10 April, 2006

Einmal schlafen


1.
Noch immer hallte die Stimme in meinem Kopf nach:   “Fahren sie langsam. Der Doktor wartet auf sie.“
Die Schwester hatte gut reden. Da ging es doch um einen Menschen, einen Mann, meinen Mann, den Vater meiner Kinder!
Und während er im OP gelegen hatte, hatte ich Geschenkbändchen zusammengerollt. Eine blödsinnige  Beschäftigung, ich weiß. Aber immer, wenn ich besonders nervös bin, gehe ich besonders blödsinnigen Beschäftigungen nach. Zu etwas Sinnvollem wäre ich gar nicht in der Lage gewesen und doch mussten meine Hände irgendwas tun.
Und dann kam endlich der Anruf. Ich hatte gehofft, eine Antwort auf meine Fragen zu bekommen. Was war mit ihm? Gestern war er noch gesund und heute stürzte die ganze Welt über ihn ein. Auch wenn ihm immer öfter schwindlig oder schlecht war, hätte doch keiner vermuten können, dass es ernsthaft krank sein könnte und nun sah es ganz so aus. Aber er war doch erst 32, schlank, gesund!
Und dann hatte ich gesagt: „Geh endlich zu einem Arzt. Das ist doch nicht normal, dass die immerzu schlecht ist.“ Und der Arzt hatte ihm einen Blutdruck bescheinigt, der sonst nur bei 2 Zentnern Übergewicht normal ist. Die Ursache konnte er sich nicht erklären, wobei er einen Verdacht hatte, den er sich durch Untersuchungen im Krankenhaus bestätigen lassen wollte.
Er wurde sofort eingewiesen. Doch auch dort wusste man nicht so recht weiter und überwies ihn in eine Spezialklinik. Und dort kam er sofort unters „Messer“. Man wollte ihm Gewebsproben entnehmen und die dann auswerten. So naiv wie ich war hatte ich erwartet, sofort zu erfahren, was los war.
Warum gab man am Telefon eigentlich keine vernünftigen Antworten? Glaubte die Schwester, ich würde mich auf der Stelle umbringen? Das würde doch die Situation auch nicht ändern. Ich wollte doch nur wissen, was eigentlich los war!
Toms Mutter redete immerzu von Blutkrebs. Ihre  Schwester war daran gestorben. Aber ich wusste, dass es das nicht war. Warum ich mir so sicher war, hätte ich nicht erklären können. Aber ich war mir sicher, dass es was anderes war.
Es war Winter und es war kalt und die Straßen waren glatt. Aber ich spürte weder die Glätte, noch die Kälte. In Rekordzeit hatte ich den benachbarten Landkreis erreicht. Die Hinweisschilder „Klinikum – Dialysezentrum“ veranlassten mich immer wieder zu Stoßgebeten: „Bitte lass es das nicht sein, Bitte nicht das!“, brabbelte ich vor mich hin. Völlig konfus erreichte ich das Krankenhaus. Es war außerhalb der Stadt, auf einen Berg errichtet. Weit und breit war nichts. Nur ein eisiger Wind wehte, er pfiff regelrecht. Ich machte mir noch Gedanken, warum es so dezentral gelegen war, da tauchte ich auch schon in das geschäftige Treiben ein.
Die kranken Raucher hatten sich – zum Teil in Rollstühlen – vor dem Gebäude versammelt, um ihrer Sucht zu huldigen.
Im Inneren schwirrten Ärzte, Schwestern, Pfleger, Kranke und Gesunde herum. Alle schienen zu wissen, wohin sie wollten. Alle, außer mir. Die Unmengen Hinweisschilder brachten mich auch nicht unbedingt weiter. Wo war nur das Schild, auf dem stand: „Hier geht es zu Tom Schneider“ ? Krampfhaft versuchte ich mich zu erinnern, was die Schwester gesagt hatte. Station 2 oder 4 oder 5, Innere oder Allgemeine? Dunkel aber bekannt kam mir das Wort „Wachstation“ vor. Also ging ich den Wegweisern folgend dahin.
Es war so, als ob ich in andere Welt eintauchte. Von dem geschäftigen Treiben auf den Gängen draußen war nichts mehr zu spüren. Hier ging die Uhr langsamer, oder manchmal auch schneller. Ich war umgeben von Maschinen, Schläuchen und Menschen, die mehr tot als lebendig vor sich hinröchelten. Ich konnte hier nur falsch sein! Gestern, gestern war er doch noch total fit gewesen. Hatte man sich getäuscht, lag eine Namensverwechslung vor? So was soll es ja schon gegeben habe, in so einem großen Haus. Ja, das musste es sein!
Doch dann führten sie mich zu einem Zimmer, in dem er lag. Ganz allein, an unzähligen Maschinen angeschlossen, überall waren Schläuche, Kabel, Drähte! Da lag er schlafend,  in diesem OP Hemdchen, dünner und blasser, als ich erwartet hatte. Der Anblick traf mich wie ein Schlag. Ich wich zurück und lehnte mich an die Wand im Flur. Tausend Gedanken schossen durch meinen Kopf und keiner war greifbar. Nur das Stumme:  "Nein, das ist nicht wahr!" blieb. Was sollte ich jetzt tun? Was sollte ich sagen? Ich biss mir auf die Lippen und alle Tränen verschwanden.
Mit festem Schritt ging ich ins Zimmer. Es wachte auf, sah mich an und mit einem Lächeln – wo ich das herholte, weiß ich wirklich nicht – küsste ich ihn und fragte: „Hey, was haben sie denn mit dir gemacht? Dich kann man ja wirklich nicht eine Stunde alleine lassen.“
Er versuchte ebenfalls zu lächeln, aber es gelang ihm nicht.
Ich setzte mich an sein Bett, versuchte seine Hand zu halten, was durch die angelegten Schläuche und umwickelten Fingerspitzen nicht unbedingt einfach war.
Aber ich tat so, als ob alles normal sei und mein Lächeln schien in mein Gesicht gemeißelt zu sein.
„Wie fühlst du dich?“, fragte ich zögernd, und war mir nicht sicher, ob ich wirklich eine Antwort hören wollte.
„Ich weiß nicht...schwach...Ich glaube, ich muss mal. Kannst du mir helfen? Ich will keinen Pfleger fragen.“
Natürlich konnte ich. Warum kann man manche Dinge, von denen man glaubt, wenn man sie erzählt bekommt, man könnte sie nicht? Und ich ahnte ja auch nicht, dass es für ihn das letzte Mal sein würde.
Er war schon wieder müde und schloss die Augen.
„Schlaf ein bisschen. Ich geh erst mal zum Arzt  und rede mit ihm.“
Er schloss die Augen und ich verließ fluchtartig die Station. Irgendwie hoffte ich so diesem Alptraum zu entkommen. Das konnte doch alles nicht war sein- das musste ein Traum sein.
Und wie hieß nur dieser Arzt? Es war was mit Sievers. Ich hatte an Colt Sievers denken müssen, als ich mit der Schwester telefonierte. Aber das war es nicht. Der Name war länger gewesen. Wo hatte ich nur meine Gedanken? Ich gebe zu, ich bin eine Katastrophe in Sachen Namen und Gesichter. Aber in dieser Situation sollte ich mich doch erinnern! Nichts, gar nichts, völlige Leere! Wen sollte ich nur fragen? Und was sollte ich denn fragen? Wo sollte ich den Mann finden, dessen Namen ich nicht mehr wusste?
Ich beschloss einfach eine Schwester zu fragen und  beschrieb ganz umständlich  was mit meinen Mann war und das ich den dazugehörigen Arzt suche, aber ich doch den Namen vergessen hatte.
Und sie lächelte mich tatsächlich an. Und ihr Lächeln strahlte so viel Mitgefühl aus. Sah sie mir die Panik an? Sah sie mir an, dass ich mich mit dieser Situation völlig überfordert fühlte? Oder war ich etwa eine von vielen, die sich diesen Namen einfach nicht merken konnte? Vielleicht führten  ja die Schwestern so eine Art Strichliste, wie viele Leute den Namen vergessen hatten? In meiner Panik kamen mir die unmöglichsten Gedanken.
Das passiert mir immer wieder. Bei wirklich traurigen Angelegenheiten kommen mir die verrücktesten Gedanken.
Da war mal diese Trauerfeier, auf der ich mir immer wieder das Lachen verkneifen musste, weil ich während alles um mich herum weinte, daran dachte, wie hinreißend komisch diese Frau war und wie oft wir mit ihr gelacht hatten.
Dieser Gedanke ließ mich einfach nicht los. Er hatte sich so sehr in meine Gedanken gebohrt, dass ich in mich reinlächeln musste, während um mich herum alle weinten. So bin ich eben.
Jedenfalls sagte die Schwester lächelnd „Station 5.4, Zimmer 503 und der Mann heißt Ravelsiever.“ Ich weiß nicht mal, ob ich mich bedankt habe, aber ich durfte diese Information jetzt nicht wieder vergessen und so brabbelte ich den Satz wieder und wieder vor mich hin, bis ich endlich am Fahrstuhl war. Unter fortwährenden Gebrabbel drückte ich den Knopf für die Station 5, fiel buchstäblich aus der Tür und sah mich um. ‚Wo ist jetzt vier?‘, dachte ich noch und schon hatte ich den Namen vergessen. Ich blickte mich um in dem Gewirr aus Gängen und Türen, die sich alle automatisch öffneten, wenn man nah genug herankam. Und wie durch ein Wunder fand ich die Tür 503. Aber sie war verschlossen. Panik machte sich in mir breit. ‚Toll, war der jetzt etwa schon weg?‘. Ich fand die zum Zimmer gehörige Station und erklärte wieder so gut ich konnte, was ich wollte und blickte ganz entschuldigend die Schwester an, dass ich den Namen vergessen hatte. Eigentlich hatte ich Krankenschwestern in meiner Vorstellung immer als die heimlichen Hausdrachen eines Krankenhauses abgestempelt, aber bereits nach so kurzer Zeit sah ich ein, dass dies ein absolutes Vorurteil war und es gar nicht an dem ist. Sie suchten den Mann für mich und führten mich zurück zu seinem Zimmer und baten mich zu warten. Ich würde ihn schon erkennen.
Was würde  er mir wohl sagen? Was war mit Tom? Ich hatte keinerlei Vorstellung. Und die Minuten dehnten sich zu Stunden. Dann kam er endlich: groß, schlank, die moderne, eckige Brille ließ ihn irgendwie noch nervöser erscheinen.
Ich hörte kaum zu, als er sich vorstellte, ich wollte nur wissen, was mit Tom war.
 „Wir sind uns sicher, dass es sich um eine Erkrankung der Nieren handelt. Darum wurde ich als Nephrologe herangezogen. Der unnatürlich hohe Blutdruck und die Kreatinwerte im Blut ließen keine andere Vermutung zu. Ich habe eine Nierenbiopsie vorgenommen und das entnommene Gewebe sofort per Kurier nach Hamburg ans tropische Institut geschickt. Bei einer Biopsie wird durch die Baudecke Gewebe direkt aus der Niere entnommen. Es wird nicht geschnitten und man kann schneller zu einer Diagnose kommen, kann anhand des Gewebes die Art der Erkrankung feststellen. Wir wissen noch nicht, ob es sich um eine glomeruläre, interstitielle, vaskuläre, tubuläre oder zystische Nierenerkrankung handelt. Es gibt zahlreiche Erkrankungen, die wir nicht diagnostizieren können, ohne die pathologischen Befunde.“ Dieses Wort allein, hörte sich für mich mehr nach Tot als nach Leben an. Waren die Nieren einfach „gestorben“? Er referierte über  die verschiedenen Nierenerkrankungen, die es gibt. Als ich aufhörte, irgendwas zu verstehen, unterbrach ich ihn einfach. Ich war hier nicht in einer medizinischen Vorlesung und mit den verwendeten lateinischen Begriffen konnte ich gar nichts anfangen.
„Halt“, rief ich „ich verstehe kein Wort. Was hat er denn nun?“
„Ich kann es noch nicht sagen. Es gibt viele Möglichkeiten.“
„Und was wäre das wahrscheinlichste?“, fragte ich leise, aber ungeduldig. Vielleicht würde die Antwort nicht so schlimm ausfallen, wenn ich ihn leise fragte. Andererseits wollte ich wissen, was kommen würde – im schlimmsten Fall. Besser werden konnte es ja immer noch.
„Akute Niereninsuffizens“. War die kurze, niederschmetternde Antwort. Ich hatte nicht viel von seinem Vortrag verstanden, aber das war selbst mir klar – Dialysepflichtigkeit.
„Wir sind uns nicht sicher, ob der hohe Blutdruck, die Glumeroli der Nieren zerstört hat, oder ob die versagende Niere den Blutdruck hochgetrieben hat. Wir geben ihm zunächst Blutdrucksenkende Mittel, um die Niere nicht völlig zu zerstören. Noch hat er Harndrang und daran erkennen wir zunächst, dass noch eine Restfunktion der Niere da ist. Des weiteren haben wir ihm einen Halskatheder gesetzt, damit er dialysiert werden kann, was wir auch sofort gemacht haben. Die Blutwerte sind so dramatisch schlecht, dass wir eine Vergiftung des Körpers befürchten müssen.“
Ich saß zusammengesunken auf dem Stuhl, während er versuchte das Urteil, dass er gesprochen hatte abzumildern. Doch es halte immer wieder nach: Dialysepflicht.. Warum waren meine Stoßgebete nicht erhört worden? Warum musste das uns passieren? Während meiner Fahrt ins Krankenhaus hatte ich das schon geahnt, ohne sagen zu können, woher diese Vorahnung kam. Auch hatte ich nur eine vage Vorstellung von Dialyse, die ich meist aus diversen Krankenhausserien aufgeschnappt hatte. Aber bereits das reichte aus, um mich in Panik zu versetzen.
„Geben sie die Hoffnung nicht auf. Vielleicht fällt der Befund positiver aus, als wir das glauben. Und selbst wenn, auch unter der Dialyse kann eine hohe Lebensqualität erreicht werden.“
„Weiß er, was mit ihm los ist?“, fragte ich scheu.
„Nein. Ich will ihnen die Entscheidung überlassen, wann er es erfährt.“ Ich! Ich sollte eine derartige Entscheidung treffen! Ich sollte entscheiden, wann er ein solches Urteil erfährt! Verstand ich doch selbst kaum, was hier los war.
Nein, ich fühlte mich dieser Situation in keiner Weise gewachsen! Was verlangte er da von mir?
„Wenn wir die Ergebnisse haben, werden wir weitersehen. Dann möchte ich gerne mit ihnen beiden sprechen. Vielleicht ist es ja doch eine reversible Erscheinung und das Nierengewerbe ist nicht völlig zerstört und alles normalisiert sich wieder. Wir werden sehen.“
Damit hatte er diese Aufgabe hinter sich gebracht. Die Erleichterung war ihm anzusehen. Es ist sicher sehr schwer, seinen Patienten und deren Familien Diagnosen zu überbringen, deren Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zu ertragen. Nun war es an mir die nächsten drei Tage durchzuhalten, Tom aufzumuntern und die Hoffnung nicht aufzugeben. Vielleicht...
Und in dieses Vielleicht setzte ich meine gesamte Hoffnung.
Ich ging zurück zu ihm.
Und die Umgebung erschlug mich gleich wieder. Kurz nach mir kam sein Chef mit seiner Frau. Ich hatte ihn kurz angerufen und angedeutet, dass irgendwas schlimmes passiert war – was, das wusste ich ja selber nicht. Und da standen nun die zwei.
