch gute Ratschläge mit auf den Weg. „Sie werden
weitere Rückschläge erleiten. Auch wenn ihr Mann gesund werden sollte, ihr
Leben bleibt bis zum letzten Atemzug ein Abenteuer, dass wir nicht immer
bewältigen können. Aber versprechen sie mir, sich nicht zu verkriechen, schon
gar nicht in sich selbst. Wenn sie glauben, nicht klar zu kommen und niemanden
haben, mit dem sie reden können, der sie zu verstehen scheint, suchen sie sich
professionelle Hilfe. Sie haben gemerkt, wie schwer es ihnen gefallen ist, zu
mir zu kommen. Scheuen sie nie mehr davor zurück. Sie wollen leben. Und das
wissen sie.“
Sie hatte Recht.
Und ich bin ihr unendlich dankbar für das, was sie mir geraten hatte. Ich war
gestärkt und bereit mein Leben wider aufzunehmen.
11.
Es
war wieder Winter. Tom war nun schon 3 Jahre krank.
Die
Faschingszeit stand vor der Tür und da wir leidenschaftliche Faschingsgänger
sind, hatten wir schon mit den Vorbereitungen
begonnen. Wir sind meist eine Gruppe von 10 Leuten und allein an der
Vorbereitung haben wir schon richtig Spaß. Im Dorf gehen dann immer schon
Gerüchte rum, als was wir in diesmal gehen könnten. Die besten Kostüme werden
dann prämiert. Aber es geht nie darum, was der 1.Preis ist, sondern nur darum,
ob wir ihn kriegen. Die Konkurrenz ist immer sehr stark und das spornt uns
immer wieder an. In diesem Jahr wollten wir die „Gesundheitsreform“ aufs Korn
nehmen. Wir malten und bastelten schon Wochen vorher und hatten wie immer Spaß.
Tom machte zwar mit, aber so richtig fehlte ihm die Lust. Meist war ich der
treibende Teil bei diesen Aktivitäten und meisten trafen wir uns auch bei uns
zu Hause. Seit ich in einer Faschingshochburg studiert hatte, war ich von
diesem verrückten Treiben ums Verkleiden
absolut fasziniert.
Tom
ging es wiedermal schlechter. Mit der Dialyse ging es auch immer schlechter.
Die halbe Nacht hupte die Maschine, die Flüssigkeit wollte einfach nicht
ablaufen. Es waren anstrengende Nächte, wir schliefen beide nicht. Seine Füße
schwollen an, das Dialysat war trüb – Bauchfellentzündung? Schon wieder?
Er
gab eine Probe des Dialysats bei den Ärzten ab: keine Bakterien, die darauf
schließen ließen. Was war es dann?
Es
dauerte einige Zeit, bis wir dahinter kamen. Der Katheder arbeitete nicht mehr
einwandfrei. Immer wieder setzten sich kleine Glukose Brocken vor den Katheder,
so dass er nicht mehr arbeiten konnte. Also wieder Krankenhaus, Kathederwechsel.
Den neuen Katheder setzt man nicht an die gleiche Stelle, damit die Haut und
das Gewebe an der alten Stelle besser abheilen konnte.
Tom
war also im Krankenhaus und es war Fasching. Ich stellte gar keinen
unmittelbaren Zusammenhang her. Aber er wurde für mich hergestellt.
Toms
Eltern fanden es absolut unpassend, dass
ich trotzdem zum Fasching gehen wollte. Und das könne man doch gar nicht
machen. Was sollen denn die Leute sagen? Mich hat es noch nie interessiert, was
die Leute sagen. Die Leute leben einfach nicht mein Leben. Wer will sich
anmaßen, mir etwas vorzuschreiben. Tom sagte zwar, dass ich gehen solle, aber
ich merkte ihm an, dass er es auch nicht wollte. Hatte er seine Eltern nur
„vorgeschickt“? Ich fühlte mich total schlecht! Ich meine, ich war doch immer
für ihn da, ging nicht weg, obwohl ich das gerne gemacht hätte. Ja, er war
krank und es ging ihm oft nicht gut. Aber ich war kerngesund und ich hätte gern
auch mal was anderes gesehen als Krankheit. Mir ging dieser blöde Hochzeitssatz
nicht mehr aus dem Sinn „..in guten wie in schlechten Zeiten..“ Also sagte ich mir ‚Es sind eben jetzt
schlechte Zeiten, halte durch. Es wird auch wieder besser.‘
Ich
ging nicht. Und ich sprach – entgegen dem Rat der Psychologin – auch nicht mit
ihm darüber. Unsere Freunde waren total enttäuscht und wollten mich wieder und
wieder überreden. Sie riefen Tom an und sagten, sie werden schon auf mich
aufpassen, und er soll mich doch gehen lassen. Wahrheitsgemäß sagte er, dass er
nichts anderes gesagt hätte.
Aber
ich wusste, dass er es nicht wollte.
Sie
zogen sich noch bei mir um und als sie gegangen waren, hätte ich heulen können.
Ich hatte ein echtes Problem damit, dass
ich zu Hause geblieben war, ich liebe eben Fasching, wenn sich alle verkleiden,
wenn man einmal im Jahr jemand anders sein kann, als man ist.
Aber
wie hätte ich das erklären sollen?
Ich
räumte die Spuren des lustigen Treibens in meiner Küche weg, brachte die leeren
Sektflaschen in den Keller, räumte die Gläser weg, kehrte die Küche und ging mit den Kindern ins Bett und wir machten
es uns gemütlich vor dem Fernseher.
Als
Tom das Thema anschneiden wollte, war die Wunde bereits geheilt und ich war
nicht bereit, sie erneut von ihm aufreisen zu lassen. Ich unterbrach ihn
einfach mitten im Satz. „Vergiss es und fang nie wieder davon an!“
Ich
spürte, daß er Angst hatte, ich könnte ihn betrügen und letztlich verlassen.
Wir sprachen wie immer nicht darüber. Aber diesmal vermied ich das Thema. Ich
wollte ihm keine Erklärungen geben, oder Versprechen. Das erschien mir so
absurd und irrsinnig, wie wenn ich ihm hätte versprechen sollen, daß die Sonne
frühs wieder aufgeht.
Es
gibt Dinge, die sind eben so, wie sie sind.
Klar
spürte er auch, daß es Männer gab, die der Meinung waren, „dass mir doch auf
jeden Fall was fehlen musste“.
Am
Anfang fühlte ich mich ja noch geschmeichelt, weil ich die Aufmerksamkeit
anderer erregte. Und so wie ich manchmal aussah – übermüdet und völlig fertig -
, mußte ich doch eine wahnsinnige Ausstrahlung haben! Und das waren gut
situierte Männer, nicht irgendwelche Chaoten, denen der Alkohol schon das Gehirn zersetzt hat.
Ich glaube, da hätte sich jeder geschmeichelt gefühlt.
Als
ich dahinter kam, war mein Entsetzen einigermaßen groß.
Ich
hatte wirklich geglaubt, dass sie mit mir Fahrradfahren, oder Inliner laufen
wollten, oder die Einladung zum Essen ernst meinten.
Aber
das und was sonst noch an obskuren
Einladungen ausgesprochen wurde, schien nur darauf abzielten, mit mir zu
schlafen. Es ekelte mich an. Und es gab Momente, in denen ich das auch ziemlich
deutlich und ohne Umschweife sagte. Das komische war nur, die verstanden das
gar nicht. Je deutlicher ich wurde, um so mehr fühlten sie sich angespornt, mir
weiter Offerten zu machen. Das mag absurd klingen, aber immer wenn ich „Nein“
sagte, dann schienen sie „Ja“ zu verstehen.
Also
überließ ich es ihrer Phantasie, wie lächerlich sie sich machen wollten.
Komisch nur, dass mir Verhältnisse mit genau den Männern nachgesagt wurden, die
ihre Frauen unbedingt betrügen wollten und die ich abblitzen ließ. Warum wurde
eigentlich nie darüber getratscht, was sie sagten, oder machten? Sondern nur
darüber, was ich nicht machte? Diese Mutmaßungen und Unterstellungen, diese
Falschheit und Verlogenheit hat eben dazu geführt, dass mir egal ist, was die Leute denken.
Ich
weiß, dass ich mich niemals darauf
eingelassen habe und nur das ist wichtig für mich, nicht, was die Leute sagen.
Nicht nur, weil ich Tom damit unendlich verletzt hätte, sondern weil es mich
selber extrem verletzt hätte. Ich hätte mich nicht mehr im Spiegel ansehen
können.
Ich
erzählte Tom nichts davon. Weder von den merkwürdigen Angeboten, noch von dem
Getratsche der Leute. Ich wollte nicht, dass er sich darüber Gedanken macht,
oder mir ganz und gar misstraut.
Und
so beleidigend das auch war, sowohl für mich, als auch für Tom, ich bog mich im
Stillen vor Lachen darüber, wie sich erwachsene Männer zum Clown machen
konnten. Ich konnte gar nicht anders.
Immer
wenn Tom wieder aus dem Krankenhaus heimkam, war ich bitterlich enttäuscht. Ich
hatte jedes Mal die Erwartung, dass sich in unserem Leben irgendwas ändern
würde, dass wir aufmerksamer miteinander umgehen würden. Aber nichts tat sich
und ich merkte, dass ich immer kälter wurde. Das machte mir am meisten Angst:
ich merkte, dass ich mich veränderte und merkte, dass ich nichts dagegen tun
konnte obwohl ich es gewollt hätte.
Wenn
ich Sonntags kochte, dann passierte es, dass
Tom in die Küche kam und sagte er könne das heute unmöglich essen und aß
bei seiner Mutter. Als er das das erste Mal machte, stand ich da wie vom Donner
gerührt. Hatte er das eben wirklich getan?
Ich
verstand schon, dass er nachts gebrochen hatte, sich absolut unwohl fühlte, und
sich mehr nach seinem Appetit richtete, als danach, dass er mich verletzten
könnte, aber trotzdem war es wie ein Schlag, dass er vorzog mit seinen Eltern
zu essen und nicht mit mir und seinen
Kindern.
Ich
verstand es nicht. Und sprach nicht darüber. Auch wenn ich es als beleidigend
empfand, ich konnte ihn doch nicht zwingen. So redete ich mir ein, er habe kein
Interesse an mir und den Kindern, an unserem Leben. Rational betrachtet war das
totaler Blödsinn, aber ich konnte nicht rational denken.
Und
damit mich sein Benehmen nicht verletzte, fand ich mich einfach mit der Tatsache
ab. Was hätte ich auch sonst tun sollen?
12.
Anne sollte in die Schule kommen Urlaub hatten wir keinen geplant. Tom wollte einfach zu Hause bleiben. Auch er war müde.Ich wollte gern mit den Kindern ins Euro Disney fahren. Ich dachte wieder daran, dass wir das vor 3 Jahren schon mal wollten und es nicht geklappt hatte. Diesmal würde ich fahren. Ich buchte nicht. Ich würde mit einem T4 Bus fahren und auch darin schlafen.Diese Entscheidung fiel mir unendlich schwer. Aber nachdem ich sie gefällt hatte, würde ich sie auch durchsetzen. Nichts würde mich davon abhalten, weil ich die Entscheidung für unser Kind traf. Ich wollte die Schuleinführung für Anne zum Höhepunkt werden lassen und ihr diese Reise schenken. Nach reiflicher Überlegung fragte ich meine Schwester, ob sie mich begleiten würde. Die Vorstellung, dass ich allein mit den Kindern durch Frankreich fuhr, ließ mich doch ein wenig ängstlich werden.
Sie zögerte zwar
erst, konnte nicht verstehen, dass ich das wollte, stimmte dann aber zu.
Nachdem ich ihr erklärte, dass es für Tom nicht zumutbar ist, den ganzen Tag
durch diesen Park zu schlendern, dass es seine Kraft übersteigen würde, aber es
in diesem Fall um Anne geht, verstand sie mich.
Wir fuhren und es
waren 3 herrliche Tage. Selbst Nele, die inzwischen schon fast 13 war, hatte
einen unglaublichen Spaß. Sie war viel zu erwachsen geworden für ihr Alter,
ihre Vernunft und ihr Verständnis für
das Leben schockierten mich manchmal. Wo war das Kind in ihr geblieben? Doch
hier kam es wieder. Sie erinnerte sich
wieder daran, dass sie hier gewesen war, als sie 3 Jahre war, erkannte den
Drachen im Schloss wieder und ich sah das Glück in ihren Augen. Als wir uns die
nächtliche Parade ansahen, als Peter Pans Glöckchen durch die Luft schwebte,
konnte ich die Tränen in ihren Augen sehen. Sie war unsagbar glücklich.
Anne war von den
vielen Eindrücken fix und fertig. Sie konnte gar nicht genug bekommen, wollte
alles wieder und wieder erleben und machte die Feststellung, dass wir das gar
nicht konnten. Nach 2 Tagen hatten wir alles in den Park erlebt, na ja, fast
alles. Aber wir hatten alle genug. Ich schlug vor, doch noch die paar Kilometer
bis Paris zu fahren. Klar, dass da alle dabei waren. Auch meine Schwester war
noch nie in Paris gewesen. Was ich mir dabei gedacht hatte, weiß ich nicht: ich
mit einem nagelneuen T4 Bus in Paris! Mir graute bei dem Gedanken an die
Fahrweise der Pariser. Allein der 6-spurige Kreisverkehr am Arc de Triomphe war
ein Alptraum. Aber wir wagten es uns. Ich fühlte mich so stark. Schließlich
hatte ich es bis hierher geschafft! Und wir machten eine Stadtrundfahrt.
Weniger weil wir das wollten, einfach weil wir den Eifelturm nicht fanden.
Dafür sahen wir einige der berühmten Bauwerke: den Notre Dame, den Louvre,
fuhren die Champs-Elysees entlang – bis ein idiotischer Moped Fahrer uns rechts
überholen wollte und nicht bedachte, dass ich rechts abbiegen wollte. Die Tür
meines Busses war hin. Der Mopedfahrer, strauchelte, fuhr aber weiter und
winkte – ihm war nichts passiert. Völlig geschockt saß ich hinter meinem
Lenkrad. In Deutschland hätte sofort
jeder die Polizei geholt. Aber was hätte es mir denn genützt? Ich verstand kein
Wort Französisch, der Mopedfahrer war weg – Ce las vie, so ist das Leben.
Sofort machte ich mir Sorgen, was würde das wieder kosten, was würde Tom sagen,
was mein Freund, von dem ich mir den Bus geborgt hatte? Doch dann holte ich
tief Luft. Nein! Es war passiert, na und?! Jetzt und hier denke ich nicht mehr
daran, ich lasse mir nicht die Laune von meiner Angst und meinen Gedanken
verderben. Hier wollte ich nur die Stadt genießen. Und es funktionierte.
Wir bestiegen den
Eifelturm und Paris lag uns zu Füßen. In dem Stadtführer lasen wir nach, was
wir sahen. Gerne wäre ich durch den Louvre geschlendert und hätte mir all die berühmten
Gemälde angesehen. Aber mit dem Wissen, dass es für Anne unendlich langweilig
sein würde, verwarf ich den Gedanken.
Dann fuhren wir
wieder Richtung Heimat.
Meine Schwester
war richtig froh, diese Fahrt mit uns unternommen zu haben. Es hatte ihr Spaß
gemacht, mit mir und den Kindern rumzuziehen. Auch das Schlafen im Bus war gar
kein Problem, wir hatten genügend Platz und kamen uns vor wie Zigeuner,
Zeitvergessen und ohne Sorgen.
Die
Schuleinführung war einfach herrlich. Ich war so stolz auf meine kleine
Tochter, die so groß geworden war. Wo waren die Jahre hin? Ganz
selbstverständlich stellte sie sich vor die ganze eingeladene Besucherscharr,
hielt eine kleine Rede und bedankte sich. Ja, ich hatte wirklich allen Grund,
stolz auf sie zu sein.
13.