Und plötzlich war es mit meiner Selbstbeherrschung vorbei. Hemmungslos heulte ich los. Es schüttelte mich wie ein kleines Kind, ich konnte mich gar nicht beruhigen und wusste nicht mal, warum ich heulte. Ich hatte ja nicht mal die geringste Ahnung, was auf mich zukommen würde. War es die Angst um Tom, der scheinbar apathisch vor mir im Bett lag? War es die Angst, dass ich nicht wusste, wie unsere Zukunft aussehen würde? Gab es überhaupt eine Zukunft? Existenzangst? Angst wegen der Kinder?
Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Vielleicht hätte ich mich auch Tom zu liebe zusammenreißen müssen, ich musste ihm doch Hoffnung und Kraft geben. Oder vielleicht hätte ich mich auch wegen seines Chefs zusammenreißen sollen. Aber mein Körper sah das anders. Er wohl der Meinung, jetzt diese Unmengen Tränen produzieren zu müssen, ohne das mein Kopf das gestattet hatte.
Die beiden begannen mich zu trösten, offensichtlich fanden sie meinen Gefühlsausbruch gar nicht so schlimm. Es würde schon werden und ich soll nicht verzweifeln und immer nach vorne schauen – so was in der Richtung.
Tom’s  Chef hat eine merkwürdige Art mich anzusprechen – in der 3. Person. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass er nicht weiß, ob er mich duzen oder siezen soll, oder weil man einfach so spricht in der Gegend, aus der er kommt, jedenfalls redet er schon immer so mit mir und während ich das am Anfang immer sehr belustigend fand, habe ich mich inzwischen daran gewöhnt.
„Wisst ihr“, begann er „ ich hatte auch schon einen Herzinfarkt, ich leide seit Jahren am  Bechterew und den damit verbundenen Erkrankungen. Aber ich lebe damit. Und egal was Tom hat, man kann mit so vielen Dingen leben. Ich hätte auch nie geglaubt, dass ich nach meinem Herzinfarkt jemals wieder arbeiten kann. Und seht mich an: Heute habe ich vier Filialen . Solange man an sich glaubt, eine Familie hat, die hinter einem steht, geht alles.“
Fasziniert sah ich den Mann an. Ich wusste das alles gar nicht. Er war für mich eben sein Chef, nicht ein Mensch wie die anderen um mich herum, eben sein Chef. Er wirkte auf mich immer wie dieses Gemälde von Lucas Cranach mit dem mittelalterlichen Kaufmann: groß und stark wie ein Bär, mit einem Vollbart und Augen, die Ruhe und Güte ausstrahlen. Wenn er lacht, dann lacht sein Gesicht und sein ganzer Körper mit. Und es ist unglaublich ansteckend. Er lacht nicht oft, er lobt auch nicht oder tadelt, doch wenn er den Kopf bedächtig hin und herwiegt, dann weiß ich, dass er nicht zufrieden ist. Seit Jahren gestalte ich seine Filialen und es macht mir unglaublichen Spaß. Ich weiß noch, wie ich ihn kennengelernt hatte: Als bei Tom an der Arbeit wiedermal über die Deko schimpfte und mich darüber ausließ, dass es so viele unaufgeräumte Ecken gab, und ob dass denn sein Chef nicht sehen würde und was der eigentlich für ein Ignorant sein müsse – und er stand die ganze Zeit hinter mir. Ich kannte ihn ja nicht und wäre am liebsten in den Erdboden versunken und Tom auch – das konnte ich ihm ganz deutlich ansehen.
Aber er fing so schallend an zu lachen, daß ich ihn sofort mochte und langsam konnte ich Tom’s Schwärmerei für ihn verstehen.
Und seine Frau? Ich mag sie. Sie ist nicht die typische Chef Frau, ein Modepüppchen, die sich auf den Erfolgen ihres Mannes ausruht.
Sie arbeitet  überall mal. Nicht so, dass sie nichts richtig könnte, im Gegenteil, sie kontrolliert die Wareneingänge genauso selbstverständlich, wie sie in der Buchhaltung aushilft, wenn Not am Mann ist. Es fehlte eigentlich nur noch  dass sie verkaufen würde. Aber das lehnt sie ab. Komisch, denke ich manchmal, sie hat so eine überzeugende Art! Dass sie mich ganz selbstverständlich duzt, hat mich nie gestört, wenngleich ich das nicht kann.
Wenn sie sich neben mich stellt und mir zusieht – früher hat mich das irritiert, nervös gemacht – jetzt nicht mehr. Manchmal muss man Menschen eben kennenlernen, um sie zu verstehen: wenn sie neben mir steht, will sie einfach zuschauen, wie ich das mache, vielleicht einen Gestaltungstipp abgucken- aber eben nicht, um mich zu tadeln, oder zu verbessern – das muß man eben erste lernen.
Jedenfalls mag ich die beiden. Das ist so ein respektvolles mögen, ich habe unglaubliche Achtung, vor dem was sie geschaffen haben und finde schön, dass sie Mensch geblieben sind.
Jetzt bemühten sie sich, mich zu trösten und merkwürdiger Weise gelang ihnen das auch -  als sie gingen, waren meine Tränen getrocknet und mein Schluchzen hatte sich beruhigt
Tom sprach leise und es strengte ihn sehr an:
„Was hat der Arzt gesagt?“
„Er weiß nicht genau, was dir fehlt, erst wenn der die Ergebnisse der Biopsie hat, kann er was sagen, in drei Tagen.“
Ich streichelte wieder seine Hände, sein Gesicht. Aber er schien das gar nicht wahrzunehmen. Er war so weit weg. Merkt er überhaupt, dass ich da war?
Um ihn abzulenken, erzählte ich von der Arbeit und was die Kinder machten. Ich wollte nicht, dass er sich genau wie ich, ständig drüber Gedanken machte, was passiert war und warum und wieso gerade ihm.
Dabei hätten wir doch reden müssen! Aber wie immer fürchteten wir uns vor so ehrlichen Gesprächen. Man konnte sich ja mit unwichtigerem ablenken.
Er sagte mir noch, wen ich anrufen müsse, um bestimmte Sachen erledigen zu lassen. Ich gab ihn noch einen Kuss und hatte das Zimmer noch nicht verlassen, da war er schon wieder eingeschlafen.
Ich sah jetzt weder Ärzte, noch Schwestern, noch Patienten oder Besucher, ich rannte fast.  Ich wollte aus diesem Alptraum wegrennen. Draußen in der frischen, kalten Luft blieb ich abrupt stehen. Warum? Warum? Warum? – mehr dachte ich nicht. Ich dachte nicht mal das „Warum“ zu Ende, mein Kopf war leer. Ich kann mich  auch nicht mehr daran erinnern, wie ich nach Hause gekommen bin. Plötzlich stand ich vor unserem Haus. Die Kinder grüßte ich von ihrem Vater, auch wenn der nicht dergleichen gesagt hatte – er hatte es einfach – und ich verstand das nur zu gut - vergessen.
Mit meinen Schwiegereltern konnte ich nicht reden und sie empfanden meine Wortkargheit sicher als echt schlimm. Ich beruhigt nur Toms Mutter, dass er kein Blutkrebs habe – soviel sei sicher. Alles andere verschwieg ich. Ich konnte einfach nichts sagen. „Na, dann ist es ja gut. So schlimm kann es ja nicht sein.“  Ich sagte nichts, schlich in meine Wohnung und war ganz für die Kinder da. Sie lenkten mich ab und gaben mir Kraft. Doch als sie im Bett waren, brach dieser Alptraum wieder über mich herein.
Mit einer Flasche Wein, Zigaretten und dem Telefon setzte ich mich in die Küche, ich wollte mit jemanden reden. Aber wer war wohl in der Lage, mir auch zuzuhören?
Ich sollte die schwarze Gabi anrufen, sie ist auch Ärztin, dachte ich. Nele hatte sie so getauft.  Als sie  klein war, verwirrte ihn die Tatsache, dass meine Freundin den gleichen Namen wie meine Schwester hatte und auf Grund ihrer tiefschwarzen Haare, bekam sie diesen Beinamen. Sie hat ihn immer noch und wird ihn wohl immer behalten. Sie ist meine älteste Freundin, nicht, dass sie alt ist, ich kenne sie nur schon so lange. Ihr Mann und ich haben zusammen gelernt und in dem Moment, als er sie mir vorstellte, wusste ich, dass sie ein ganz besonderer Mensch ist. Sie ist völlig anders als ich und ich weiß auch nicht, warum sie meine angebotene Freundschaft erwiderte.  Sie hat die Figur, die ich immer haben wollte, sie raucht nicht, sie trinkt fast nie, sie ist unglaublich fleißig. Ihr Medizinstudium hat sie mit Auszeichnung bestanden, den Doktortitel noch vor ihrem Diplom verteidigt – eine Sache, die meine absolute Bewunderung verdient. Ich hatte es nie so mit dem Lernen. Ich verstand nicht, warum ich mir all den theoretischen Kram merken sollte, ihn auswendig aufsagen können musste. Für mich waren meine praktischen Fähigkeiten immer wichtiger.
Sie verliert nie die Beherrschung, sie hat unglaublichen Geschmack, macht Sport – sie spielt sogar perfekt Tennis, eine Tatsache um die ich sie wirklich beneide. Ich meine, ich habe bestimmt auch starke Seiten, aber ich habe auch Schwächen – sie nicht.
Sie lebt in der Nähe von Leipzig, wir sehen uns nicht oft, aber wenn, dann ist das jedes Mal sehr intensiv. Jedenfalls beschloss ich sie anzurufen. Aber was sollte ich denn sagen?
„Gabi, ich bin’s.“
Ich verschwendete keine Zeit mit den üblichen Floskeln, kam gleich zum Thema.
„Tom geht es nicht gut.“
Ich erzählte, was bis dahin passiert war. Sie schwieg, keine Nachfragen, sie ließ mich einfach reden und aus mir sprudelten alle Ängste und Sorgen.
„Bitte, sag mir was los ist. Gibt es Hoffnung, die Niere noch zu retten,  kann es sein, dass sie ihre Funktion wieder aufnimmt?“
Ich wollte, dass sie mich aus dem Alptraum reißt, mir sagt „Alles wird gut. Du träumst nur“
Aber als ich ihr Schlucken am anderen Ende hörte, wusste ich, dass sie mir keine Hoffnung machen konnte. Verflucht, warum sind Freunde eigentlich so weit weg, wenn man sie braucht?
„Es kann alles und nicht bedeuten“, begann sie. „Es gibt wirklich so unendlich viele Nierenerkrankungen und aus dem was du mir erzählst hast, kann ich unmöglich eine Diagnose stellen. Außerdem ist das wirklich nicht mein Fachgebiet. Es ist schon möglich, dass auf Grund der Dialyse die Niere wieder zum Arbeiten angeregt wird. Prinzipiell musste er wohl dialysiert werden. Wenn dieser Wert, das Kreatin, einen kritischen Wert überschreitet, müssen sie das einfach tun. Ich kann dir jetzt alles Mögliche erzählen, aber das würde dir nicht weiterhelfen. Warte ab, denk positiv.“ Ich hatte mehr gehofft, aber ich wollte auch nicht belogen werden. Dann kam mir eine Idee. „Was hältst du davon, wenn du den Arzt anrufst. Ich werde ihn von seiner Schweigepflicht entbinden und ihm sagen, dass er dir Auskunft geben soll. Dann kannst du mir alles übersetzen und mir sagen, was ich machen soll und wie unser Leben weitergeht. Ich verstehe sein Medizin Deutsch sowie so nicht. Was meinst du?“ Sie war sofort begeistert. „So können wir das machen. Ich ruf eine Kollegin aus dem Studium an, die sich auf Nephrologie spezialisiert hat an und verständige mich mit ihr.“ Ich gab ihr gleich die Nummer der Klinik und den Namen des Arztes. Wie ein Wunder, hatte ich ihn mir nun urplötzlich gemerkt.
Den Abend überstand ich mit Hilfe der Flasche Wein. Ich fühlte mich so allein, grübelte und konnte doch keinen klaren Gedanken fassen.
Die Kopfschmerzen am nächsten Tag nahm ich in Kauf. Und ich überstand sogar den nächsten Tag. Die Kinder brachte ich in die Schule und in den Kindergarten, ging arbeiten. Ich stürzte mich förmlich in die Arbeit, bloß nicht aufsehen, bloß an nichts denken.
Tom‘s Kollegen teilten sich in zwei Lager: die einen löcherten mich mit Fragen, was mit Tom wäre, wie es ihm ginge, die anderen behandelten mich wie eine Leprakranke – bloß nicht zu nah rangehen. Ich fragte mich, was mich wohl mehr störte. Die Fragen, die ich beim besten Willen nicht beantworten konnte, oder wollte, oder das Gefühl, dass mir die anderen gaben, dass irgendwas Schlimmes geschehen sein musste.
Andererseits verstand ich es. Ich wäre wohl auch in die „Lepragruppe“ einzuordnen. Ich traue mich auch nie zu fragen, Gefühle und Emotionen zu wecken, weil ich nie weiß, wie ich mit Gefühlen anderer umgehen soll.
Ich weiß noch, als der Vater eines guten Freundes gestorben war, mied ich ihn fast. Ich wollte ihm seine Ruhe lassen, wusste nicht, wie ich ihm hätte Trost geben sollen. Vielleicht hätte ich auf ihn zugehen sollen. Und wenn er nicht mit mir hätte reden wollen, hätte er das schon gesagt. Aber ich war eben nicht in der Lage, ihm Hilfe anzubieten.
Tom sollte am nächsten Tag auf eine normale Station verlegt werden, noch überwachten sie andauernd seine Körperfunktionen. Seine Eltern wollten ihn heute besuchen. Das war mir auch recht. Und trotzdem bewegte ich mich zu Hause wie ein Löwe im offenen Käfig – unfähig, mein Gefängnis zu verlassen.
Obwohl ich bei Tom sein wollte, musste ich mich auch um meine Kinder kümmern. Und eigentlich ist das kein „Muss“ für mich. Ich liebe es mit ihnen zu spielen. Andererseits wollte ich lieber mit den Kindern spielen, als mich dem Krankenhausklima auszusetzen – ich fühlte mich hin und her gerissen.
Als ich sie dann ins Bett gebracht hatte, war ich froh, diesen Nachmittag überstanden zu haben und kaum lagen sie, brach die Einsamkeit über mir zusammen und ich hätte sie am liebsten wieder rausgeholt, um weiter zu spielen.
Auch der Anruf bei Tom war nicht so, wie ich mir das erhofft hatte. Eine Mauer stand zwischen uns und anstatt über unsere Gefühle, unsere Ängste und Hoffnungen zu sprechen verloren wir uns in Belanglosigkeiten.
Weder die Arbeit, noch die Kinder beschäftigten mich vordergründig. Immer wieder dachte ich an ihn und wie unser Leben weiter gehen würde.
Tom arbeitete viel und machte seinen Job gut. Und alles andere erledigte ich. Ich kümmerte mich um den Haushalt, die Kinder mit ihren großen und kleinen Problemen. Wenn ich der Meinung war, es müsste renoviert werden, dann tat ich das eben. Warum sollte ich da auf Tom warten? Im Stillen amüsierte mich immer das Gejammer meiner Freundinnen, wenn sie unbedingt renovieren wollten und ihre Männer nicht. Ich tat es eben, wenn es Zeit dazu war. Tom kriegte zwar jedes Mal einen Anfall, wenn ich nach einer beiläufigen Bemerkung, dass es wiedermal sein müsse, einfach anfing. Aber trotzdem war er mit dem  Endergebnis jedes Mal zufrieden . Einmal haben wir versucht, ein Zimmer zusammen zu tapezieren – es endete im totalen Streit und Chaos – von da ließ er mich machen.
Und so klärte ich eben alle  Probleme selber. Das hatte sich so ergeben und eingespielt.