Der Herbst
war angebrochen, die Kinder gingen in die Schule und unser Leben drohte fast
„normal“ zu sein, als ich mich eines Tages in einem Alptraum wieder zu finden
schien. Ich war ziemlich zeitig unterwegs, um den Geschäften meine Version des
Herbstes zu verpassen. Da rief Bianca an. Sie war Buchhalterin in Toms
Geschäft.
Ich mochte
sie, ohne dass man behaupten konnte, wir wären so was wie Freunde. Sie war
Buchhalterin mit Leib und Seele, und von gnadenloser Ehrlichkeit, dass sie sich
regelmässig mit Ihrem Chef anlegte, was
sie aber nicht zu stören schien. Anstatt eine Bemerkung runterzuschlucken, wie
es sicherlich dem Chef gegenüber klüger wäre, sprach sie aus, was sei dachte.
Und auch wenn
ich manchmal nicht fassen konnte, wie man so undiplomatisch sein konnte,
bewunderte ich sie auch teilweise dafür.
Sie redete
zwar nicht viel, aber wenn wir ins erzählen kamen, konnte sie urkomisch sein.
Ich weiß auch
nicht, warum sie mich an diesem Morgen anrief. Vielleicht hatte sie, auch wenn
sie nicht davon sprach einen Draht zu mir, den ich bis dahin nie gesehen hatte.
Sie heulte
und konnte keinen zusammenhängenden Satz sprechen. „Ich komm nicht.“, brachte
sie hervor.
„Was ist denn
los?“, wollte ich wissen. Das etwas unglaubliches passiert sein mußte, war aus
ihrem unzusammenhängenden Gerede rauszuhören
Sie
schluchzte. „Hast du’s noch nicht im Radio gehört?“ Ein Schauer überlief mich
und ich hatte ein schreckliches Vorahnung. „Er… er hat sie erschlagen, überall
ist Blut, er ist weg… das Schwein…“ Sie schluchzte wieder und ihre Stimme
drohte sich zu überschlagen. „Sag nichts zu den anderen… sie ist im
Krankenhaus. ich weiß nicht, ob sie überlebt…“
Plötzlich
schien ich gefangen in den wirren Verwicklungen von Romanen, die ich nicht
lese, weil ich mich fürchte, oder Filmen, die ich ganz schnell wegschalte, weil
sie einfach schrecklich sind.
Warum sie an
diesem Morgen bei ihrer Mutter vorbeischauen wollte, hätte sie gar nicht
beantworten können. Es war so ein Impuls, ein Gefühl, das man manchmal verspürt
und nicht beschreiben kann.
Und schon als
sie die Treppe hinauflief, vorbei an der Wohnung ihrer Großmutter, war da so
ein Ziehen in der Magengegend und sie
meinte, zu sich selbst, dass sie vielleicht doch hätte frühstücken sollen. Aber
vielleicht könnte sie das ja gleich mit ihrer Mutter tun.
Hoffentlich
war sie da. Bianca hatte den Schuppen offen stehen sehen und das war eigentlich
immer ein Zeichen dafür, daß jemand mit dem Auto weggefahren war. Aber vielleicht war ihr Stiefvater ja nicht
da und sie konnte es sich mit ihrer Mutter gemütlich machen. Sie mochte ihn
nicht. Und sie wußte warum: Er war einfach nicht gut zu ihrer Mutter.
Doch warum
war es überall so still? Und die Tür – nur angelehnt?
Sie sah die
Blutspritzer auf dem Boden der Küche und rief nach ihrer Mutter. Wo hatte die
denn nur wieder den Verbandskasten? Sicher suchte sie ihn überall. War sie
vielleicht unten im Schuppen gewesen und Bianca hatte sie gar nicht bemerkt?
Rufend lief sie durch die Wohnung. Im Wohnzimmer war noch mehr Blut.
Und da
begriff sie ihr Gefühl vom Morgen, traute sich kaum zu atmen und ein
fürchterliche Ahnung stieg in ihr hoch. Hier hatte sich niemand in den Finger
geschnitten. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper bis hoch ins Gesicht und ihre sonst schon immer blasse
Gesichtsfarbe nahm graue Töne an.
Hatte ihre
Mutter nicht immer Angst gehabt vor ihrem Mann? War sie nicht erst letzte Woche
bei ihr gewesen, um sich Bianca
anzuvertrauen, sich Trost und Hoffnung zu holen?
Leise – auf
Zehenspitzen – schlich sie weiter in Richtung Schlafzimmer.
Stöhnend und
Röchelnd fand sie ihre Mutter in ihrem eigenen Blut liegend.
Wegen einer
Nichtigkeit, hatte ihr Mann so lange mit einer Axt auf sie eingeschlagen, bis
sie mit gebrochenem Schädel liegengeblieben war.
Bevor sie all
die Telefonate führte, die sie nun führen mußte, hatte sie sich zu ihr runter
gebeugt, sie gestreichelt und immer wieder „Mama“ geflüstert. Und es schien,
als ob sie sie gehört hätte.
Ich konnte
nichts sagen. Was sollte man auch dazu sagen.
Ich fühlte,
was sie gefühlt hatte, spürte die Angst und die Einsamkeit, als sich der
Hubschrauber mit ihrer Mutter entfernte, spürte den Hass, als die Polizei
Spuren sicherte und immer wieder fragen stellte.
Aber ich
konnte sie nicht trösten. Ich wußte einfach nicht, was ich sagen sollte und wie
ich es sagen sollte.
Wie sollte
man da Trost spenden? Wie sollte man das verstehen? Ich fand keine Worte. Aber
vielleicht war ihr das Trost genug – mein Unverständnis. „Bianca, soll ich
kommen? Brauchst du mich?“ Auch wenn wir nie so enge Freunde waren, dass ich so
was hätte anbieten können, aber es war mein erster spontaner Gedanke.
Sie tat mir
unendlich leid.
Mehrmals an
diesem Tag rief sie mich noch an. Sie hatten ihn gefunden. Er hatte sein Auto
vor die Schmalspurbahn im Nachbarort gefahren und sich selbst gerichtet.
Bei dem Gedanken,
wie viele Menschen er damit noch in Gefahr gebracht hatte, wurde mir ganz
schlecht.
Noch
schlechter wurde mir allerdings, als mir klar wurde, dass ich nicht in einem
Film war, dass ich nicht mit der Heldin eines Romans telefonierte, sondern dass
das tatsächlich passierte. Dass so etwas Menschen traf, die doch einfach nur
lebten, die frühs aufstanden, zur Arbeit gingen und sich abends wieder
hinlegten.
Es konnte
jeden treffen. Das Schicksal suchte sich einfach seine Opfer
Ich spürte
die alten Ängste in mir aufsteigen und alle Kurerfolge waren hin.
Ängstlich
verkroch ich mich in mir selber. Ich sprach zwar mit Tom darüber, aber die
Angst, die in mir erwacht war, Angst vor unbekannten Bedrohungen, konnte er mir
nicht nehmen.
Ich
entwickelte ganz neue Ticks: Wenn ich abends oder frühs allein in den
Geschäften war, und mich die Dunkelheit zu verschlucken drohte, ging ich erst
in alle Räume, um zu sehen, ob da niemand war.
Ich brauchte
lange, um damit fertig zu werden, Vertrauen in meine gewohnte Umgebung zu
setzen, mich an das zu erinnern, was ich doch in der Kur gelernt hatte: Ich
kann meinem Schicksal nur bedingt entgehen und Angst wird es mir nicht leichter
machen, mein Leben zu leben.
Biancas
Mutter starb nach wenigen Tagen im Krankenhaus. Es war schwer zu sagen:„das ist
besser so.“ Aber die Verletzungen waren einfach so schwer, dass die Ärzte
wussten, dass sie nie wieder so sein würde, wie Bianca sie kannte.
Mich
übermannte immer wieder der Schmerz, es traf mich ganz überraschend wie ein
Blitz, wenn ich sie in ihren schwarzen Sachen sah. Sie sprach nie viel,
manchmal, weinte sie und wir redeten, aber das war ehr weniger.
Aber wir
telefonierten.