Ich hätte ihn gerne gefragt, wie das mit der Dialyse war und wie sich dieser Halskatheder anfühlt. Aber ich konnte irgendwie nicht. Und eigentlich hoffte ich, dass er es von alleine erzählen würde. Aber er tat es nicht und so stand eine Sprachlosigkeit zwischen uns, die wir beide nicht durchbrechen konnten.
Ich rede nicht gerne über Dinge, die mir Sorgen machen und Angst. Tom auch nicht. Aber vielleicht hätten wir es tun müssen, hätten wir beide über unseren Schatten springen müssen. Und ich weiß, dass es an mir gewesen wäre, den ersten Schritt zu tun. Ich hatte die sein müssen, die ihm Mut machen sollte.
Warum war ich nicht in der Lage dazu?
Der nächste Tag verlief ähnlich und ich hoffte nur, dass die Zeit schneller verging und ich Antworten bekommen würde.
Die Station, auf die Tom verlegt worden war, war hell und freundlich, die Einrichtung erinnerte ehr an ein Hotelzimmer, als an ein Krankenhaus. Jeweils zwei Zimmer mit insgesamt 4 Betten wurden durch einen gemeinsamen Aufenthaltsraum verbunden. Die Schwestern waren unglaublich nett, hilfsbereit und freundlich.
In der Station wurden hauptsächlich Krebspatienten betreut, so dass ich das Klima mitunter als sehr bedrückend empfand.
Ich hatte nicht mit Tom gesprochen, ich konnte ihm nicht sagen, dass seine Erkrankung auf eine Dialysepflichtigkeit hinauslief. Und er hatte mir nicht gesagt, dass er es bereits wusste. So nahmen wir beide an, dass es der andere noch gar nicht wusste.
Fürchteten wir auszusprechen was war? Würde es dann plötzlich nicht mehr rückgängig zu machen sein, oder hatten wie einfach nur Angst vor der Reaktion des anderen? Glaubte Tom, ich würde ihn dann nicht mehr lieben, ihn verlassen? Oder glaubte ich, Tom würde an dieser Tatsache verzweifeln?
Als es endlich so weit war und die Untersuchungsergebnisse vorlagen, raste ich wieder wie eine Verrückte in die Klinik. Ich wollte um keinen Preis der Welt, dass das Gespräch verschoben wurde, weil der Arzt vielleicht schon Dienstschluss hatte. Der Name war mir schon wieder entfallen. Ich bin ein Chaot und ich hasste mich in dem Moment dafür.
Aber ich erkannte ihn sofort wieder. Er wirkte sehr nervös, als er das Zimmer betrat. Mir war das ja auch schon das letzte Mal aufgefallen. War das einfach seine Art, oder war es ein schlimmes Vorzeichen? Noch bevor ich diesen Gedanken zu Ende denken konnte begann er zu reden. „Wir haben heute Morgen die Ergebnisse zunächst per Fax erhalten.“ – eine kunstvolle Pause, die sich endlos zu erstrecken schien. „Es ist so, wie wir bereits befürchtet hatten. Beide Nieren sind irreversible geschädigt.“ Ich spürte, wie die Farbe aus meinem Gesicht wich. ‚Warum?’ hämmerte es wieder durch meinen Kopf und ich drückte Toms Hand so fest, dass er sie erschrocken zurückzog. „Die Ursachen können so vielseitig sein, dass wir das erst in weiteren Test herausfinden können. Sie können genetisch bedingt sein, sie könnten aber auch durch den plötzlich ansteigenden Blutdruck hervorgerufen worden sein, wobei wir die Ursache des angestiegenen Blutdruckes in jedem Fall klären müssen“ Es folgte wiedermal ein wissenschaftlicher Vortrag mit so vielen Fachbegriffen, dass ich kein Wort mehr verstand. Genetisch bedingt? Bedeutet das etwa, dass auch unsere Kinder so etwas in sich tragen könnten?
„Ich habe das bereits ihrer Schwester erklärt.“- Damit meinte er wohl die schwarze Gabi, die sich als Toms Halbschwester ausgegeben hatte.
„Und wie geht es jetzt weiter?“ fragte Tom mit fester  Stimme. Wo nahm er nur so viel Selbstkontrolle her? -  Ich war den Tränen nah.
„Wir werden sie regelmäßig dialysieren müssen. Da sie nun keinerlei Harndrang mehr haben, ist es ein Anzeichen dafür, dass auch die geringe Restfunktion komplett ausgesetzt hat.“
Ich konnte Tom nicht ansehen. Es war, als ob dieser Mann ein Todesurteil gesprochen hatte. Und erst sehr viel später sollte mir bewusst werden, dass es viel mehr als das war.
„Verzweifeln sie nicht. Auch unter der Dialyse kann man durchaus eine gewisse Lebensqualität erzielen. Wir sollten jetzt daran gehen, uns um ihre Zukunft zu kümmern. Sie müssen wesentliche Entscheidungen treffen, die ihr weiteres Leben bestimmen.“
Tom sollte sich in den nächsten Tagen entscheiden, welche Form der Dialyse er durchführen wollte: die Hämodialyse, oder die Perentionaldialyse.
Bei der ersten Form handelt es sich um die allgemein bekannte „Blutwäsche“. Dabei wird operativ eine Arterie und eine Vene miteinander verbunden - ein so genannter „Chant“ gelegt, durch den das Blut in eine riesige Maschine gepumpt wird, und gereinigt wieder zurück in den Körper gelangt. Dazu muss man 3 x wöchentlich eine Dialysestation aufsuchen, wo man dann für 4 bis 5 Stunden an diese Maschine angeschlossen wird.
Die zweite Variante wird vom Patienten zu Hause selbst durchgeführt. Dazu wird in die Bauchdecke ein Katheder operiert, durch den Glukose in den Bauchraum gepumpt wird. Durch Filtrationen werden die Giftstoffe in die Flüssigkeit abgegeben und durch eine Maschine wieder aus dem Körper gepumpt. Obwohl diese Art zeitaufwendig ist, bleibt der Patient flexibel, kann problemlos arbeiten gehen und kann sich frei bewegen.
Ich wusste sofort, dass Tom sich dafür entscheiden würde.
„Prinzipiell werden sie, wenn sie es wünschen, auf eine Transplantationsliste gesetzt. Mit Hilfe von Eurotrans wird dann eine passende Niere gefunden werden. Dazu suchen sie sich eine Transplantationsklinik, die sie auch betreuen wird. Aber ich muss ihnen gleich einen Teil Hoffnung nehmen. Es dauert – je nach Klinik – 4 bis 5 Jahre. Leider ist die Spendebereitschaft in Deutschland extrem gering, so dass wir auf Organe anderer Länder angewiesen sind.“
Tom fand als erster die Worte wieder „Ich möchte die Dialyse zu Hause machen. Ich will weiterhin arbeiten und das geht nur so.“ Ich hörte die Verzweiflung aus seiner Stimme.
Plötzlich war er schwer krank und noch vor 50 Jahren wäre er einfach gestorben – das war mir plötzlich mehr als bewusst.
„Wir werden dazu erst einige Tests machen müssen. Entscheiden sie sich nicht gleich, überdenken sie alles in Ruhe. Abgesehen davon, muss ich sie darauf hinweisen, dass sie wichtige Vorraussetzungen schaffen müssen. Sie brauchend dazu einen fast sterilen Raum, mit Wasseranschluss. Ihre Frau wird unter den nächtlichen Unruhen mit leiden. Und sie sollten auch die ethische Seite nicht außer Acht lassen. Sie sind beide noch sehr jung. Und Sexualität spielt in ihrem Leben sicher noch  eine wichtige Rolle. Bedenken sie, sie haben dann einen Katheder im Bauch. Beziehen sie bitte auch das in ihre  Entscheidung ein.“ ‚Wie kann der Mann in dieser Situation an Sex denken!’, dachte ich empört. Ich fand das in der gegebenen Situation so unwichtig. Wichtig war in diesem Moment nur, dass er leben  konnte und ich war bereit alles auf meine Schultern zu laden, was dazu notwendig war. Wie sollte mich ein Schlauch, der aus seinem Bauch ragte daran hindern, ihn zu lieben? Das war ja wohl absurd.
Und doch muss man diesem Arzt danken, dass er so offen Probleme ansprach, an die wir gar nicht dachten. Wie sollten wir auch? Wir hatten ja keine Ahnung, was auf uns zukam, weder in dem einen, noch in dem anderen Fall. So war diese Aufklärungsarbeit, die er vornahm, unglaublich wichtig.
Und wieder begingen wir den Fehler nicht miteinander zu reden, unsere Ängste und Sorgen für uns behielten und nicht in der Lage waren, sie mit dem anderen zu teilen.
Na ja, Tom ist nicht unbedingt der Mensch, der stundenlang über Gefühle sprechen kann. Und deshalb habe ich mir das auch abgewöhnt. Es verunsichert mich, wenn ich dann so alleine über Gefühle rede. Also schweige ich auch.
Vielleicht sollte man ja wirklich nicht alles zerreden.
Es wird sich schon alles klären – von alleine, so wie immer.
Wir schaffen das – dachte ich.
Völlig betäubt verließ ich das Krankenhaus, so viel musste durchdacht werden. Ich wusste, dass Tom seine Entscheidung bereits gefällt hatte – auch ohne, dass er mit mir darüber sprach, oder mich nach meiner Meinung fragte. Seine Arbeit war sein Leben und er würde alles tun, um ihr weiterhin nachgehen zu können.
Den Abend verbrachte ich wieder mit einer Flasche Wein, den Informationsmaterial, dass uns der Arzt gegeben hatte und mit Gabi am Telefon.
Sie hatte sich eine haarsträubende Geschichte einfallen lassen, um an die Informationen zu kommen, die sie mir nun weitergab. Auch hatte sie wie versprochen mit ihrer Studienkollegin gesprochen und riet uns in jedem Fall zur Perentionaldialyse. „Weißt du, viele Kuratorien sehen das eigentlich nicht gerne, wenn die Patienten sich für diesen Weg entscheiden. Aber es gibt keinen vernünftigen Grund die Perentionaldialyse abzulehnen. Tom bleibt seine Möglichkeit zu arbeiten erhalten. Was in dem anderen Fall wirklich äußerst schwierig zu realisieren wäre, selbst wenn er einen verständnisvollen Chef hat. Aber immerhin leitet er diese Filiale. Und wenn er an zwei von fünf Tagen ausfallen würde – den 3. Termin könnte man sicher auf einen Samstag verlegen – ich weiß nicht, ob das funktionieren kann. Ich glaube es nicht. Und sie sagt aus ihrer Erfahrung wird es nicht gehen. Der zweite Weg wird auch schwer, aber ihr schafft das schon. Da bin ich mir sicher.“
Irgendwie hatte sie schon Recht. Sie erklärte mir noch mal genau, wie das eigentlich funktioniert. Es hörte sich alles sehr leicht an. Wenn sie mir auch die möglichen Erkrankungen aufzeigte, die sich einstellen könnten. Am wichtigsten wäre wohl Sauberkeit, weil die Möglichkeit, dass über den Bauchkatheder Bakterien in den Bauchraum gelangen, extrem groß sind und dies führt zu Bauchfellentzündungen. Wie schmerzhaft das sein kann, wusste ich nur zu genau. Im letzten Jahr hatte ich mir eine zugezogen und verbrachte mit unglaublichen Schmerzen eine Woche im Krankenhaus.
„Dann ist es ganz wichtig, die Trinkmengen genaustens zu kontrollieren. Damit es nicht zu Wassereinlagunerungen im Körper kommt. Man merkt das zuerst an geschwollenen Füßen und Beinen. Darauf müsst ihr ganz sehr achten und jede Veränderung sofort mit einem Arzt besprechen.“
Die Ratschläge und Hinweise nahmen kein Ende mehr und ich konnte mir gar nicht alles merken. Aber sie war jeder Zeit für mich da – das wusste ich.
Meine Gedanken drehten sich jedoch im Kreis und fanden den Ausgang nicht mehr. Sie hatte zweifellos Recht und Tom auch. Aber wie sollte ich dieses Wohnproblem lösen. Vor meinen Augen  entstand eine Art Krankenhauszimmer, mit Rohrbett mit Waschbecken.
Unser Schlafzimmer war eine ausgebaute Bodenkammer. Das Fenster war nur eine Dachluke. Es war immer so schön gemütlich und  wenn es regnete, fühlte man sich wie im Zelt. Ich mochte es. Aber ich wusste genau, ich würde es niemals steril kriegen, geschweige denn einen Wasseranschluss legen können. Trotzdem hing ich an dem Gedanken. Ich wollte das Zimmer nicht aufgeben. Man müsste doch eine Rohrleitung legen können und wenn ich ein dichtes Fenster einbauen würde..
Was blieben denn sonst für Möglichkeiten?
Gedanklich baute ich die ganze Wohnung um, verlegte alle Zimmer: Küche ins Wohnzimmer, Wohnzimmer ins Kinderzimmer, Schlafzimmer in die Küche, Kinderzimmer in den Partyraum. Und den Partyraum? Es passte gar nichts. Der Aufwand wäre unermesslich.
Die ganze Woche verbrachte ich mit diesen Gedanken.
Als ich mit Tom darüber sprechen wollte, blockte er ab. Befürchtete er, dass ich das alles nicht wollte? Ich wollte doch, aber ich wusste einfach nicht wie. Also ließ ich es. Es war an mir, eine Lösung zu finden. Aber wo war sie? Ich sah sie einfach nicht.
Auch wenn ich den Eindruck hatte, dass er das Gespräch abgeblockt hatte, machte er sich ja doch Gedanken darüber. Vielleicht hatte er auch keine Lösung auf Lager und wollte deshalb nicht mit mir darüber sprechen?
Als ich mitbekam, dass er mit seinen Eltern darüber sprach, war ich unendlich enttäuscht. Wir lebten zwar mit im Haus seiner Eltern, aber warum sprach er nicht mit mir? Ich war doch seine Frau, mit mir lebte er doch!
Durch seinen Vater erfuhr ich dann, wie ich es machen sollte. Das tat weh! Aber ich ignorierte den Schmerz, hatte gar keine Zeit, ihn zuzulassen.
Ich musste mich darum kümmern, dass alles so werden würde, wie er es wollte, wie es sein musste, um die Perentionaldialyse durchzuführen. Um Ängste und Sorgen konnte ich mich später kümmern, jetzt war keine Zeit dazu – die Planung und Durchführung beanspruchte meine gesamte Kraft.
Leider hatte er damit, dass er zuerst mit seinen Eltern geredet hatte noch was anderes geschafft, er hatte eine Mauer zwischen mir und ihnen geschaffen.
Sie wollten nur helfen und unter normalen Bedingungen hätte ich das auch gesehen. Aber in dem Moment hatte ich das Gefühl, sie wollten ihn mir wegnehmen. Dachten sie vielleicht, ich könnte nicht genug für ihn sorgen? Ihm nicht all das sein, was er brauchte? Ich redete mir das ein, mit aller Kraft.
Dass sie einfach nur besorgte Eltern waren, die ihr Kind über alles lieben, sah ich nicht. Hätte ich doch nur mit Tom geredet. Vielleicht wäre er in der Lage gewesen, meine völlig irren Gedankengänge wieder in die richtige Richtung zu lenken! Aber natürlich schwieg ich darüber. Meine sonst immer so impulsiven Gefühlsausbrüche schluckte ich runter. Und redete mir ein, alleine damit fertig zu werden.
Als ich ihn einmal unmittelbar nach einer Dialyse – die über den Halskatheder durchgeführt worden war besuchte, verstand ich ihn. Ich verstand, warum er das auf gar keinen Fall wollte. Er war unheimlich schlapp und müde, gerade so, als ob er einen Marathon gelaufen wäre. Er tat mir so unendlich weh und ich versuchte ihn aufzumuntern, aber es gelang mir nicht. Er war rein körperlich so am Boden und es hatte den Anschein, als schäme er sich dafür. Wie sollte ich nur zu ihm durchdringen? Ich fand keinen Weg. Dann klammerte er sich an mich und ohne zu reden verstand ich den stummen Hilferuf. Ja, ich würde alles tun, um ihn in Zukunft davor zu bewahren, ich würde es so umbauen, wie er wollte. Ich schaffe das. Aber warum sprach er nicht mir? Weil er ein Mann ist und Männer keine Schwäche zeigen dürfen? Am liebsten hätte ich ihn an den Schultern gepackt, ihn geschüttelt und geschrieen „Ich bin’s! Red mit mir!“ Aber ich nahm ihn nur in den Arm und sagte nichts.
Er würde seine Heimdialyse machen können.
Mein Plan war fertig: Die Küche würde ich in den Partyraum bauen, Wasser und Starkstrom für den Herd wäre dort kein Problem, weil der Raum direkt über den Keller lag. Der Raum war zwar in der unteren Etage, in der meine Schwiegereltern wohnen (wir bewohnen das Obergeschoss), aber das würde schon gehen. In unsere alte Küche könnte ich dann das Schlafzimmer bauen – Wasseranschluss war da ja schon vorhanden. Unsere Bar würde in den Keller umziehen müssen. Ob wir da wohl wieder feiern würden, bezweifelte ich. Eigentlich hatte ich die Möbel gleich verkaufen wollen, hatte schon jemanden gefunden, der sie nehmen würde. Aber Tom konnte den Gedanken, sich davon trennen zu müssen, einfach nicht ertragen. Also beschloss ich, ihn ganz langsam daran zu gewöhnen, dass die Möbel überflüssig geworden waren. Ob ich dann aber noch mal jemanden finden würde, der sie haben wollte, war zwar nicht sicher. Aber eigentlich war das ja auch egal.
Ich begann alles in Kisten zu verstauen, renovierte den Kellerraum. Verlegte den Fußbodenbelag neu, verschenkte das Besuchersofa, trennte mich von so vielen Dingen, dass ich nicht mehr wusste, welchen Sachen ich wohl am meisten nachtrauerte. Ich verstand, dass Tom an seiner Bar gehangen hatte.  Mir ging es ja jetzt ähnlich: da waren die Babyspielzeuge der Kinder, die ich immer aufgehoben hatte, da war die Sammlung von Postern und Fotos von Popgruppen aus meiner Jugend, da waren Berge von Stoffen, die ich mal irgendwann vernähen wollte... Säckeweise schleppte ich die Sachen weg. Da war die Nähmaschine. Was sollte ich damit? Ich verschenkte sie. Ich hatte ja eine und das würde wohl reichen. Ich hatte die zweite geschenkt bekommen und sie immer aufgehoben, falls meine mal kaputt ging. Das hört sich zwar schlimm an, aber ich kann eben alles gebrauchen. Und nun trennte ich mich von allem.
Es blieb keine Zeit zum Trauern.
Und immer waren Helfer da, die die Möbel in andere Zimmer schleppten. Ich brauchte nicht viel fragen, Freund, Bekannte, Arbeitskollegen von Tom , die wiederrum Freunde mitbrachten…  Ich hätte heulen können über soviel Hilfsbereitschaft. Manchmal lachte ich sogar, wenn wir dann in meiner komplett zerlegten Küche saßen und gemeinsam was aßen.
Doch immer tauchten neue Probleme auf. Mein uralter Küchenschrank, den ich mit soviel Liebe von einer Haushaltsauflösung erbeutet und zurecht gemacht hatte – ich hatte ihn in einem bezaubernden mintgrün gestrichen, hatte für die Scheiben Gardinen selbst gehäkelt – passte einfach nicht in den anderen Raum. Der Herd war kaputt und mein Kühlschrank war uralt. Wir brauchten dringend neue Möbel. Aber woher sollte ich das Geld für eine neue Küche nehmen? Es würde mich mindestens 10000 DM kosten. Ich belieh unsere Lebensversicherung.
Doch dann stellte ich fest, dass es nicht möglich ist, eine Küche binnen vier Wochen zu bekommen. Überall sprach man von sechs und mehr Wochen. Und die Ausstellungsstücke, passten einfach nicht. Es war schrecklich. Andererseits fehlte mir die Zeit, alle Möbelhäuser aufzusuchen. Ich musste ja auch noch für die Kinder da sein, ging jeden Tag 6 Stunden arbeiten und fuhr täglich ins Krankenhaus, musste renovieren  und war oft zu  stolz, Hilfe anzunehmen – abgesehen, von den Möbelpackern. Ich wusste nicht, wie ich all das schaffen sollte. Mein Tag hatte auch nur 24 Stunden. Woher nahm ich die 6 Stunden, die mir täglich fehlten? Vielleicht habe ich mir damals meine Schlafstörungen zugezogen. Wenn ich 5 Stunden täglich schlief, hatte ich schon den Eindruck, nicht alles zu schaffen. Meine große Tochter  Nele musste schlagartig erwachsen werden. Trotz ihrer erst 9 Jahre, übertrug ich ihr oft die Aufgabe, auf ihr  3jährige Schwester aufzupassen, oder mit ihr zu spielen, oder sie  ins Bett zu bringen. Und die Kleine musste hören. Vielleicht war das falsch, aber es ging einfach nicht anders.
Tom legte ich meine Pläne für die neue Küche vor, zeigte ihm Prospekte, aber es schien ihn gar nicht zu interessieren. Warum war er so teilnahmslos? Ich konnte doch nicht alles selbst entscheiden. Selbst die Muster für den Korkboden, schleppte ich ins Krankenhaus.
Tom hatte wieder keine Lust, dass zu entscheiden. Nur auf mein andauerndes Drängen, wählte er eine Farbe aus. Ich hätte eine ganz andere gewählt, musste ihm aber im nachhinein Recht geben. Ein befreundeter Raumausstatter verlegte mir das ganze für nur 1000 DM. Tapezieren konnte ich selber, nur beim Putz bekam ich Hilfe von Toms Schwager. Ich hatte mich für ein ganz blasses lila entschieden. Doch die Katastrophe sah ich  am nächsten Tag: der Putz war gelblich angelaufen. Wahrscheinlich schlugen die Spanplatten durch. Wieder hatte ich einen Tag verloren, den ich mit nochmaligem Anstreichen des Putzes verbrachte. Doch dann war alles perfekt. Die Küchenbauer konnten loslegen.
Ich hatte die Küche mehr zufällig entdeckt, in einem ziemlich kleinen Küchenstudio – es war Liebe auf den ersten Blick. Man war auch in der Lage, sie innerhalb kürzester Zeit nach meinen Vorstellungen und den Gegebenheiten des Raumes umzubauen. Dass noch eine Weile die Mikrowelle fehlen würde, die Dunstabzugshaube, nicht perfekt war – damit konnte ich leben. Ich stand in meiner neuen Küche und war begeistert! Gut, mein gesetztes Preislimit hatte ich mit 3000 DM überschritten, aber dafür sparte ich ja an allem anderen. Die Gardinen würden eben noch eine Weile warten müssen. Und schließlich sparte ich ja auch Geld, weil ich alles selber machte oder irgendwelche Leute anschleppte, die mir halfen Den Herd schloss mir ein Freund an. Da hatten wir wirklich Spaß. Er war gelernter Elektriker, wusste also was er tat. Unser Sicherungskasten hängt im Keller, unter der Treppe und da er wirklich groß ist, stand er völlig verkrampft vor diesem Ding. Völlig erstaunt  stellte er fest, dass verschiedene Leitungen gar keine Erdung hatten, machte seine Witze, dass es ja kein Wunder sei, dass es in unserem Sicherungskasten schon gebrannt habe – in einer schwachen Stunde hatte ich ihm mal davon erzählt. Da ich nicht wirklich der Stromexperte bin, genau genommen den allergrößten Bogen um jede Art von Arbeit mit Strom mache, verstand ich nicht, wovon er redete. Plötzlich  zuckte er zusammen, fiel fast und  hörte schlagartig mit seinen Witzen auf. Er hatte so einen mordsmäßigen Schlag bekommen, dass selbst er – ein Mensch, der immer seine Späße macht – nicht mehr scherzen konnte. Ich bekam immer mehr Angst. Ich wollte doch nicht einen Freund, an dieses Werk aus Stromleitungen verlieren. Ich hüpfte um ihn herum wie das Rumpelstilzchen ums Feuer. Noch Wochen später zog er mich damit auf, dass ich so eine Angst um ihn gehabt hätte.
Endlich konnte ich an den Umbau des Schlafzimmers denken. Ich hatte nur noch 2 Wochen Zeit.
Tom war inzwischen der Bauchkatheder eingesetzt worden und man hatte begonnen den Bauch ganz allmählich mit Glukose zu füllen. Er würde von nun an immer 2 Liter Flüssigkeit im Bauraum haben. Und da sich das am Anfang unmöglich verteilte, erinnerte er an eine Schwangere im 4. Monat. Wir scherzten darüber. Und Tom konnte zumindest teilweise wieder lachen.
Der Katheder funktionierte einwandfrei. Das Kuratorium für Dialyse hatte bereits Kontakt aufgenommen und alle notwendigen Vorkehrungen getroffen, um eine Perentionaldialyse durchzuführen. Dazu musste ein Cykler bestellt werden. Das war die Maschine, mit deren Hilfe man die Dialyse zu Haus durchführen konnte.
Doch die Dialyse funktionierte auch ohne diese Maschine. Momentan tauschte er im vier Stunden Takt die Flüssigkeit im Bauch aus: Er ließ sie einfach in einen Auffangbeutel laufen und befestigte die neue Flüssigkeit entsprechend hoch, so dass sie von ganz alleine reinfloß. Man experimentierte noch mit den Medikamenten, um ihn genügend Vitamine zuzuführen, den Blutdruck stabil zu halten. Aber wie würde sich der Blutdruck verändern, wenn er das Krankenhaus verlassen würde, sich bewegen würde? Keiner konnte das vorhersagen.
Dann meldete sich das Kuratorium bei mir zu Hause an um zu prüfen, ob die Möglichkeiten einer Heimdialyse überhaupt gegeben waren.
Ich musste an den Besuch der Mütterberatung denken, als Nele geboren war. Da kam eine Beamtin die prüfte, ob das Kind in ordentlichen Verhältnissen aufwuchs, ob das Kind ein Bett hätte und ob es auch gebadet werden konnte. Ich fand das damals so erniedrigend. Ich hätte wohl ehr jemanden gebraucht, der mir Tipps gab, was ich machen sollte, wenn das Baby schrie und ich keine Ursache dafür fand. Aber man kontrollierte nur, in welchen sozialen Verhältnissen es  aufwuchs. 
Und jetzt meldete sich jemand an, der mich wieder kontrollieren wollte und dieses Gefühl in meinem Bauch von damals kehrte zurück. Ich musste noch so viel machen: die Küchenfliesen waren noch an der Wand, einen Teil der Dachschräge musste ich ausbauen, der Fußboden müsste neu verlegt werden, an tapezieren war noch gar nicht zu denken.  Einen entsprechenden Waschtisch hatte ich auch noch nicht und woher sollte ich einen Fliesenleger nehmen, der meine immer enger werdenden Geldmittel nicht auffraß? Aber je mehr Probleme auftauchten, umso ruhiger wurde ich.
Beim Dachschrägenausbau half mir ein Nachbar – Toms Freund. Er half mir auch beim Einbau kleiner Halogenleuchten, die Fliesen bekam ich problemlos von der Wand – ich hatte mir das viel schlimmer vorgestellt, die neuen Fliesen brachte mir der Sohn einer Freundin an, das Wasser verlegte Toms Cousin, der auch einen neuen Heizkörper einbaute, der auf Grund des Platzmangels unbedingt verändert werden musste.
Würde ich diese Prüfung bestehen?
Dann kam die Ärztin mit einer Schwester. Mir war sehr unwohl bei diesem Besuch und doch war ich stolz darauf, was ich geleistet hatte.
Als sie wieder gegangen waren, fragte ich mich, warum sie überhaupt dagewesen waren. Sie sahen kurz in alle Räume, aber an Interesse fehlte es ganz offensichtlich. Meine Küche, die ich voller Stolz zeigte, machten sie sofort runter. Die Ärztin erzählte von all ihren automatischen Schränken und wie toll das alles bei ihr wäre. Hatte ich erwartet, dass sie ein Wort der Anerkennung sagen würden? Hatte ich nicht gearbeitet ohne Luft zu holen? War ich nicht ein Organisationstalent – auch in Bezug auf meine Küche – gewesen, auf die ich so stolz war? Ich wurde immer kleiner und es war ein Wunder, dass sich mich am Schluss überhaupt noch sehen konnten, so klein wie ich mich fühlte. Wollte ich nicht einfach nur ein Wort der Annerkennung? Aber ganz offensichtlich war die Ärztin bei den Vorlesungen über Psychologie nicht im Hörsaal gewesen, oder es war einfach zu lange her.
Dann lästerten sie bei einem Kaffee, über einen anderen Patienten, der sich auch für die Heimdialyse entschieden hatte. Dazu hatte er sich im Keller einen Raum eingerichtet. Ich verstand das zwar auch nicht, aber ich sagte nichts dazu. Ich kannte weder den Mann, noch die Umstände, die dazu geführt hatte. Wie sollte ich mir also ein Urteil darüber bilden können?
Warum hatte ich eigentlich Angst gehabt, dass sie die Heimdialyse ablehnen würden?  Weil noch nicht alles fertig war? Doch all meine Ängste und meine Aufregung waren umsonst.
Ich empfand nur Antipathie für die beiden. Und denen sollte Tom sich anvertrauen – ich konnte mir das einfach nicht vorstellen.
Als ich Tom von meinen Eindrücken erzählte, meinte er, er habe vom Chefarzt erfahren, dass das Kuratorium prinzipiell kein Freund der Heimdialyse ist. Verstehen konnte er das auch nicht. Aber er verteidigte sie trotzdem. Was sollte er auch dagegen sagen? Sie würde ihn betreuen und so wie die Lage war, wohl für eine sehr lange Zeit.
Bei der Wahl für die Transplantationsklinik hatten wir uns für die örtlich nächstgelegene entschieden, oder besser: Tom hatte sich dafür entschieden. Er hatte die Zeit und die Ruhe, sich damit zu befassen. Ich verstand seine Entscheidung, denn im Falle einer passenden Niere musste er die Klinik ja schnellstmöglich erreichen können. Zu diesem Zwecke bekam er sogar einen Pieper, den er ständig bei sich tragen sollte. 
Das gab mir richtig Hoffnung, vielleicht täuschte sich ja der Arzt und Tom’s Pieper würde sich schon bald melden, vielleicht hatten ja die anderen Patienten alle eine andere Blutgruppe und er war der einzige mit 0 positiv? Solche Gedanken konnten mich wirklich für kurze Zeit extrem aufbauen und ich lebte in diesen Tagträumen.
Leider war das Erwachen dann immer umso schlimmer.
Wenn ich zu Tom ins Krankenhaus fuhr, war es jedes Mal ein schwerer Gang. Ob ich die Kinder dabei hatte oder nicht, er wirkte immer niedergeschlagen, mutlos. Seine kleine Tochter Anne durfte er nicht mal auf den Arm nehmen – mehr als 3 Kilo durfte er fortan nicht heben. Das hing mit der Flüssigkeit im Bauchraumraum zusammen, die Bauchdecke und die Muskulatur durfte nicht beansprucht werden.
Doch er vertrug die Dialyse gut. Und das machte ihm wenigstens etwas Mut. Die Ermattung, die er nach der Hämodialyse erlebt hatte, blieb aus. Auch die Schwestern auf der Station – die waren einfach Spitze. Am Ende seines Aufenthaltes, fragten sie mich sogar, ob ich einen Kaffee wollte, wenn ich gerade um die Kaffeezeit da war.