Abends, wenn
auch sie die Stille aufzufressen drohte, rief sie mich an. Wir tranken und
redeten, lachten und trauerten. Ich hatte ihr immer wieder geraten, zu einem
Psychoanalytiker zu gehen. Ich hatte ja gemerkt, wie mir das geholfen hatte,
aber sie lehnte das schlicht ab. Ich wusste, dass ich ihr nicht helfen konnte,
aber ich wusste auch, dass ich nie ein Gespräch, das sie wollte abgewürgt hätte
und dass ich ihr immer das Gefühl geben wollte, da zu sein, wenn sie brauchen
würde. Für mich war nie jemand da und ich wusste, dass mich das verändert
hatte, offener machte für Probleme anderer.
14.
Toms
monatliche Untersuchungen ergaben, dass der Kalzium und Phosphatwert permanent
zu hoch war. Trotz Ernährungsumstellungen bekamen wir das einfach nicht in den
Griff. Tom hatte andauernde Knochenschmerzen. Auch wenn die Ärzte mal wieder
wussten, was er hatte, sagten sie nichts, sondern überschütteten ihn mit neuen
Untersuchungen. Sie äußerten keine Vermutungen. Es wurde eine Computer- und
Kernspintomographie durchgeführt. Immer öfter war die Rede von einem
Parathormon. Welche medizinischen Kenntnisse musste ich mir eigentlich noch
aneignen, um all die Dinge zu verstehen, die geschahen? Und ich wollte sie doch
unbedingt verstehen!
Die
Untersuchungsergebnisse gingen wieder zur Nephrologin und dem Transplantationsteam.
Sie stellte die Diagnose, sie traf die Entscheidungen.
Die Diagnose:
Nebenschilddrüsenüberfunktion. Ich hatte keine Ahnung, was das wieder war, oder
woher das gekommen war. Was hatte er
denn noch alles für Organe in sich, die von der Erkrankung betroffen werden
können?
Sie überwies
uns in eine andere Klinik, in der es eine Kapazität auf diesem Gebiet gab. Dass
wir um diese Klinik zu erreichen 2,5 Stunden fuhren, interessierte sie dabei
nicht. Am Anfang war ich echt erbost. Ich empfand es als Zumutung so weit
fahren zu müssen. Gab es denn keinen Arzt in unserer Nähe, der schon mal was
von Nebenschieldrüsen gehört hatte. Gedanklich unterstellte ich sogar, dass das
„Vetternwirtschaft“ sei.
Im nach
hinein war ich dankbar und entschuldigte mich
- wiederrum rein gedanklich.
Wir bekamen
einen Sprechstundentermin und fanden einen jungen, äußerst sympathischen Arzt
vor. Er untersuchte Tom und kam zu der eindeutigen Diagnose, dass die
Nebenschilddrüsen entfernt werden müssen.
Die
Nebenschilddrüsen sind winzig kleine Organe, die etwa 5 mm groß sind. Man hat 4
Stück davon, die normalerweise hinter der Schilddrüse sitzen. Bei Tom waren sie
erkrankt und vergrößert. Die Ursachen für die Erkrankung lag vermutlich in
seiner Niereninsuffizens. Es war eine häufige eintretende Nebenerscheinung. Im
Grunde ist das ganze ein gutartiger Tumor.
Er würde Tom
3 der vier Organe entnehmen. Das kranke Gewebe der vierten entfernen und die
verkleinerte wieder einsetzen.
„Und was
passiert, wenn das zurückgelassene Organ nicht mehr arbeitet? Irgendeine
Funktion wird es doch haben, die dann meinem Körper fehlt?“
„Die
Nebenschilddrüsen regulieren ihren Kalzium und Phosphathaushalt. Da ihre
einfach zuviel arbeiten, müssen sie entfernt werden. Sie entziehen ihren
Knochen Kalzium, was verheerende Wirkungen haben kann. Ihr Knochengewebe ist geschwächt
und die Knochen könnten einfach brechen. Das Gewebe der entnommen Drüsen
wird eingefroren und falls die vierte
nicht mehr arbeitet, wird es ihnen in die Muskulatur des Unterarmes eingesetzt.
Sie nimmt dann ganz normal ihre Arbeit auf.“ Ich konnte das nicht fassen. Ich
kam mir vor wie in einem Roman von Robert Merle. So einfach ging das?
Er würde Toms
Hals aufschneiden, am unteren Halsrand, so dass man die Narbe möglichst später
nicht mehr sah und er versicherte uns, dass man sie nicht mehr sehen
würde.
Dann
erfolgten die Aufklärungen über möglichen eintretenden die Risiken.
Falls er
nämlich die Nebenschilddrüsen dort nicht vorfinden würde, würde er das
Brustbein spalten und den Brustkorb öffnen. Der Eingriff könnte eine
Schieldrüsenunterfunktion hervorrufen - aber die Wahrscheinlichkeit betrage nur
2%. Und mit Stimmbandverletzungen musste ein Prozent der operierten rechnen.
Irgendwie
schockierte mich das schon, aber der Arzt rasselte das so runter, dass ich mir
sicher war, dass unter seiner Hand so was noch nicht passiert war.
„Der Wert des
Parathormons muss nach der Operation auf 50% des Ausgangswertes zurückgehen.
Wir werden das noch unter der Narkose messen können und je nach dem entscheiden,
ob wir mehr Gewebe entfernen müssen. Machen sie sich keine Sorgen. Wir haben
diese Operation schon sehr oft durchgeführt. Und auch wenn es Risiken gibt, sie
sind sehr unwahrscheinlich.“
Nach diesem
Gespräch war mir klar, warum man uns hierher geschickt hatte. Klar, die
Operation konnte jeder Chirurg durchführen. Doch nur Kliniken und Ärzte, die
darauf spezialisiert waren, waren in der Lage, diese Messungen durchzuführen.
In anderen Kliniken hätte er möglicherweise mehrfach operiert werden müssen.
Tom zog also
wieder mal in ein Krankenhaus ein, wieder ein anderes.
In den
letzten 3 Jahren hatten wir so viele Krankenhäuser gesehen, Sprechstunden
besucht, dass ich über die Möglichkeit nachdachte, eventuell einen
Krankenhausführer zu schreiben. Ich stellte mir das recht interessant vor. Und
so was gab es bestimmt noch nicht. Tom bog sich vor Lachen. Ich habe keine
Ahnung, ob das Galgenhumor war, oder ob er die Idee wirklich lustig fand. Als
ich ihn alleine zurückließ, meinte er scherzend, er werde sich schon mal
Notizen über die Schwestern und das Essen machen.
Über die
Frage der Unterbringung konnte er sich eigentlich nie beschweren, er bekam auf
Grund seiner Maschine und Utensilien immer ein Einzelzimmer.
Auch wenn der
Arzt souverän auf mich gewirkt hatte, machte ich mir Sorgen. Wenn Tom nun zu den 1% gehörte und seine
Stimmbänder verletzt wurden? Wenn der Tumor doch bösartig war?
Ich hasste es
inzwischen, mir Sorgen zu machen. Es zog mich so zu Boden und ich fühlte mich
ohnmächtig und klein. Und trotzdem machte ich mir Gedanken, dachte an nichts
anderes.
Sprechen
konnte er nach dem Eingriff nicht, das übernahm die Schwester. Hatten sie doch
die Stimmbänder verletzt? Aber sie beruhigte mich. Es war alles gut verlaufen.
Die Werte hätten sich normalisiert, man beobachte das jetzt. Morgen könnte Tom
auch wieder sprechen.
Ende des
Gespräches.
Ich hatte
mich daran gewöhnt allein zu sein, die Probleme der Kinder allein zu lösen.
Am Wochenende
fuhren wir hin. Wir fuhren schon früh los, weil wir den Tag auch nutzen
wollten, wir hatten schließlich 2 ½ Stunden zu fahren. Wir verbrachten den Tag
in einem Wildgehege, das direkt neben der Klinik war. So versuchte ich, den
Kindern den Tag nicht allzu langweilig werden zu lassen. Ich konnte mich gut erinnern,
wie schlimm ich als Kind immer Besuche im Krankenhaus gefunden hatte. Ich
lachte, machte Späße, tobte mit ihnen rum, war liebevoll zu Tom und war gar
nicht ich. Ich versteckte mich hinter mir. Für mich war schließlich später noch
Zeit. Und meine wahren Gefühle hatte ich inzwischen gut verstecken gelernt.