Einmal traf ich den Arzt im Fahrstuhl. Ich erkannte ihn nicht gleich, doch er sprach mich an, wie es mir ginge. Entsetzt sah ich ihn an: „Wie es mir geht? Ich habe Angst und ich mache mir unendlich viele Sorgen um meinen Mann, Ich habe ihn nie so erlebt. Ich meine er war noch nie aus Ausbund an Gefühlsausbrüchen, aber so wie er jetzt ist, so war er auch noch nie. Meinen sie nicht, man sollte mal einen Psychologen hinzuziehen?“ Die Worte sprudelten nur so aus mir heraus. „Wieso denn das?“ Er wirkte verständnislos. „Wieso? Haben sie ihn in den letzten fünf Wochen lachen sehen? Ich nicht. Er ist 32 Jahre alt und darf seine Tochter nicht mehr auf den Arm nehmen. Er wird nie wieder in ein Schwimmbad gehen können. Sein Leben wird so eingeschränkt sein, dass ich mir das noch nicht mal auszumalen bereit bin. Und ich habe wirklich momentan nicht viel Zeit darüber nachzudenken. Aber er hat sie. Was glauben sie, wie er sich fühlt?“ Entsetzt sah er mich an. Sicher hatte er die Sache gar nicht so gesehen. Als Nephrologe war sein Teil der Arbeit getan – er konnte nicht mehr machen. Doch als Chefarzt und Mensch? Bei meinen nächsten Besuchen erzählte mir Tom immer öfter, dass der Doktor sehr häufig nach ihm sah, sich Zeit nahm und lange mit ihm sprach. Und ich hatte den Eindruck, dass ihm das gut tat. Einen Psychologen wurde er nicht vorgestellt, vielleicht hatte er es abgelehnt, er sprach nicht darüber – und ich auch nicht. Aber ich war froh, überhaupt den Mut gefunden zu haben, etwas gesagt zu haben.  
Es dauerte auch nicht lange und die schwarze Gabi und ihr Mann Stefan besuchten uns. Zwar wussten sie, dass Tom noch nicht zu Hause war, aber sie wollten ihm auch beistehen. Wir schafften es sogar, dass Tom stundenweise das Krankenhaus verlassen konnte. So vertrieben wir uns die Zeit in der Stadt und Tom sah mal wieder was anderes, als seine inzwischen vertraute Umgebung. Wir redeten unglaublich viel. Gabi wollte ganz genau wissen, wie er sich fühlte und wie es ihm ging. Komisch, sie hatte keine Scheu all die Fragen zu stellen, die ich nicht stellten konnte. Wie sein Blutdruck sich verhielt, wie er sich im Dialysezentrum fühlte, wie das mit seinem Harndrang war, was er überhaupt fühlte und wie er seinen Körper fühlte. Tom gab zu allem bereitwillig Auskunft und redete, so wie ich ihn lange nicht mehr hatte reden hören. War ich einfach nicht in der Lage, die richtigen Fragen zu stellen? Hatte ich Angst ihn zu verletzten, oder nur mich selber? Sicher, Gabi war Ärztin und er hatte gelernt, mit Ärzten zu reden. Und sie war uns immer eine gute Freundin. Aber ich war seine Frau?!
Als wir später zu Hause, alleine waren, erzählte ich ihr davon, wie ich das empfunden hatte.
„Das habe ich schon zu oft erlebt, wie Sprachlosigkeit zwischen den Ehepartnern entsteht, wenn so etwas über sie hereinbricht. Aber ich bin mir sicher, dass ihr das trotzdem schafft.“   

Die Arbeit zu Hause ging gut voran, aber noch war ich lange nicht fertig und Toms Entlassung stand unmittelbar bevor. Wir hatten beschossen, ihn ins Besucherzimmer seiner Eltern einzuquartieren, bis ich fertig sein würde.
Dann kam die Grundausstattung zur Heimdialyse: der Cycler – eine Maschine so groß wie eine altmodische Schreibmaschine, Verbandsmaterial, Einweghandschuhe, medizinische Klemmen und Scheren, ein Blutdruckmessgerät, sogar eine Personenwaage, Cyklerschlauchsysteme und natürlich das Dialysat. Man hatte ihn auf eine Durchlaufmenge von 12 Litern nachts und zusätzlich zwei Litern am Tag eingestellt. Das bedeutete für mich pünktlich alle 4 Wochen 350 Liter Flüssigkeit – abgepackt in Beutel und die in Kartons zu 10 Kilo – vom Laster in den Keller und täglich vom Keller in die zweite Etage zu schleppen. Tom durfte ja nichts tragen. Und ich schleppte, all die Wochen, Monate und am Ende Jahre. Die benötigten Mengen musste ich per Fax bestellen, 1 Woche vor Anlieferung. Ich weiß nicht warum, aber ich vergaß es manchmal einfach. Es hatte sich einfach so eingeschliffen, dass ich dafür zuständig war. Und ich vergaß es eben einfach und wenn ich es vergaß, dann sah Tom mich mit so einem vorwurfsvollen Blick an – der tat weh, unendlich weh. Ich vergaß es ja nicht mit Absicht, aber es war so viel, woran ich denken musste und da passierte es eben.
Dann kam das nächste Problem auf mich zu: Essen. Tom bekam einen äußerst strengen Diätplan, mit entsprechenden Kochanweisungen. Salzarm – na dachte ich mir ja schon, aber Kaliumarm – was war das? Alles was ich bis dahin über das schonende Kochen und den Erhalt von Vitaminen gelernt hatte, konnte ich komplett vergessen. Kartoffeln sollten, wenn möglich, 24 Stunden vor dem Verzehr in Wasser eingeweicht werden, das Kochwasser während des Kochens  4- bis 5-mal abschüttet werden, für Gemüse galt das gleiche – und alles immer schön sprudelnd kochen! Instantprodukte oder Fertiggerichte waren absolutes Tabu. Joghurt und Bananen nur im Ausnahmefall essen – die Liste nahm kein Ende mehr. Wenn ich abends im Bett lag und meine Arbeit beendet hatte, führte ich mir diese Lektüre zu Gemüte. Wie sollte ich da überhaupt noch kochen? Man hatte mir aber – und dafür war ich echt dankbar – ein paar Rezepte mitgegeben.
Wenn ich mich jetzt noch mal informieren müsste, würde ich mich im Internet informieren: einfach Suchwort Kaliumarm kochen eingeben und man hat  seitenweise Erklärungen, Hinweise, Kochrezepte. Aber ich hatte eben kein Internet, so dass die paar Seiten nach kurzer Zeit auswendig konnte
So gab es bei uns eben gefüllte Zucchini. Das Gehackte band ich nicht mit Semmelmehl, sondern mit Quark – ich lernte nach und nach die gewohnten Handgriffe durch andere zu ersetzten. Ich kaufte eben Putenfleisch, statt Schwein, kochte mehr als ich gebraten habe. 
Ich telefonierte mit Doreen. Wie durch Zufall fiel mir ein, dass sie doch Diätkochin gelernt hatte. Ich kannte sie noch nicht, als die in der Lehre war und sie hatte nie in ihrem Beruf gearbeitet. Aber vielleicht wusste sie ja noch was.
Wir führten eine merkwürdige Freundschaft, obwohl uns nur wenige Kilometer voneinander trennen, hören wir manchmal wochenlang nichts voneinander. So hatte ich auch vergessen, ihr von Tom zu erzählen.
Und als  ich die jetzt anrief und ihr jetzt erzählte, was passiert war, fing sie ganz bitterlich an zu weinen. Ich hatte mit Bestürzung oder mit 1000 Fragen  gerechnet, aber diese Reaktion verwunderte mich nicht nur, sie erschreckte mich. Sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen und ich kam nicht dazu, meine Fragen zu stellen. Sie versprach, bei mir vorbeizukommen. Aber jetzt könne sie nicht reden.
Als sie am nächsten Tag vorbei kam, stellte sie mir die erwarteten tausend Fragen, vor allem wie das weiter ginge. Zu meinem eigenen Erstaunen musste ich feststellen, dass ich einen unglaublich konkreten Plan hatte. Ja, es hörte sich fast an, als ob alles für mich normal sei und ich irgendwoher neue Kraft geschöpft hätte, die mich weitermachen  und nicht verzweifeln ließen.
Ich spürte regelrecht, wie Doreen aufatmete. „Ich hatte schon Angst, dich völlig verzweifelt vorzufinden. Entschuldige, dass ich so losgeheult habe und mich nicht beherrschen konnte. Ich musste immer wieder an meine Lehre denken. Ich war für kurze Zeit auf der Dialysestation eingesetzt. Und was ich dort gesehen habe, war schlimm, einfach nur schlimm. Die Leute, die da an den Maschinen hingen, die waren mehr tot als lebendig. Sicher, das ist Jahre her, trotzdem…“ Sie holte tief Luft und ich merkte, dass sie wieder kurz vor einem totalen Heulkrampf war. „Umso mehr freut es mich eben, dass es nicht mehr so zu sein scheint. Ich habe Tom schon so gesehen, wie ich die Menschen damals gesehen habe..“ Ich begann sie auszufragen, wie das mit dem Essen wäre und mit kaliumarm und ob sie noch ein paar  Tipps für mich auf Lager hätte.  Und sie hatte jede Menge, auch wenn sie erst überlegte, aber ihr fielen immer wieder neue Sachen ein. Vor allem  einfache Dinge fielen ihr wieder ein,  die das Kochen nicht in Strapazen ausarten lassen, z.B. Soßen anzudicken, in dem man eine Kartoffel mit kocht. Wir gackerten bis spät in die Nacht. Als sie ging, ging es uns beiden besser.
Hatte ich wirklich einen so konkreten Plan von meinem zukünftigen Leben? Würde ich das alles schaffen? Und das die nächsten Jahre? Ich schob den Gedanken an Jahre weit von mir. Ich gestattete mir an den nächsten Tag zu denken – auf keinen Fall weiter. Und strahlte ich wirklich eine solche Souveränität aus, dass ich das alles schaffe? Dass ich keine Angst habe? Dabei war ich doch manchmal völlig verzweifelt und heulte mich in den Schlaf. Ich fragte nicht mehr nach dem „Warum“, ich war eigentlich nur noch verzweifelt.

 

2.



Doch dann kam endlich der Tag der Entlassung. Endlich würden meine täglichen Fahrten ins Krankenhaus wegfallen und ich würde mehr Zeit haben, mich wieder um die Kinder  kümmern können und endlich das Schlafzimmer fertig kriegen. Und Tom kam endlich heim. Ich hoffte, dann könnten wir auch wieder „normal“ miteinander umgehen, die Umgebung würde uns nicht mehr einschüchtern.
Wie ein Fremder betrat er das Haus, unsere Wohnung, sah sich an, was ich gemacht hatte – kein Wort kam über seine Lippen. Er war maßlos müde, als ob er die letzten Wochen nicht geschlafen hätte.
Das wird schon wieder, tröstete ich mich. Er konzentrierte sich darauf sein „Krankenzimmer“ einzurichten, ließ sich nicht ablenken. Also begann ich, seine Wäsche nach und nach in die Waschmaschine zu stopfen. Ich wollte diesen Krankenhausgeruch loswerden, ich wollte alles loswerden, was mich ans Krankenhaus erinnerte, was mich daran erinnerte, was mit Tom passiert war.
Irgendwie verlief der Abend traurig. Ich hatte mich so gefreut und nun war so eine bedrückende Stimmung. Als die Kinder im Bett waren, legte auch er sich hin.
Ich kroch zu ihm.
Ich schlief mit ihm.
Nicht weil ich es vor Verlangen nicht mehr ausgehalten hatte. Dazu war auch ich viel zu müde, nicht nur körperlich. Ich fühlte mein eigenes Ich nicht mehr. Ich tat es für ihn, wollte ihm das Gefühl weitergeben, dass ich ihn liebe, dass ich ihn brauche und ich wollte diesen Arzt lügen strafen.
Mich störte sein Katheder nicht. Und auch in den Jahren die folgen sollten, störte er mich nie. Es gab die vom Arzt angesprochenen ästhetischen Vorbehalte nicht.
Aber das Klima blieb angespannt. Er redete nicht darüber, was ihn bedrückte. Und ich kam einfach nicht drauf. Ja, seine Lage war schlimm. Aber wir waren doch alle für ihn da, waren um ihn.
Die folgenden Abende und Nächte verbrachte ich mit der Renovierung des Schlafzimmers. Meine Nachbarin half mir. Es war wirklich lustig. Der Nachbar von Gegenüber lag in seinem Wintergarten und beobachtete uns, wie wir versuchten die 4 Meter langen Deckenbahnen anzukleben. Das muss ein wirklich komischer Anblick gewesen sein, wie wir zwei Frauen lachend versuchten, die Tapete an die Decke zu kriegen. Stellenweise hatten wir mehr Kleber in den Haaren hatten, als auf der Tapete war. Dann kam auch noch mein Schwiegervater und gab uns gute Ratschläge. Wieso ich keine Tapezierbürste verwendete?!
„Wenn Gott gewollt hätte, dass ich Tapezierbürsten verwende, hätte er mir Tapezierbürsten wachsen lassen und keine Hände.“, sagte ich lachend.  Er gab mir dann keine guten Ratschläge mehr. Dafür schien unser Nachbar von gegenüber sich noch mehr zu amüsieren und wir konnten uns nicht verkneifen, ihn mit unserem Bier zuzuprosten. Wenn er uns schon so offensichtlich beobachtete, sollte er wenigstens wissen, dass wir das auch wussten.
Ich strich das ganze quittegelb. Fanden alle sehr gewagt, aber wenn der Raum schon steril sein sollte, dann sollten die Wände wenigstens nicht an ein Krankenhaus erinnern.
Dann fuhr ich los, kaufte Kleiderschränke – bis dahin hatten wir die Einbauschränke im Kinderzimmer benutzt – schleppte mit meinen Nachbarn die Betten runter, räumte alles ein – und dann war ich endlich fertig. Es war kaum zu glauben – ich war fertig. Ich hatte in nur acht Wochen die ganze Wohnung umgebaut, Unmengen Geld ausgegeben und gearbeitet wie ein Tier. Und obwohl ich so stolz auf mich war, ich konnte mich nicht darüber freuen. Ich war zwar froh, wieder mit Tom in einem Zimmer zu schlafen, aber irgendwie stellte sich das erhoffte Glücksgefühl nicht ein.
Tom richtete sich ein. Der Spültisch war zwar noch nicht angeschlossen, aber in dem Besucherzimmer seiner Eltern  hatte er auch keinen Abfluss. Ich wollte endlich wieder mit ihm in einem Bett schlafen können. Ich wollte endlich mit all der Arbeit fertig werden. Irgendwie war ich am Ende meiner Kräfte. Und dabei begann nun erst die Zeit, in der  ich sie brauchen würde. Da hatte der Arzt wohl recht und mir wäre lieber gewesen, ich hätte auf ihn gehört und wäre sparsamer mit ihnen umgegangen. Ich hatte keine Ahnung, was auf mich zukam.
Der Cycler funktionierte gut. Auf den ersten Blick war es ein unheimliches Gewirr von Strippen, an die Tom sich anschloss. Aber eigentlich war es ganz einfach: Es wurden drei Beutel Flüssigkeit mit dem Schlauchsystem verbunden, das wiederrum mit der Maschine verbunden war. An einen Schlauch schloss er seinen Bauchkatheder an und der letzte Schlauch wurde für den Ablauf der Flüssigkeit verwendet. Die Flüssigkeit wurde auf einer Wärmeplatte, die sich auf dem Cycler befand auf 37 °C erwärmt – das ist zwar logisch, dass er sich keine kalte Flüssigkeit in den Bauch laufen lässt, aber ich hatte über so was noch gar nicht nachgedacht. Die ganze Prozedur führte er mit Unmengen an Desinfektionsmitteln, Einweghandschuhen und Mundschutz durch. Das Fenster war geschlossen und er schloss auch meistens die Tür zu, damit keine Bakterien in den Raum geschleudert wurden. War er erst mal angeschlossen, konnte er den Raum nicht mehr verlassen – für die nächsten sieben Stunden. Gut, da er ja nicht mehr pinkeln konnte, war dass eigentlich auch kein Problem. Wenn er was brauchte, konnte ich es ihm ja bringen. Es veranlasste uns aber dazu, einen Fernseher fürs Schlafzimmer zu kaufen, so konnten wir wenigstens zusammen fernsehen.
Die Maschine begann dann zu gurgeln und zu pumpen – aber alles in allem ein Geräusch, mit dem man gut leben und schlafen konnte, wenn man sich erst mal daran gewöhnt hatte.
Am Anfang wachte ich oft auf, wenn das Pumpen begann und lauschte, ob auch alles klar ging. Dann wurde es zur Gewohnheit. Die Maschine war zu einem Teil unseres Lebens geworden.
Toms Eltern und seine Schwester hatten sich sofort zur Lebendspende bereiterklärt. Auch Freunde, die die gleiche Blutgruppe wie er hatten, waren dazu bereit. Da ich wusste, dass ich eine andere Blutgruppe habe als er, schied ich von vornherein aus  – das dachte ich.  Ich erfuhr erst sehr viel später, dass die Blutgruppe nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Außer dem Arzt, der seine Krankheit diagnostiziert hatte, hatte ich nie mit einem Arzt gesprochen. Ich traf niemanden, der mir erklärte, wie das alles von statten geht, welche Voraussetzungen gegeben sein müssen. Es war einfach niemand da, der mich aufklärte, welche Möglichkeiten es gab, ohne dass ich fragen musste. Viele Fragen wusste ich gar nicht und hätte doch so gerne die Antworten auf die nicht gestellten Fragen  gewusst!
Und so ahnte ich eben auch nicht, dass Blutgruppen eine untergeordnete Rolle spielen.
Später, in der Transplantationsklinik schnappte ich mal auf, was ich eigentlich für eine wäre, dass ich nicht dazu bereit gewesen wäre, für meinen Mann zu spenden – das verletzte mich so sehr. Mir hatte doch nie jemand gesagt, dass dazu eigentlich ganz andere Parameter von Wichtigkeit sind. Ich fühlte mich wie eine Aussätzige und am meisten störte mich, dass ich mich nicht mal wehren konnte. Und noch ein anderer Gedanke plagte mich: Wenn es wirklich ein genetischer Defekt war, der ihn erkranken lies, wäre ich die einzige, die für die Kinder da sein könnte, wenn sie diesen Defekte geerbt hatten.
Zwei sehr lange und enge Freunde von Tom, die spontan bereit dazu waren, gab man nicht mal die Möglichkeit sich untersuchen zu lassen, ob sie überhaupt in Frage kämen  – auch wenn sie es noch so ehrlich meinten und Tom helfen wollten.
Dank des Dschungels deutscher Gesetze führte da einfach kein Weg hin.
Es könnte eine „Abhängigkeitsverhältnis“ aufgebaut werden, oder man könnte sich bereichern. Ja, was glaubten die eigentlich alle? Wo sollten wir denn das Geld her haben,  eine Niere zu „Kaufen“! Wir hatten ja nicht mal das Geld für eine neue Küche! Ich fand das so absurd, dass ich nicht mal was dazu sagen konnte.
Und die, die sich dazu bereit erklärt hatten, dachten ohne Zweifel nicht mal andeutungsweise an so was.
Toms Schwester fiel gleich durch das Raster, weil sie selbst nicht die stabilste Gesundheit hat.
Auf seine Eltern kamen nun Unmengen an Untersuchungen zu. Es wurde alles untersucht, von den Augen, bis zur Knochendichte. Sie ließen alles geduldig über sich ergehen. Selbst, wenn sie nicht geeignet wären, am Ende würden  sie genau wissen, welche Krankheiten in ihnen schlummerten – es gab aber zur Beruhigung aller,  nichts erwähnenswertes. Doch die Untersuchungen nahmen kein Ende. Zu Anfang hatte ich gehofft, dass alles innerhalb kürzester Zeit vorbei sein würde, dass sie zum Spenden geeignet sein würden und in einem halben Jahr alles vorbei wäre. Doch das waren Illusionen. Anstatt die Bereitschaft  so gut wie möglich zu unterstützen, eine Transplantation so schnell wie möglich in die Wege zu leiten, gewann ich immer mehr den Eindruck, dass den Spendern alle Steine der Welt in den Weg gelegt werden sollten. Ich verstand das nicht. Wollte man den Einschränkungen, die mein Mann hinnehmen musste kein Ende setzen? Toms Mutter hatte zusammen mit ihrer Tochter eine Reise nach Amerika geplant, war schon dabei, die Reise zu stornieren, weil ja eine mögliche Transplantation bevorstand. Aber das Kuratorium war der Meinung, man habe ja viel Zeit und so schnell ginge das ja auch nicht und sie sollte ganz unbesorgt fahren. Warum ging es nicht so schnell? Ich wünschte diesen Ärzten, eine Woche mit dieser Maschine zu leben. Man konnte damit leben – sicher, wir hatten es auch gelernt. Aber vielleicht würde man sich dann doch mal mehr bemühen.
Oder sahen die Ärzte ganz andere Problemfälle, so dass unser Fall doch gut aussah und sie darum unsere Ungeduld nicht verstanden? Oder war das auch einfach nur eine Art der „Prüfung“ für die Spender? Wollte man so sicher gehen, dass die Bereitschaft keine spontane unüberlegte Aktion war und dass man auch in Monaten noch dazu stand? 
Ich fand keine Antworten auf meine Fragen.
Es war Frühjahr geworden.
Nele besuchte die dritte Klasse der Grundschule und sollte nun noch mal die Schule wechseln, da die Grundschule in unserem Ort geschlossen werden sollte. Nachdem die Klasse bereits innerhalb des Ortes in ein kleineres Schulgebäude umgezogen war, sollte es hier nun gar keine Schule mehr geben.
Die Eltern organisierten Proteste, wir zogen sogar vors Landratsamt, um unseren Unmut dort kund zu tun. Ich war natürlich dabei, da ich es unglaublich fand, wie die Kinder hin und her geschoben wurden. Aber all unsere Bemühungen, den entsprechenden Stellen klar zu machen, was sie den Kindern antaten, hatten keinen Erfolg. Ich verstand ja, dass man sparen musste. Aber mussten sie bei den Kindern anfangen?
So wurde dieser Jahrgang in den ersten vier Schuljahren, den wichtigsten Jahren, dreimal umgeschult und sie hatten drei verschiedene Lehrer.
Ich dachte an meine eigene Schulzeit. Ich hatte mich immer geborgen gefühlt, hatte meine Lehrerin und meine Schule geliebt und eine Beziehung dazu aufgebaut. Das würden diese Kinder nie erleben.
Als Nele`s Jahrgang die 10. Klasse erreichte – natürlich in verschiedenen Schulen, da sie nach der vierten Klasse ja wieder auseinander gerissen wurden – stellte sie eines Tages fest, dass nur 7 von den damals 25 Kindern die 10.Klasse geschafft hatten. Die anderen 18 waren sitzen geblieben oder zurückgestellt worden, oder mussten aus irgendeinem anderen Grund eine Klasse wiederholen.
Als mir das bewusst wurde, dachte ich an die selbstgefälligen Beamten in den Behörden, die leichtfertig die Schule geschlossen hatten – Schulnetzoptimierung.  Sie hatten richtig was erreicht damit. Oder war der gesamte Jahrgang „dümmer“ als andere Jahrgänge?
Tom war nach wie vor krankgeschrieben.
Trotzdem ging er zur Arbeit, stundenweise. Sah die Post durch, wollte sich auf dem laufenden halten. Er wurde empfangen wie ein Kriegsheld. Alle freuten sich, ihn nach acht Wochen wieder zu sehen. Und obwohl man ihm den langen Krankenhausaufenthalt ansah, traute sich keiner so recht zu fragen, was denn mit ihm wäre.
Sie wollten alle nur, dass er wiederkam. Der Gedanke, einen anderen Chef zu bekommen, bedrückte alle. Sie  waren ein eingeschworenes Team. Hatten zusammen einen Konkurs hinter sich gebracht und der hatte nur enger zusammengeschweißt.
Während seiner Abwesenheit, hatten die anderen  seine Arbeit mit übernommen. Zwar war keiner da, der kontrollierte, aber das war in dieser Zeit auch nicht nötig. Sie erledigten den Schriftverkehr, Entscheidungen über Anschaffungen traf Tom vom Krankenhaus auf. Beschwerden bearbeiteten die anderen  so einigermaßen, sicher nicht so, wie er es gemacht hätte, aber sie waren vom Tisch – nur das zählte in diesen Momenten. Jeder tat was er konnte und so gut er konnte. Tom konnte wirklich stolz auf seine Leute sein.
Viel zu spät bemerkte ich bei einem Blick auf unsere Kontoauszüge, dass da etwas nicht stimmen konnte. Ich hatte zwar viel Geld ausgegeben, aber es konnte ja nicht sein, dass ich unseren Dispo derart beansprucht hatte. Ich rechnete nach, prüfte jede Position, und es dauerte ewig, bis ich dahinter kam. 
Toms Gehalt fehlte. Völlig schockiert rief ich seine  Lohnbuchhalterin an. Sie sitzt in einem der anderen Häuser. Ich kannte sie und mochte sie, sie ist so gründlich und ordentlich und verlässlich und so was schätze ich sehr.
Sie klärte mich auf, dass Tom seit nun mehr als sechs Wochen krank ist und die Zahlung durch den Arbeitgeber damit eingestellt wird. Die Krankenkasse übernimmt nun die weitern Zahlungen, bis zu seiner Gesundschreibung.
Völlig erbost rief ich da an. Was war denn nun wieder los? Ging denn mal irgendwas glatt?
Ich wurde aufgeklärt, dass ich das zu beantragen habe und dass das nicht von alleine läuft. Ja, woher sollte ich denn das wissen? Ich war noch nie in so einer Lage, dass jemand länger als 6 Wochen krank war und bei meinem Mutterschaftsurlaub war das alles von alleine gegangen.
Irgendwie wusste ich ja, dass der Arbeitgeber nur sechs Wochen bezahlt, aber was dann kommt, wusste ich einfach nicht. Wieder ein Punkt, über den mich niemand aufgeklärt hatte.
Ich hatte angenommen, dass die Krankenkasse das von alleine merkt, wenn einer ihrer Versicherten so lange krank ist und dann von sich aus zahlt. Schließlich wussten die ja auch, was ihre Versicherten verdienten anhand der abgeführten Beiträge.
Ich stellte also die erforderlichen Anträge, reichte Lohnbescheinigungen ein und wartete. Ich wartete ziemlich lange, bis wir endlich Geld bekamen. In der Zwischenzeit musste ich eben zusehen, wie ich klarkam. Tom wollte ich mit den Problemen nicht belasten. Er würde sich sicher so verkommen, als ob er seine Familie nicht mehr ernähren konnte. Er hat da eben total altmodische Vorstellungen: Er ist der Ernährer. Ich wollte sein Selbstbewusstsein auf gar keinen Fall untergraben. Er hatte genug mit seiner eingeschränkten Leistungsfähigkeit zu tun. Immer wieder stieß er an die Grenzen seiner körperlichen Belastbarkeit und da wollte ich ihm das eben ersparen. Und  es ging ja auch. Wir kamen über die Runden, auch ohne, dass er sich damit befassen musste. 
Als die Krankenkasse endlich das erste Geld überwies, musste ich feststellen, dass es nur 70% seines Einkommens war. Ich war unglaublich sauer. Er hatte die letzten 10 Jahre in die Krankenkasse eingezahlt und nie Leistungen bezogen. Er war einfach nie krank. Und nun nahmen die Abzüge vor - ich empfand das als echte Frechheit. Dass sie seinen Krankenhausaufenthalt bezahlt, die Operation und Untersuchungen bezahlt hatten, dass sie die Maschinen und das Dialysat bezahlt hatten, warf ich ungerechter Weise nicht mit in die Wagschale. 
Und das Problem war ja auch vom Tisch, als Tom wieder gesund geschrieben wurde. Zwar scheuten sich die Ärzte davor, ihn wieder arbeiten zu schicken, aber Tom wollte es so. Er wollte merken, dass er gebraucht wurde.
Sein Chef  war äußerst verständnisvoll und drängte ihn nicht. Ließ Tom so arbeiten wie er konnte, akzeptierte, dass Tom mittags immer nach Hause fuhr, Zwischendialyse machte. Er aß bei seiner Mutter. Schließlich war eine regelmäßige, gesunde Ernährung für ihn sehr wichtig. Nur so konnte er auch seine Leistungsfähigkeit steigern. Und nach und nach normalisierte sich sein Leben, fand er seinen Arbeitsrhythmus wieder.
Problematisch blieb sein Blutdruck. Der spielte ständig verrückt. Wir versuchten das zu beobachten. Es musste sich doch ein Zusammenhang herstellen lassen, zwischen dem was er tat und dem plötzlichen Ansteigen oder Abfallen. Wir konnten ihn nicht herstellen. Manchmal saß er nur in seinem Büro, ging ganz normaler Arbeit nach und plötzlich stieg der Blutdruck sprunghaft an.
Einmal passierte ihm das mitten in einem Kundengespräch. Er war plötzlich nicht mehr in der Lage zu sprechen. Völlig panisch und mit letzter Kraft versuchte er dem Kunden klar zu machen, dass sie das Gespräch auf später vertagen müssten. Er hatte die Fähigkeit verloren, mehr als einfache Wörter zu sprechen, eine Art motorische Aphasie  hervorgerufen durch das sprunghafte Ansteigen des Blutdrucks.
Sein Verstand war völlig klar und er erlebte das mit vollem Bewusstsein mit.  Und das war wohl das schlimmste. Er wollte etwas sagen und war nicht in der Lage, seinen Mund zu öffnen. Seine Kollegen riefen mich an. Sie scheuten sich davor, einen Arzt zu rufen.
Ich brachte ihn nach Hause. Er kullerte sich auf dem Bett zusammen und war völlig verzweifelt. Ich hatte einfach nur Angst, stellte mir vor, wie es wäre, wenn dieser Zustand anhielt. Wie gern hätte ich ihn in den Arm genommen, ihn und mich getröstet, aber er ließ mich nicht an sich heran. Ich fühlte seine Einsamkeit, seine Hoffnungslosigkeit und drang nicht zu ihm durch. Was sollte ich nur tun? Wie kommt man dagegen an? Hätte ich vielleicht nur hartnäckiger sein sollen? Aber meine eigene Angst und mein Entsetzen hielten mich zurück. Ich versagte einfach und hätte doch da sein müssen. Wir hätten beide für uns da sein müssen, uns gegenseitig auffangen müssen, wenn wir zu fallen schienen.
Wie lange würde dieser Zustand andauern? Es waren sehr ungewisse und angsterfüllte Stunden. Wir hatten beide keine Ahnung von dieser Auswirkung des Bluthochdrucks. Aber nachdem er einige Zeit Ruhe um sich herum hatte und ein schnellwirksames flüssiges blutdrucksenkendes Mittel eingenommen hatte, fand er auch wieder die Worte um sich verständlich zu machen.
Er lernte nun sehr schnell auf die ersten Anzeichen zu reagieren und schnellstmöglich ein Medikament einzunehmen.