Hätte ich ihn etwa mit meinen Ängsten, meiner Müdigkeit und meiner eigenen
Hoffnungslosigkeit belasten sollen? Ich empfand das als unfair. Ich wollte ihm
nicht das Gefühl geben, dass ich mit der Situation nicht klar kam. Im Grunde
kam ich ja klar. Ich war nur so allein!
Tom musste
noch 2 Wochen dort bleiben. Man wollte die Werte prüfen, wollte sicher gehen,
dass die Operation gelungen war und der Parathormonwert nicht wieder anstieg.
Also fuhr ich noch zweimal hin.
Der Wert
hatte sich wieder normalisiert und blieb auch in einem normalen Bereich. Der
Arzt war wirklich die lange Anfahrt wert gewesen.
15.
Toms Haut war
wirklich schlimm. Man hatte bei dem Termin in der Hautklinik ja nichts machen
können. Die Erkrankung war da und würde nicht geheilt werden können. Aber es
musste unbedingt eine Linderung geschaffen werden. Ich weiß nicht, wieviel
Schafanzüge ich inzwischen weggeschmissen hatte, weil er sie nachts beim
Kratzen zerrissen hatte und sie einfach nicht wieder zu reparieren waren.
Selbst meiner Schwiegermutter, der ich inzwischen diese Stopfarbeit aufgebürdet
hatte, gab auf. Lieber kauften wir beide neue. Ich weiß auch nicht mehr,
wieviel Nächte ich ihn gestreichelt und gekratzt habe, um ihm einigermaßen
Linderung zu verschaffen. Dieses Geräusch war für mich inzwischen zum Grauen
geworden. Vielleicht weil mein Unterbewusstsein mit dem Kratzen Schlafentzug
verband.
Und ich
konnte mich nie wieder davon befreien, wenn ich höre, wie sich jemand kratzt, werde
ich fast verrückt und muss mir wirklich innerlich gut zureden, um nicht
in einem hysterischen Anfall zu enden
Aber es ging
ja weniger um mich. Für Tom sollte eine Erleichterung geschaffen werden.
Seine Mutter
ging mit ihm zu einem Heilpraktiker, die anderen Ärzte hatten offensichtlich
versagt. Durch eine Bekannte war sie auf ihn gestoßen. Ich weiß genau, mit mir
wäre er da nie hingegangen. Also war ich ganz froh, dass seine Mutter ihn
dorthin schleppte. Der untersuchte und stellte eine haarsträubende Diagnose,
die mit der Meinung der Hautärzte nichts gemein hatte. Aber letztlich war es
egal, er riet zu einen Saft, der täglich
frisch zubereitet werden sollte: Rote Beete, Sellerie, Apfel. Und wenn der
wirklich half, dann war die Diagnose doch erstmal egal. Toms Mutter presste
jeden Tag den frischen Saft. Sie wollte das gerne tun. Und ich hatte keine
Kraft mehr, mich gegen irgendwas aufzulehnen. Wenn sie das wollte, bitte. Ich
würde keine Hilfe mehr ablehnen. Tom war es egal, ob ich das machte oder nicht.
Dann hatte ich doch wohl auch das Recht, dass es mir egal war. Mir fiel wieder
die Psychologin in der Kur ein: „Lehnen sie angebotene Hilfe nicht ab. Sie
können nicht alles alleine schaffen!“ Daran hielt ich mich. Und obwohl sie das
Gemüse wochenlang kaufte und presste – geholfen hat es nicht. Leider.
Die Flecken
waren nun auch an seinem Kopf aufgetreten, hinter den Ohren und an und in der
Nase. Dagegen musste unbedingt was unternommen werden. Er fuhr in eine HNO
Praxis. Dort verfügte man sogar über die Möglichkeit, kleine Operationen selber
durchzuführen.
Man brauchte
nicht lange um festzustellen, dass es zu extremen Verwachsungen und
Vernarbungen gekommen war, die unbedingt entfernt werden mussten. Stellenweise
bekam er durch das eine Nasenloch schon keine Luft mehr. Die Vernarbungen waren
durch das Kratzen aber so extrem, dass es ein echtes Problem war, die wuchernde
Haut wegzuschneiden. Tom, der nur einen Lokalanästhesie bekommen hatte, spürte
jeden Schnitt, die Tränen liefen ihm übers Gesicht, aber die Ärzte konnte das
nicht wirklich erweichen. Völlig fertig lag er in einem der Aufwachräume, als
ich ihn abholte. Die Nase war zwar wieder symmetrisch zurechtgeschnitten, aber
die Schmerzen müssen unbeschreiblich gewesen sein.
Bei der
nächsten Vorstellung in der Dialysepraxis verschrieb man nach Konsultation mit
den HNO Ärzten und der Transplantationsklinik ein Immunsupressiva, dass
Cortison enthielt.
Zum einen
wollte man seine Körperreaktion auf diese Mittel testen, zum anderen wollte man durch dieses
spezielle Medikament den Juckreiz wenigstens zum Teil unterdrücken und die
extremen Hautwucherungen unter Kontrolle bringen. Das dieses Mittel Kortison
enthielt, erfuhren wir erst später. Tom hatte sich abgewöhnt, die
Packungsbeilagen zu lesen. Anfangs hatte er das noch getan, aber je mehr man
las, desto kranker fühlte man sich.
Als wir
mitbekamen, dass es Kortison enthielt, las ich erstmal nach, was das eigentlich
ist. Ich hatte soviel negatives über Kortison gehört, dass ich es eben wissen
wollte. Für mein eigenes Ekzem verwendete ich auch stellenweise Kortisonhaltige
Salben, die mir allerdings sehr gut halfen. Aber jetzt wollte ich es doch
genauer wissen. Und ich fand da einiges:
‚Kortison ist
eigentlich kein Medikament. Es ist ein körpereigenes Hormon, das in der
Nebennierenrinde gebildet wird.
Das
Nebennierenrindenhormon erfüllt im menschlichen Körper wichtige, teilweise
lebenswichtige Aufgaben. Es wird vermehrt bei Stress ausgeschüttet und hilft
auch mit Krankheiten wie Entzündungen besser fertig zu werden. Gleichzeitig
reguliert es Stoffwechselvorgänge und hemmt Allergien.
Kortison
sollte also zur Linderung und Heilung eingesetzt werden. Andererseits sind bei
diesem künstlich nachgekautem Hormon auch viele Nebenwirklungen bekannt.’
Mit einer Steigerung
des Appetits und Einlagerung von Wasser im Gewebe hatten wir keine Probleme.
Aber bald nach der Einnahme kam es zu Störungen
des Zuckerstoffwechsels, Tom erkrankte an Diabetes. Am Anfang wollte und
konnte ich es gar nicht glauben. Doch die Werte deuteten immer mehr darauf hin.
Als er dann mit den Teststreifen nach Hause kam, sah ich es selber. Ich
beschäftigte mich mit dem „Zuckerbesteck“, dem Zuckertester und dem Reco-Pen,
der Spritze für Zuckerkranke.
Ich las und
las und wurde einfach nicht schlau aus dieser Anleitung. Auch die Einstellung
blieb mir ein völliges Rätsel. Man musste die Dosierung auf einer Skala
einstellen und dann einfach mittels eines Knopfes in die Haut jagen. Der
Einstich war so minimal, dass Tom wirklich nichts davon merkte. Ob ich ihm
dabei allerdings auch Insulin zuführte, das war mir nicht wirklich klar. Man
konnte das auch nicht wirklich irgendwo sehen, da die Menge so gering war und
die Ampullen nicht nach jedem Einstich gewechselt werden mussten. Krampfhaft
versuchte ich mich zu erinnern, wie das Ding bei meiner Freundin funktionierte.
Sie war vor einigen Monaten auch daran erkrankt und hatte es mir genau erklärt
und vorgeführt. Aber ich erinnerte mich einfach nicht. Bei ihr sah das alles so
einfach aus. Warum stellte mich das vor solche Probleme?
Aber
eigentlich waren wir nur noch verzweifelt. Die Haut wurde nicht besser, der
Blutdruck spielte verrückt, er hatte Zucker… Ich glaube, da würde jeder
verzweifeln.
Nach
Absprache mit der Dialysepraxis und dem Transplantationsteam wurde das
Medikament abgesetzt und mit dem Absetzen änderte sich sogleich vieles. Der
Blutdruck wurde wieder normal, der Insolinwert auch. Von einer dauerhaften
Schädigung konnte man nicht ausgehen und doch hatte ich immer wieder Angst,
dass es wieder beginnen könnte. Klar, man kann auch mit Zucker leben, lange
leben. Aber muss Tom wirklich alles kriegen, was es gibt?
16.
Wieder ein Termin
in der Transplantationsklinik. Ich war so mürbe, ich wollte keinen mehr sehen,
wenn nicht endlich ein Termin zustande kam. Tom war vor 4 Jahren erkrankt. Vier
Jahre, in denen wir einen Alptraum nach dem anderen erlebten.
Ich sagte meinen
Schwiegereltern, sie sollen zu Hause bleiben, ich würde mitfahren. „Ich habe
die Nase voll. Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich mal richtig auf den
Tisch haue. Das geht doch so nicht weiter! Tom wird immer kränker und keiner
macht was. Warum fangen die nicht endlich an? Diesmal bekomme ich meine
Antwort.“
Ich dachte an
meine Telefonate mit Gabi. Auch sie konnte nicht verstehen, warum nicht
transplantiert wurde. Und sie war Ärztin. Es konnte also nicht nur an mir,
meiner Ungeduld und meinem medizinischen
Unverstand liegen.
Sie hatte mir auch
geraten, doch mal nachzufragen, wenn ich es nicht verstand. „Das kann doch
keiner falsch verstehen.“, hatte sie gesagt. „Du willst doch auch nur, dass es
Tom besser geht. Und warten bringt doch wirklich nichts. Sie hatten wirklich
viel Zeit, ihn auf die Transplantation vorzubereiten. Wenn es ernsthafte
Bedenken gibt, dann solltet ihr wissen welche, um sie aus dem Weg zu räumen.
Aber idealere Vorraussetzungen als bei euch gibt es doch wirklich nicht: ihr
bringt die Niere auch noch mit! Anders wäre es, wenn ihr auf ein Transplantat
warten müsstet. Und auch dann, wenn es da wäre, müsste auch sofort
transplantiert werden und man kann nicht darauf warten, dass es sein
Gesundheitszustand zulässt. Also – frag endlich!“
Das hatte mir Mut
gemacht.
Die gesamte Fahrt
dachte ich darüber nach, was ich sagen wollte. Ich wusste, dass Tom das nicht
wollte, aber meine Geduld, meine Kraft war am Ende. Ich konnte nicht mehr. Und
ich würde mir jetzt Luft machen.
Es war wie immer,
man ließ uns warten. Wie immer. Die
anderen Ärzte steckten bedächtig die Köpfe zusammen, wie immer, die Oberärztin
sagte nichts, was uns weitergebracht hätte – auch wie immer.
Ich nahm meinen
ganzen Mut zusammen. „Ich habe da mal eine Frage.“, begann ich. Die Ärztin
schaute über ihren Brillenrand zu mir und musterte mich. Sie hatte mich sicher
noch nie wahrgenommen. War ich doch die Frau, die ihrem Mann keine Niere
spenden wollte. „Können sie mir, oder uns erklären, worauf wir eigentlich
warten? Womit haben sie ein Problem?“ „Das erkläre ich jedes Mal.“, fuhr sie
mich von oben herunter an „Solange nicht alle Risiken ausgeschlossen sind,
transplantieren wir nicht. Wir können es uns nicht leisten, durch irgendwelche
Unachtsamkeiten oder Ungeduld, die gesunde
Niere ihres Schwiegervaters zu verlieren. Wir haben nur eine Chance.“
Herausfordernd sah sie mich an.
Nein, damit gab
ich mich nicht zufrieden. „Alle Risiken ausschließen? Wie soll denn das bitte
gehen? Wenn sie alle Risiken ausschließen wollen, bräuchten sie nicht mehr zu
transplantieren. Dann wäre er nämlich gesund. Was muss denn noch alles kommen,
damit sie endlich anfangen? Wir haben doch inzwischen wirklich alles
durchgemacht was geht, von den unzähligen Bauchfell Entzündungen,
Wasserüberschuss im Körper, Nebenschieldrüsenoperation, Kathedereinsetzen,
Hauterkrankungen, Diabetes – und da zähl ich nur die großen Dinge auf. Ich rede
nicht von den kleinen Problemen, die Nacht für Nacht, Tag für Tag unser Leben
ganz bizarr bereichern. Was noch? Was
müssen wir noch erleben, bis sie endlich transplantieren? Sein Zustand wird
doch nicht besser, bloß weil sie länger warten. Ich verstehe nicht, was sie
hier tun.“
Inzwischen hatten
alle aufgehört, geschäftig in ihre Papiere zu sehen, oder zu schreiben. Sie
sahen mich an, sahen die Tränen in meinen Augen, die Verzweiflung.
Ja, ich war am
Ende meiner Kraft. Aber ich hatte gelernt, nicht mehr zu schlucken, sondern
endlich mal was zu tun.
Voller Erwartung
sahen alle zur Chefärztin, was sie erwidern würde.
„Frau Schneider,
wir wollen doch transplantieren. Verstehen sie uns da nicht falsch, aber wir
befürchten, dass wir einen Fehler machen, wenn wir es wagen und ihr Mann nicht völlig gesund ist.“
„Er wird nicht
völlig gesund, nie wieder. Das wissen sie doch genau. Und ich kann eben nicht
verstehen, warum sie es immer wieder verschieben. Sie müssten doch besser
wissen als ich, dass es nicht mehr besser wird, dass jeden Tag neue Erkrankungen
hinzukommen können.“
Sie holte tief
Luft, stand auf und nahm Tom mit ins Nebenzimmer. Völlig irritiert sah ich mich
um. Was sollte das denn?
Die anderen im
Raum standen auf. Mit der Ärztin war auch die Spannung aus dem Raum
verschwunden. Ganz offensichtlich war sie nicht nur auf dem Papier die
Chefärztin. Was sie sagte schien Gesetz zu sein.
Die junge
Assistenzärztin lächelte mich an. Hatte ich es richtig gemacht? Als Tom mit der
Nephrologin wieder den Raum betrat, war fast so was wie ein Lächeln auf ihrem
Gesicht.
„Wir
transplantieren.“
„Frau
Schmidt, rufen sie bitte in der
Hautklinik in der Erfurter Straße an, wir schicken ihn sofort hin, die sollen
einen stationären Termin machen, damit sich die Wunden schließen, wir können
nicht bei offenen Wunden transplantieren. Die Gefahr einer Infektion wäre viel
zu hoch. Wir schließen uns mit der Abteilung kurz und sobald der Abschluss der
Behandlung in Sicht ist, werden wir einen Termin festsetzten. Alles Gute, auf Wiedersehen.“
Damit war sie aus
dem Raum verschwunden. Die anderen schauten sich genauso entsetzt an, wie ich
Tom ansah. Was war das denn nun? Aber keiner hatte Zeit, was zu sagen, sie
stürzten alle hinter ihr her.
Wir fuhren zur
Hautklinik. Wiedermal. Es dauerte auch nicht lange, bis wir uns auf einen
Termin einigen konnten. Am liebsten hätte ich Tom gleich dagelassen, aber
einige Sachen wollte er ja doch verständlicherweise erst noch klären.
Toms Mutter war
begeistert von dem Auftritt, den ich hingelegt hatte und davon, dass jetzt
endlich was in gang zu kommen schien. Auch sie war müde, konnte die endlosen
Untersuchungen und Erkrankungen ihres Sohnes nicht mehr ertragen. „Wir hätten
dich da viel öfter mit hinnehmen müssen.“, war ihr abschließender Kommentar.