Auch seine Augen wurden von dem Bluthochdruck in extreme Mitleidenschaft gezogen. Eine Veränderung am  Augenhintergrund führte zu einer irreversiblen Sehschwäche. Aber da er als Kind schon eine Brille getragen hatte, gewöhnte er sich schnell wieder daran.
Es kam noch öfters vor, dass ich ihn von der Arbeit abholte, weil sein Blutdruck plötzlich hochschnellte und er dann auch nicht mehr fahren konnte.
Aber wir wussten nun, wie wir damit umzugehen hatten. Solche Angstattacken, wie beim ersten Mal bekamen wir nicht wieder, auch wenn ich mir jedes Mal wieder Sorgen machte. Irgendwas konnte doch da nicht stimmen, wenn der Blutdruck verrückt spielte!

3.


Unseren Jahresurlaub hatten wir bereits im Dezember mit Freunden gebucht, bevor Tom erkrankt war: wir wollten zusammen mit ihnen in ein Ferienhaus in Südfrankreich, ganz in der Nähe der spanischen Grenze.
Ich glaubte nicht mehr an diesen Urlaub. Aber Tom wollte fahren. Wir hatten aber beide keine Ahnung, wie das gehen sollte, wenngleich uns das  Kuratorium zuriet  Man eröffnete uns sogar die Möglichkeit, das Dialysat direkt an unseren Urlaubsort liefern zu lassen. Der Vertrieb des Materials war Europaweit kein Problem. Aber wir lehnten ab. Tom meinte, das können wir nicht machen, wenn das was schief geht und es ist ja auch nicht so, als ob man ein Brot vergessen hätte. Für ihn war das eben lebenswichtig und bereits einen Tag ohne Dialyse konnte verheerende Folgen haben. Aber er wollte den Urlaub. Und ich brauchte ihn. Vielleicht wollte er ihn auch, weil ich ihn so dringend brauchte. Ich weiß es nicht und er sagte nicht dazu. Wir beschlossen also zu fahren. Das Kuratorium fertigte uns eine Liste der nächstgelegenen Ärzte und Krankenhäuser an. Vor Antritt der Fahrt bekamen wir eine weitere Liste mit den verabreichten Medikamente und den aktuellen Blut- und Dialysewerte. Für den Fall, dass etwas passierte, mussten die Ärzte auch dort sofort im Bild über seinen Zustand sein.
Doch dann ergab sich ein weiteres Problem. Ich fuhr ein Beetle Cabrio – es reichte durchaus für meinen Job und auch wenn ich größere Sachen transportieren wollte, schaffte ich es immer, mir ein entsprechendes Fahrzeug zu besorgen. Dazu hatte ich ja auch Kunden, die über Lieferfahrzeuge verfügten.
Tom fuhr eine Passat Limousine. Aber wie wollten wir zu viert und mit all dem Dialysat mit der Größe dieses Auto auskommen? Alles  unterbringen?
Mit Heulkrämpfen und kurz vorm totalen Nervenzusammenbruch schaffte ich es, Tom mit diesem Problem zu konfrontieren. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, wie das gehen sollte. Und unsere Geldmittel würden nicht auch noch ausreichen, ein  Auto zu mieten.  Würde jetzt doch der urlaub ausfallen müssen? 
Aber Tom hatte die rettende Idee: er ließ eine Dachbox aufbauen  –und seit dem bin ich von diesem Auto überzeugt. Scherzend meinte Tom, was ich nicht reinkriegen sollte, und ich brauche, dass kaufen wir eben neu. Und es war kein Problem, im Gegenteil Wir hatten mehr als genügend Platz.
Mitten in der Nacht starteten wir. Frank war schon am frühen Abend ins Bett gegangen, da er ja sieben Stunden an der maschine bleiben musste. Vor uns lagen 2000 km -   20 Stunden  - Fahrt. Wir hatten uns vorgenommen, Zwischenstation einzulegen.
Die Kinder schliefen natürlich nicht im Auto. Sie waren viel zu aufgeregt: Urlaub, Abenteuer... Stellenweise fragte ich mich, warum wir mitten in der Nacht aufbrachen, wenn sie so wie so nicht schliefen. Warum schlafen eigentlich andere Kinder bei Autofahrten, nur meine nicht? Die ersten Kilometer ging es auch noch, aber nach und nach wurde es für sie verständlicherweise immer langweiliger. Sie wollten lieber aufstehen, als immerzu  angeschnallt sitzen bleiben zu müssen. Wir tauschten die Plätze. Mal saß Nele vorne und ich spielte mit Anne, dann saß Anne vorne und ich rätselte mit Nele, dann saßen wieder beide hinten und ich vorne und dann stritten sie sich. Ich dachte mir immer wieder neue Spiele aus, um sie abzulenken. Aber es war trotzdem für uns alle anstrengend.
Als wir in Lyon ankamen, waren wir alle vier am Boden, die Kinder waren müde, Tom war am Ende seiner Kräfte und ich war völlig entnervt. Es war das erste mal, dass ich Tom so erlebte. In all den Jahren hatte ich ihn so körperlich am Ende nie erlebt. Das machte mir unheimlich Angst – und gab mir andererseits Kraft. Auch wenn ich dachte, nach all den Staus, dem Verfahren, der Hitze völlig am Boden zu sein, raffte ich mich auf. Tom packten wir erst mal ins Bett und ich beschäftigte die Kinder, indem ich mit ihnen durch die Stadt lief, in den Parks Tauben jagte,  und mit ihnen am Ufer der Rhone saß und  Bougette aß. Wir  sahen den Schiffen zu . Auch die Kinder erholten sich recht schnell. Komisch, dass sie das so einfach können. Aber ich war darüber sehr froh, weil ich mir nicht auch noch um sie Sorgen machen wollte.
Tom hatte sich einigermaßen erholt, hatte eine Zwischendialyse gemacht und wir setzten uns noch ein bisschen in eines der Straßenkaffees. Aber Tom wollte zurück. Bei ihm ging eben die Erholungsphase nicht so schnell. Ich wäre so gerne noch sitzen geblieben, ich liebe das Treiben in Frankreich, beobachte die Leute so gerne, die eine ganz eigene Ruhe ausstrahlen, immer freundlich sind….
Gedankenverloren sagte ich: „Ach, lass uns noch ein bisschen sitzen, es ist so schön.“ Ich machte ihn auf die Leute um uns herum aufmerksam. Aber er war einfach zu fertig, um das zu sehen. „Dann gehen wir eben.“, entschieden unsere Freunde für mich. „Du siehst doch, dass er total fertig ist!“, zischte mir Sylvia zu. Ja, ich sah es. Aber ich war gerade dabei mich zu erholen. Für den Rest des Abends würde ich unser Hotelzimmer nicht verlassen, würde mit den Kindern auf dem Boden liegen und spielen. Sylvia und Volker würden noch mit einer Flasche Wein vor dem Hotel sitzen.
Aber vielleicht haben Freunde nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, einem ab und zu den Kopf gerade zu rücken  und einen daran zu erinnern, dass man eben auch an den anderen denken muss.
Ich wischte den Gedanken an mich weg. Ich spiele gerne mit den Kindern, hatte das in den letzten Wochen so wie so vernachlässigt.
Der nächste Tag war genauso stressig, bis wir endlich unser Quartier gefunden hatten. Ich lud aus, schleppte die Koffer rein, das Dialysat. Tom richtete sich wieder ein.
Volker kam mir zu Hilfe: „Komm, ich trag das bisschen Zeug rein.“ Das kam mir sehr gelegen. Auch wenn er nichts sagte, sah ich ihm an, wie er unter dem Gewicht zusammenzuckte. Zugegeben, 20kg sind nicht viel, aber wenn man  das acht mal hintereinander macht und das auch noch treppauf, dann ist das schon anstrengend.
Da wir in unserem Quartier keinen Wasseranschluss im Schlafzimmer hatten, hatte sich Tom Ablaufbeutel mitgenommen. Ohne Zweifel sind die unheimlich teuer, denn das Kuratorium geizte unheimlich damit. So verwendeten wir sie 2-3-mal und hofften, dass das nicht zu Problemen führen würde. Frühs schleppte ich dann den riesigen Ablaufbeutel, der immerhin die Ablaufflüssigkeit der ganzen Nacht und seiner Trinkmenge  enthielten ins Bad. 
Der Urlaub verlief ohne irgendwelche Komplikationen – aber auch ohne den geringsten Urlaubseffekt für mich. Wenn Tom mich nicht beanspruchte, dann taten es die Kinder. Unsere Freunde hatten einen Sohn- ein Jahr jünger als unsere große und Einzelkind. Und genauso benahm er sich auch. Ständig schlichtete ich irgendwelche Streitigkeiten zwischen den drei Kindern. Es war einfach grausam. Es blieb nicht die geringste Zeit für mich. Manchmal setzte ich mich hin und schrieb in mein Tagebuch, nur um meine Ruhe zu haben.
Ich kaufte mir Inliner. Es waren tolle Teile. In Deutschland waren sie so übermäßig teuer, dass ich mir das immer verkniffen hatte. Ich probierte sie auch gleich aus, auf einem Fußweg. Und plötzlich kam ein Hund um die Ecke gebogen – ein deutscher Schäferhund, der nur französisch bellt ! Ich bekam einen völligen Panikanfall. Es war auch kein Mensch in der Nähe zu sehen, zu dem der Hund gehören konnte. Ich fiel, der Hund kam immer näher – dann tauchte der Besitzer auf, der ihn wieder zurückpfiff. Ich war so wütend. Einmal unternahm ich was alleine, wollte nur die Ruhe und die Sonne genießen und dann passierte mir so was. Welche Gefühle diese Begegnung in mir auslösten, wurde mir erst viel später bewusst.
Der schönste Ausflug, war ein Ausflug nach Barcelona. Es waren nur 200 km und ich bin ganz begeistert von dieser Stadt. Ja, die wollte ich noch mal sehen, die wollte ich meinen Kindern zeigen: die Sagrada Familia, das Piccaso Museum, die Kathedralen und Gassen, in denen die Wäsche von Haus zu Haus aufgehängt wurde, in den die buntesten Blumen blühten, den Park, in dem Freddy Mercury gesungen hatte, das Schloss, direkt am Plaza de Cataluna mit seiner Stierarena, die Olympia Anlage. Ich hatte wieder einen nicht abzuarbeitenden Plan gemacht. Aber es gab ja auch so viel zu sehen. Ich wäre so gerne in die Sagrada Familia gegangen. Auch bei meinem ersten Besuch in dieser Stadt hatte ich es nicht geschafft sie zu besichtigen. Aber ich wollte und mußte  Rücksicht auf die anderen nehmen – die Schlange war unendlich lang. So veraschiedete ich mich mit einem wehmütigem Blick von diesem gigantischen Bauwerk. ‚Aber das nächste Mal...‘, nahm ich mir ganz fest vor.
Ich könnte hier stundenlang in den Parks, auf den Mauern oder am Hafen sitzen – diese Stadt hat eine unheimliche Wirkung auf mich. Und ich genoss die Atmosphäre. In keiner anderen Großstadt fühlte mich so geborgen und wohl. Von dem hektischen Treiben, das ich in anderen Großstädten fühlte, war hier nichts zu spüren. Doch Tom ermüdete dieser Ausflug sehr. Die Hitze und die fehlende Möglichkeit sich auszuruhen, zeigten deutliche Folgen. Auch musste er ja nach wie vor seine Trinkmengen strengstens kontrollieren.
Während ich mir in diesem Urlaub einige Minuten nur für mich stahl, mußte ich immer wieder an die Musik denken, die ich früher gehört hatte: Gerhard Schöne, Hermann van Veen... All die Liedermacher, die mit ihren Liedern die Welt, das Leben erklärten. Und während ich kleine Spaziergänge unternahm, summte ich immer wieder die altbekannten Melodien.
Wo waren nur meine alten Schallplatten? Ich mußte sie unbedingt rauskramen, wo waren die alten Kassetten?
Die Heimreise war wesentlich problemloser. Vielleicht waren wir doch alle mehr erholt. Wir fuhren die Strecke in einem Stück. Klar waren wir fertig, als wir ankamen, aber es war nicht vergleichbar mit der Hinfahrt.
Und dann fand ich meine alten Lieder wieder. Das war ein unbeschreibliches Gefühl, es war wie nach Hause kommen, wieder zu sich selbst finden, oder wie die plötzliche Erkenntnis, was eigentlich zählt im Leben.

4.


Wir gingen wieder arbeiten, die Kinder verbrachten ein paar Ferientage bei den Großeltern. Unser Leben hatte sich wirklich normalisiert.
Ich ging oft mit ihnen ins Schwimmbad, wir genossen einfach den Sommer. Tom konnte nicht mit, wollte auch nicht. Ich hatte ihm einen Männerbadeanzug besorgt. Allein das war ein unglaubliches Unterfangen, weil es so was einfach nicht gibt. Im Sportgeschäft hatte ich mit der netten Verkäuferin alle möglichen Kataloge gewälzt, bis wir einen fanden. So konnte er doch zumindest seinen Katheder vor den neugierigen Blicken der anderen verstecken. Tom fand ihn blöd. Ich konnte das gar nicht verstehen. Ich finde Männer in solchen Teilen unheimlich sexy. Aber vielleicht sehen das Männer ja anders. Er verzichtete lieber auf die Schwimmbadbesuche. 
Ich versuchte, Kontakt mit anderen Dialyseangehörigen zu bekommen. Wie kamen die mit der Situation klar. Wie meisterten die ihr Leben? Ich fragte im Kuratorium nach Adressen. Das Wort „Selbsthilfegruppe“ kam einfach nicht über meine Lippen. Das hörte sich so schlimm an. Ich wollte nur mal mit anderen reden.
Einen Internetanschluss hatten wir zur damaligen Zeit leider noch nicht. Und wenn, dann hätte ich nicht gewusst, wie ich damit umgehen soll.
Also blieben mir nur das Krankenhaus und das Kuratorium. Aber so recht traute ich mich nicht, mit ihnen über meine Fragen zu reden und so musste ich auf Gespräche mit anderen und vielleicht auf Hilfe von anderen verzichten.
Ich erzählte Tom davon. Kam er denn mit der Situation klar? Er verwarf meinen Gedanken. „Nein, ich will das nicht. Ich will nicht mit anderen die Krankheit durchdiskutieren. Ich will mich nicht nur damit beschäftigen. Es gibt doch wohl noch andere Dinge in meinem Leben. Du hast die anderen Patienten nicht gesehen. Ich will da nicht allzu viele Kontakt. Die sind nur krank.“
Ich verstand schon seine Einwände.
Andererseits war es ja so, er konnte seine Fragen anderen stellen. Er hatte das Kuratorium, den Arzt in der Klinik, Patienten, mit denen er ins Gespräch kam. Ich hatte niemanden. Selbst die kleinen Dinge, wie eben die Sache mit dem schwimmen gehen, musste ich ausprobieren, konnte nicht auf Erfahrungen anderer aufbauen. 
Im Kuratorium wurden nur Menschen behandelt, die wesentlich älter waren als wir. Aber vielleicht konnte man irgendwas erfahren, was uns das Leben leichter gemacht hätte.
Wie lange waren die krank?  Vielleicht trifft man ja auch mal jemanden, der schon transplantiert ist. So jemand müsste doch die vielen Fragezeichen in meinem Kopf auflösen können.
Es gelang mir leider nicht. Und so trug ich meine Ängste weiter allein mit mir herum.
Nele sollte im Oktober 10 Jahr werden. Ich empfand das immer als etwas ganz besonderes: den 10. Geburtstag. Und für all die Entbehrungen der letzten Monate wollte ich sie auch gerne entschädigen, sie wieder in den Mittelpunkt unseres Leben rücken und so buchten wir ein Wochenende im Euro Disney Land Paris, mit Hotelübernachtung, Geburtstagstorte und allem was dazugehört.