Es war März, als
ich ihn in die Klinik brachte.
Es war ein altes
Gebäude, in dem die Renovierungs- und
Umbauarbeiten als nur mäßig gelungen eingeschätzt werden mussten. Aber das neue
Klinikgebäude war schon im Bau. Ein gemeinsames Bad für alle Patienten schien
mir in einer Klinik mit diesem Profil völlig indiskutabel. Aber es war nun mal
so und Tom musste sich mit den Gegebenheiten abfinden. Er bekam auf Grund
seiner Dialyse wieder ein Einzelzimmer und war darüber auch richtig froh. Und
trotzdem vermittelte das Haus ein
unglaubliches Gefühl - mit seinen alten Gängen und dem Hörsaal, hatte man das
Gefühl, dass hier gelernt und geforscht wurde, dass Medizin gelebt wurde und
man glaubte, Hypokrates schleiche selber durch die Gänge und versuche die Ärzte und die, die es mal werden
wollten zur Vorsicht und Sorgsamkeit gegenüber ihren Patienten zu mahnen.
Tom erzählte oft,
dass Studenten kamen und sich seine Wunden ansehen sollten, um eine Diagnose zu
stellen. Keiner kam auf die Spur, die Ursache und die einzige Heilung. Obwohl
alle wussten, dass er Diealysepflichtig war, sah keiner, dass seine einzige
Heilungschance eine Transplantation war. In einer derartigen Form, so intensiv
war die Krankheit so selten, dass Tom gefragt wurde, ob man das Erscheinungsbild
für ein medizinisches Fachbuch fotografieren dürfte. Halb scherzend erzählte er
davon, dass er nun seine „Modell –Karriere“ starten würde.
Wir fuhren jedes
Wochenende zu ihm. Bei einer Anfahrtszeit von 1,5 Stunden wäre es nicht möglich
gewesen, das öfter zu tun. Irgendwie erholte Tom sich auch von seinem
Berufsstress, der auf Grund seiner Krankheit viel zu hoch war, er war zwar
genauso ernst und nachdenklich wie immer, aber er fühlte sich rein körperlich
viel besser. Wir verbrachten die Nachmittage in den Einkaufszentrum und
Eiscafes der Stadt. Er durfte sich frei bewegen und so waren wir wenigstens
nicht die ganze Zeit in seinem Zimmer. Wir verbrachten auch dort Zeit, die
Kinder konnten fernsehen und ich legte mich zu Tom auf Bett.
Man behandelte ihn
neben verschiedenen Medikamenten hauptsächlich mit Bestrahlungen. Er bekam auch
ein neues Immunsupressiva, um den Körper
an das Medikament zu gewöhnen. Nach den ersten Versuchen mit solchen Mitteln
war mir nicht wohl bei dem Gedanken. Trotzdem war mir klar, dass man ein Präparat finden musste, dass er vertrug. Nach
der Transplantation musste er es ja ein Leben lang nehmen, um die Abstoßung des
fremden Organs zu unterdrücken. Wer weiß, was sich mit diesem Mittel für neue Nebenwirkungen
einstellten. Aber sie blieben aus. Man hatte also das richtige gefunden.
Auch auf die
Bestrahlungen reagierte sein Körper sehr positiv. Der Juckreiz blieb, aber die
Wunden schlossen sich nach und nach. Sechs Wochen lang bekam er täglich UV
Strahlen, zum Schluss bis zu einer Stunde am Stück.
Als er aus der
Klinik entlassen wurde, sah er aus, als käme er von einem Urlaub aus der
Karibik, so braun war er geworden. Wieder ein Termin in der Transplantationsklinik.
Diesmal fuhr ich
nicht mit. Ich hatte ja meinen Standpunkt klar gemacht, außerdem ging es
weniger um mich, als um Tom und seinen Vater. Die Ärzte waren zufrieden mit dem
Ergebnis, dass in der Hautklinik erzielt worden war.
Hoffentlich
wartete man jetzt nicht zu lange, damit Tom die Wunden nicht wieder aufkratzte.
Der Termin wurde
für August festgesetzt – erst drei Monate später! Warum fing man nicht gleich
an? Aber man wollte seine Reaktionen auf das Immunsupressiva auswerten können. Man wollte absolut sicher
sein, dass alles funktionierte, jedes kalkulierbare Risiko sollte
ausgeschlossen werden. Ich wusste, dass ich ungeduldig war, dass ich
Entscheidungen und Taten wollte, aber ich war eben am Ende. Ich wollte wieder
schlafen können – ohne Angst.
Der Sommer kam und
wir hatten keinen Urlaub geplant. Wir hatten einfach Angst, mit Tom könnte noch
was passieren, wenn er aus seinem normalen Trott gerissen würde.
Doch nachdem ich
eine halbe Woche zu Hause war, fiel mir die Decke auf den Kopf. Ich musste weg!
Kopflos fuhr ich
ins Reisebüro, zu der Freundin meiner Schwester und erklärte ihr meine Lage.
Sie verstand mich. Komisch, Fremde verstanden immer besser, als Freunde. Ich
buchte eine Woche Türkei mit den Kindern. Mir war egal wohin, es sollte
preiswert sein und in der Sonne. Alles andere war egal.
Ich weiß nicht
mehr, wie viele nicht verstanden, dass ich alleine fuhr. Aber inzwischen war
ich so gleichgültig gegenüber der Meinung anderer eingestellt, dass es mir
nichts mehr ausmachte. Sollte sie doch reden, ich wusste, dass ich es mir und
den Kindern schuldig war. 2 Tage später fuhren wir. Da wir so kurzfristig
gebucht hatten, flogen wir ab Köln und landeten in Erfurt. Mir war es völlig
egal, dann fuhren wir eben durch die Nacht mit dem Zug. Nele hatte richtig
Angst vorm Fliegen. Sie war ja auch seit 10 Jahren nicht mehr geflogen und Anne
noch nie. Es ging in all den Jahren ja nicht mit Tom. Und die beiden waren
total begeistert – sie fanden es toll. Allein das Strahlen in den Augen meiner
Kinder war es wert, dass ich die Strapazen der letzten Nacht auf mich genommen
hatte. Ich hatte kein Auge zugemacht, während wir durch die Nacht gefahren
waren, aus Angst, wir könnten den Umsteigebahnhof verpassen, oder den Kindern
könnte was passieren. Völlig übermüdet
kamen wir an. Schwitzend und sicher nicht mehr gut riechend brachte uns
der Hotelpage in unser Zimmer, der trug sogar unsere Koffer! Es war ein Traum,
von der ersten Minute an. Als Anne das Zimmer betrat, schrie sie gleich „Wir
haben die Königssuite!“, dabei war es nur ein einfaches Zimmer, aber sie war
überwältigt und Nele und ich auch.
Wir verbrachten
eine herrlich erholsame Woche, wir taten einfach nichts, wir lagen am Pool,
spielten oder waren stundenlang im Wasser. Auch Neles Wunsch nach einem Einkaufbummel
kamen wir nach. Und nicht mal der war stressig. Wenn einer eine Idee hatte,
machten wir es, wenn die anderen auch dazu Lust hatten, oder wir ließen es,
wenn auch nur einer dagegen war.
Ich genoss es
wieder, mich verwöhnen zu lassen, nicht kochen zu brauchen, nicht waschen zu
müssen und schlafen zu können und den ganzen Tag nur für die Kinder da zu sein,
die dafür unendlich dankbar waren.
Als wir nach Hause
flogen, waren wir alle drei richtig traurig.
Meine Eltern
holten uns vom Flughafen ab – Tom hatte keine Zeit. Er war an der Arbeit.
Eigentlich fand ich das total traurig, aber es berührte mein Herz nicht mehr.
War er verärgert, dass ich mir diese eine Woche gegönnt hatte? Oder waren wir
ihm einfach egal? Ich nahm die Tatsache einfach so hin und freute mich, in die
Arme meiner Eltern fliegen zu können.
Die Tage bis zur Transplantation zogen sich hin. Tom
erledigte alle wichtigen Sachen an der Arbeit, wirkte immer hochkonzentriert,
während ich gar nicht richtig bei mir war. Eine Woche vor dem festgesetzten
Termin mussten die Zwei noch mal vor eine Ethik Kommission. Auf Grund eines
neuen Gesetzes, das kurz zuvor verabschiedet worden war, mussten Lebendspenden
sich nochmals einer Kommissionsbefragung unterziehen. Sie setzte sich aus einem
behandelndem Arzt, Psychologen und einem Rechtsanwalt zusammen. Sie sollten
feststellen,
ob die Entscheidung aus freien Stücken getroffen worden war und ob sich kein
Abhängigkeitsverhältnis daraus ergab. Wieder Befragungen, wieder Angst, vor
Ablehnung. Ich konnte diese Ungewissheit, ob es endlich gemacht werden konnte
kaum noch ertragen. Aber die Kommission kam zu dem eindeutigen Ergebnis, dass
keinerlei Bedenken bestand.
Endlich war es
soweit, wir fuhren in die Klinik. Der eigentliche Eingriff sollte in der
Urologie gemacht werden, in dem alten Gebäude, in dem auch immer die Transplantationssprechstunde
abgehalten worden war. Die beiden zogen auf der Wachstation ein. Den Eindruck,
den die Klinik bei meinem ersten Besuch auf mich gemacht hatte, verlor sich
hier vollkommen. Hier war nichts mehr von Düsterheit und den Lebzeiten Robert Kochs
zu spüren. Hier war moderne Medizin zu Hause. Der Urologe aus dem
Transplantationsteam begrüßte die beiden. Es gab nicht viele Patienten, zwei warteten
auf die Transplantation, waren mehr tot als lebendig, einer war transplantiert.
Von anderen wusste ich nicht, warum sie da waren. Die Zimmer waren hell und
freundlich und mit allem medizinischen Details ausgestattet. Für die wenigen
Patienten waren verhältnismäßig viele Pfleger und Schwestern da.
Ich schleppte Tom
den Cycler und das Dialysat in sein Zimmer und hoffte, ihn das letzte mal umhergeschleppt zu haben. Man
legte sie in getrennte Zimmer. Ein wenig schockiert von dieser Tatsache
erklärte mir der Arzt: „Das hat psychologische Hintergründe. Ihrem
Schwiegervater wird es nach dem Eingriff sehr schlecht gehen, auf jeden Fall
schlechter als ihrem Mann, weil der Eingriff für ihn wesentlich schwerer wird.
Ihr Mann soll und darf das nicht sehen, um ihn vor Schuldgefühlen zu bewahren.“
Das leuchtete mir nicht nur ein, ich konnte so viel Weitblick gar nicht fassen.
War ich in meinem Urteil über die Transplantationsärzte ungerecht gewesen?
Ich dachte an Gabi
und ihre Kollegin, die Nephrologin, die wir in der Zwischenzeit kennen gelernt
hatten. Sie hatte uns erzählt, dass es sehr viele Ärzte in Deutschland gibt,
die eine Lebendspende ablehnen, die nicht bereit sind, einen solchen Eingriff
vorzunehmen. Gebunden an ihren Eid sehen sie es als Art eine Verletzung an,
einem gesunden Menschen eine Niere zu entnehmen.
Das Wochenende
verbrachten die beiden hauptsächlich in der Stadt, oder mit lesen, oder einfach
nur mit ihren Ängsten und Erwartungen. Am Montag sollte der Eingriff sein. Die
üblichen Prozeduren, Urin, Dialysatwerte prüfen. Alles verlief völlig normal.
Gespannt warteten
wir auf einen Anruf. Meine Schwiegermutter rief mich an. Die OP war verschoben
worden. Ich zitterte am ganzen Körper. Das durfte einfach nicht war sein! Der
PSA Wert war bei meinem Schwiegervater in einem kritischen Bereich. Man wollte
abklären, um was es sich da handelte. PSA ist die Abkürzung für das prostataspezifisches
Antigen. Es ist ein Eiweiß und wird vor allem von den Epithelzellen der
Prostatadrüsen gebildet und in die Samenflüssigkeit abgegeben. Im Blut kommt es
nur in sehr geringen Mengen vor. Bei verschiedenen Erkrankungen der Prostata
aber wird PSA vermehrt an das Blut abgegeben. Und genau das war passiert. Man
befürchtete eine Erkrankung, die die Niere geschädigt haben könnte. Man
unterzog ihn in Windeseile allen möglichen Untersuchungen, um die Ursache zu
finden. Warum hatte man das nicht schon lange bemerkt? Man fand nichts.
Plötzlich hatte der Wert sich auch wieder normalisiert. Man fand weder die
Ursache für die Erhöhung des Wertes, noch für die plötzliche Normalisierung.
Alle Aufregung war umsonst.
Ich fluchte und
heulte und wir machten uns gegenseitig Mut, dass schon wieder alles werden
würde.
Es war an einem
Mittwoch, als die beiden in den OP geschoben wurden. Zunächst wurde meinem
Schwiegervater die Niere entnommen. Dazu schnitt man ihm den vom Brustbein bis
zum Nabel auf und entnahm eine Niere von vorne. Es war lange diskutiert worden,
wie es wohl am einfachsten wäre. Andere Ärzte waren der Meinung, es sei
günstiger, Nieren vom Rücken aus zu entnehmen. Aber die Entscheidung fällte der
Oberarzt und führte auch die OP durch. Ihm wurde eine Narbe verpasst, die
tatsächlich wie ein Reißverschluss aussah. Keine Schwester durfte in den ersten
zwei Wochen die Wunde versorgen, auch das behielt sich der Arzt vor. Die Niere
wurde gespült, untersucht. Dann war Tom dran. Man ließ das Dialysat aus seinem
Bauraum ab und setzte die Niere in den Beckenraum. Die Narbe war so klein, wie
eine Blinddarmnarbe. Ich hatte immer gedacht, man setzte sie an die gleiche
Stelle, an der die
Nichtfunktionierenden Nieren lagen,
aber der Eingriff wäre aus medizinischer Sicht unnötig kompliziert. Vom
Beckenraum aus schuf man eine Verbindung zur Blase und zu den Blutgefäßen.
Unvorstellbar für mich! Das war wirklich ein Wunder, dass so was möglich war.
An diesem Tag war
ich zu nichts zu gebrauchen. Ich lief hin und her und war so nervös. Endlich
war es soweit. Würde alles klappen? Würde die Niere arbeiten? Würde sich unser
Leben normalisieren? Ich hatte in den letzten 4 ½ Jahren 24 Tonnen Dialysat
geschleppt, hatte extreme Schlafstörungen, konnte keine Gefühle mehr an mich
ranlassen, da ich befürchtete, sonst zusammenzubrechen, war einfach nur da, ohne
zu leben. Hatte mehr Zeit in Krankenhäusern zugebracht, als mit mir selbst. Ich
wollte endlich aus diesem Alptraum raus.
Ich
versuchte mich mit Arbeit abzulenken, bastelte völlig sinnlose Dinge, als Toms
Chef um die Ecke kam und fragte „Und, wie sieht es aus mit Tom?“ Ich sah ihn an
und alle Tränen der Welt schossen aus meinen Augen. Ein Heulkrampf schüttelte
mich. Ich war nicht in der Lage zu antworten. Es war wie damals, als er
plötzlich an Toms Bett stand. Die Bilder der letzten Jahre zogen an mir vorbei
und ich hoffte nur auf ein Ende. Dirk antwortete für mich, da mein Chef völlig
irritiert auf mich sah „Er wird gerade operiert.“ Er nickte Dirk zu und sein
Nicken schien zu sagen „Tröste, ich kann es nicht.“ Leise schlich er davon und überließ mich meinen Tränen, meiner Angst
und meinen Hoffnungen.
Gegen Abend
erwachten die beiden aus der Narkose. Ich fuhr mit meiner Schwiegermutter am
nächsten Tag hin.
Wieder fand ich
Tom an Maschinen, Drähten und Kabeln vor, wieder mit diesem OP Hemdchen.
Aber diesmal
lächelte er mir entgegen. „Mir geht es so gut. Es juckt nicht mehr.“