Aber wir fuhren nicht.
Kurz vor Antritt der Fahrt, ging es Tom zusehends schlechter. Er dachte zunächst, er habe sich eine Magen Darm Grippe zugezogen, er brach und kam gar nicht mehr vom kloh runter. Nachts war das besonders schlimm, denn er war am Cycler angeschlossen und konnte praktisch den Raum nicht verlassen.  Also täuschten wir für das Gerät einen Stromausfall vor, er klemmte sich ab. Das Gerät nahm seine Funktion wieder auf, nachdem wir den Stecker wieder eingesteckt hatten. Wir hatten die Maschine ausgetrickst. Tom wurde aber immer schwächer, bis wir einen Arzt holen mussten. Er wurde sofort ins Krankenhaus eingewiesen. Wieder auf seine „alte“ Station, die Schwestern konnte sich noch gut an ihn erinnern und er wurde behandelt wie ein alter Freund. Er hatte sich eine Bauchfellentzündung zugezogen. Wie war es nur dazu gekommen? Wir hatten doch alles so gemacht, wie es uns erklärt worden war! Ich hörte irgendwann auf, darüber nachzugrübeln, es brachte uns einfach nicht weiter, ich nahm es als gegeben hin. Wieder stellte sich das „Geldproblem“ ein. Der Arbeitgeber zahlte auf Grund der Ersterkrankung, die zu dieser Erkrankung geführt hatte, nicht. Dementsprechend war wieder die Krankenkasse in der Pflicht. Ich reichte unsere Ansprüche ein. Und diesmal ging es schneller, weil ich ja wusste, was einzureichen war und in welchem Zeitraum.
Aber ich war nur so unendlich traurig, dass wir nicht mit Nele wegfahren konnten. Sie  hatte sich so darauf gefreut. Aber alleine zu fahren, das traute ich mir einfach nicht, auch Tom gegenüber hätte ich es als unfair empfunden.
Und dann fing ich wieder an zu bauen – ein Geschenk musste sie  ja bekommen und es sollte etwas besonderes sein.
Ich baute unser altes Schlafzimmer um – die Dachkammer. Ich würde ihr  daraus ihr erstes eigenes Zimmer bauen, in das sie sich zurückziehen konnte. Bisher teilte sie sich ein Zimmer mit ihrer kleine Schwester. Das war nie ein Problem. Aber langsam kam sie eben in ein Alter, in dem sie sich auch mal zurückziehen wollte. Da es aber eben nur eine Dachkammer war, die nur aus schrägen Wänden bestand, war es nicht einfach, Möbel aufzustellen. Aber ich schaffte es: ein gemütliches kleines Zimmer, in der sie auch ihre Musikanlage  aufstellen konnte. Es war Platz für ihre Poster und ihre kleinen „Schätze“.
Ich glaube, sie hat sich echt gefreut, weil sie nichts davon mitbekommen hatte. Und die Geburtstagsparty war echt Spitze: Mit ihren  Freunden feierten wir eine richtiges Märchenfest – und sie war die Prinzessin –wenigstens diese eine Mal. 
Obwohl ich alles getan hatte, was ich konnte – ich fühlte mich mies, weil sie nicht das bekommen hatte, worauf sie sich so gefreut hatte. Ob sie das je verstehen würde? Sie wirkte ja nicht enttäuscht auf mich und trotzdem blieb das schlechte Gewissen.  
Tom besuchte ich wieder täglich im Krankenhaus, nach 3 Wochen konnte er entlassen werden.
Inzwischen waren um den Katheder Wucherungen aufgetreten. Die Haut war um  den Schlauch, der aus einer Art gummihafter Hartplastik bestand, angewachsen. Doch durch die ständigen Bewegungen während der Nacht wurde der Schlauch natürlich auch beansprucht und die weiche, empfindliche Bauchhaut reagierte darauf. Sie machte einfach diese Bewegung nicht mit. So entstanden Hautwucherungen um den Schlauch. Wenn die dann aufplatzten, bluteten sie unheimlich. Tom tupfte dann das ganze mit Desinfektionsmittel ab – ohne eine Miene zu verziehen. Es brannte sicher höllisch, aber er ertrug das. Als er das den Ärzten zeigte, entschloss man sich, das ganze einfach wegzuätzen. Ich weiß nicht, welche Schmerzen er ertragen musste, kann das ja nicht nachempfinden, aber allein der Gedanke lies mich erschaudern.
Und so kam es auch, dass ich ihm nicht erzählte, wie ich mich fühlte. Er machte doch viel schlimmeres durch. Tag für Tag schleppte ich seine Kisten, räumte den Müll weg – und das waren unendliche Mengen an Müll, die da Nacht für Nacht produziert wurden, ich schlief kaum. Aber was war das schon im Vergleich zu ihm?
Und es sah ja auch keiner, kein Mensch war da, der mal gefragt hätte „Wie geht es eigentlich dir?“.  Ich sehnte mich nach jemand, der mich in den Arm nahm und mich tröstete, mir neue Kraft gab, mir vielleicht auch sagte „Du schaffst das Du bist so stark“ Aber es war keiner da. Logischerweise nahmen alle Anteil an Toms Leiden. Was ich tat, war einfach nur selbstverständlich. Ich konnte ihm sein Leiden nicht nehmen, aber ich konnte ihm doch wenigstens ersparen, mich bei ihm auszuheulen. Und ich tat es auch nicht. Ich wollte mich auch nicht jemand anders anzuvertrauen. Das erschien mir so egoistisch.
Auch mit den Transplantationsvorbereitungen war kein Ende in Sicht. Zwischen den verschiedenen Arztterminen lagen manchmal 4 Wochen. Weiß eigentlich irgendjemand von den Ärzten, was vier Wochen Dialyse heißt, Nacht für Nacht? Wenn sich irgendein kleines Teilchen im Bauchraum vor den Katheder setzte und die Maschine nicht abpumpen konnte, hupte sie in einem so schrillen Ton, dass man an Schlafen gar nicht mehr denken konnte. Tom bewegte dann den Katheder und es ging weiter. Ich lag dann lauschend im Bett, wartend, wann es wieder hupen würde. Oder er bekam Hunger. Er konnte ja nicht weg, also weckte er mich und ich brachte ihm was. Oder er musste wiedermal brechen, was häufig vorkam. Für ihn war das sicherlich schlimm, aber für mich auch.
Ich verstand langsam den Mann, von dem die Ärztin erzählt hatte, der sich sein Zimmer im Keller eingerichtet hatte. Wie sehr musste er seine Frau geliebt haben, um ihr das alles zu ersparen? Ich stellte mir immer mehr die Frage, ob die Dialyseärztin eigentlich wusste, wovon sie da gesprochen hatte. Verstand sie eigentlich, wie sehr ihr Patienten litten und die Angehörigen auch? Warum tat sie nicht alles, um die Transplantation voranzutreiben?
Inzwischen war Toms Mutter durch das Raster der Tansplantationsfähigkeit gefallen. Sie litt seit Jahren unter chronischen Bluthochdruck. Nicht dass das ein Problem für sie war, aber damit war sie eben nicht in Lage zu spenden. Unsere gesamten Hoffnungen lagen nun auf Toms Vater, der als letzter übrig geblieben war.
Und was war eigentlich mit der „Liste“? Erst sehr viel später erfuhr ich, dass jedes Mal, wenn einer seiner Werte nicht optimal war, er sofort von der „Liste“ gestrichen wurde und sich wieder und wieder hinten anstellen musste, auch bei jedem Krankenhausaufenthalt, fiel er automatisch raus.
Sein Arzt im Krankenhaus hatte sehr viel Interesse an ihm. Er wurde andersherum auch Toms Kunde und Tom sah ihn dadurch sehr oft, unterhielt sich mit ihm. So hatte Tom wenigstens jemanden, mit dem er mal über seine Probleme mit der Krankheit reden konnte, dem er vertraute und der auch Hilfe geben konnte, weil er damit Erfahrung hatte.
Als er das Krankenhaus verlies, um eine Stelle in einer Klinik in seiner Heimat anzutreten, trauerten wir sehr darum. Ich weiß nicht, ob mein Gefühlsausbruch daran Schuld war, oder ob er einfach nur so betroffen war, dass es einen so jungen Mann „getroffen“ hatte, aber er mochte Tom. Das war nicht zu übersehen.
Inzwischen war es wieder Winter geworden. Tom war nun schon seit einem Jahr krank. Wie lange würde es wohl noch dauern? Immer öfter klagte er über geschwollene Füße. Ich dachte nicht mehr an Gabis Warnung, ich hatte es einfach vergessen. Aber auch seine Beine waren merklich angeschwollen. Im Kuratorium riet man ihm, ein stärkeres Dialysat anzuwenden. Es gibt da  verschieden konzentrierte Lösungen. Je höher konzentriert die Lösung ist, umso mehr Wasser wird dem Körper entzogen. Aber man muss damit sehr vorsichtig umgehen. Eine Daueranwendung dieser hochkonzentrierten Lösungen ist äußerst gefährlich. Denn letztlich ist  es, wie wenn man Erdbeeren einzuckert, damit sie die Kinder lieber essen: je mehr Zucker man verwendet, je mehr fallen  die Erdbeeren zusammen. Und genauso verhielt es sich auch mit dem Bauchgewebe. Es kann also nicht gut sein, die hochkonzentrierte Glukoselösung zu lange zu verwenden. Es trat zunächst eine Linderung ein. Aber die hielt nicht lange an. Ich spürte, dass etwas nicht stimmte. Tom fühlte sich immer häufiger müde und schlapp. Es war nie so. dass er es sagte, oder sich beschwerte, aber ich merkte es irgendwie. Seine Gliedmaßen schwollen wieder mehr an. An einem Samstag – ich wollte ausschlafen  und hatte mich darauf gefreut – weckte er mich völlig panisch früh um sechs „Katrin, ich krieg keine Luft mehr.“ Ich war schlagartig wach. Ich setzte ihn aufrecht ins Bett – keine Ahnung, woher ich die Eingebung hatte. Er röchelte und es hörte sich an, als ob man ihn unter Wasser getaucht hätte. Obwohl sich Panik in mir breit machen wollte, dachte ich völlig klar nach. Ich rief das Kuratorium an. Eine äußerst verschlafene Schwester meldete sich. Ich beschrieb die Symptome. „Na, dann muss er halt mal herkommen.“, sagte sie schläferisch. Ich rastete völlig aus und schrie ins Telefon „Spreche ich irgendeine Sprache, die sie nicht verstehen? Er kriegt keine Luft mehr. Was soll ich machen? Bewegen Sie endlich ihren Hintern zu einem Arzt und geben sie ihn mir. Es ist mir völlig egal, wieviel Uhr es ist, und ob er vielleicht schläft. Mein Mann stirbt hier Stückchenweise. Also bewegen sie sich!“ Da war sie wach. Ich hörte sie rennen und mit dem Arzt sprechen. Doch der war genauso desinteressiert. Was war das eigentlich für ein Haufen? Ich war so wütend und konnte das Desinteresse gar nicht fassen, schrie nur noch ins Telefon „Ich bin in 20 Minuten da. Bis dahin könnten sie möglicherweise mal wach werden und dann vielleicht mal was tun. Andernfalls komme ich das nächste Mal mit der Bild Zeitung bei ihnen vorbei.“ Es war mir völlig egal, was die dachten. Ich fand es eine unglaubliche Frechheit, wie die meinen Mann behandelten.
Dadurch, dass ich Tom aufrecht hingesetzt hatte, hatte ich ihm die Möglichkeit gegeben, wieder atmen zu können. Das Wasser stand bereits in der Lunge. Und auch wenn ich das nicht gewusst hatte, irgendwie hatte ich doch geistesgegenwärtig gehandelt. Ich weckte Nele, sagte ihr kurz, was los war und dass sie sich um Anne kümmern solle, befreite Tom von der Maschine, zog ihn an und packte ihn ins Auto und raste wie eine verrückte ins Kuratorium. Dort war man in der Zwischenzeit wirklich wach geworden und kümmerte sich auch ziemlich schnell und zielgerichtet um ihn. Aber es war bereits zu spät. Man hätte vielleicht mal seine Warnungen, die er in den Wochen zuvor abgegeben hatte hören müssen. Das Wasser konnte nicht mehr aus dem Körper gezogen werden. Man wies ihn ins Krankenhaus ein – wiedermal. Dort wurde ihm sofort ein Halskatheder gelegt und er wurde einer Hämodialyse unterzogen. Zwar war er danach völlig erschöpft, schlief ewig, aber das Wasser hatte man so aus dem Körper gezogen. 
Später erzählte er mir, dass allein das Anbringen des Katheders so schmerzhaft gewesen war, dass er dachte, sterben zu müssen. Der Arzt hatte entschuldigend festgestellt, dass er wohl Elefantenhaut hätte, er bekäme die Nadel einfach nicht durch die Haut seines Halses.
Wieder drei Wochen Krankenhaus, wieder war ich allein. Meist ging ich mit den Kindern ins Bett, sie schliefen bei mir im Schlafzimmer. Aber ich konnte nicht schlafen. Plötzlich störte mich die Ruhe.  
Das Erlebnis mit diesem Kuratorium veranlasste uns, einen neuen Betreuungspartner zu suchen. Es musste doch noch andere Dialyseärzte geben. Lange diskutierten wir darüber. Doch nachdem sie Tom nach diesem Erlebnis auch noch die Hämodialyse ans Herz legten, gab es nichts mehr zu überlegen. Noch war es sein Leben und so lange er die Wahl hatte, würde er auch wählen...
Ich freute mich insgeheim. Mit waren die von Anfang an unsympathisch und ich hatte nur Tom zu liebe nichts gesagt. Die Ärzte und Schwestern des Kuratoriums waren völlig geschockt. Offensichtlich hatten sie noch nicht erlebt, dass es ein Patient ablehnt, von ihnen behandelt zu werden.
Dementsprechend war auch die Reaktion. Toms neue Ärztin bekam zunächst weder Untersuchungsergebnisse, noch die Unterlagen zur Transplantationsvorbereitung. Als nächstes standen sie urplötzlich vor unserer Tür und holten die Dialyseausrüstung ab. Da diese von dem Kuratorium gestellt worden war, sah man keine Veranlassung sie auch nur einen Tag länger bei uns zu lassen.
Und obwohl sie wussten, dass der neue Cycler noch nicht da war, holte man die Sachen einfach ab.
Ich konnte es gar nicht fassen – das waren Ärzte!!  Immer
wieder musste ich an  Gabis Erzählung denken, als sie den Eid des Hypokrates abgelegt hatte. Wo war der Sinn dieses Eides abgeblieben?
Man konnte den Eindruck gewinnen, dass die nicht interessierte, was mit dem Patienten war. Ging es hier einfach nur um Geld? Diese vage Vermutung schlich sich in meine Gedanken. Ich schob diesen Gedanken gleich wieder soweit weg, wie ich nur konnte. Die Bilder der Patienten drängten sich mir auf, die ich im Krankenhaus an den Maschinen gesehen hatte. Nein, so konnte keiner denken!
Ja, es ging in den Stationen auch richtig lustig zu. Sie veralberten sich gegenseitig, die Schwestern versuchten immer wieder die Patienten aufzumuntern. Aber auf der anderen Seite sah ich eben auch Menschen, die völlig apathisch in ihren Betten lagen und auf nichts reagierten. Hatte dieses Kuratorium nur eine „Einkommensquelle“ verloren?
Doch der fehlende Cycler schockte uns nicht. Tom dialysierte sich alle 4 Stunden, so wie er es bereits im Krankenhaus getan hatte, bis der neue Cycler eintraf. Aber diese Reaktion bestärkte uns in unserer Entscheidung.
Vielleicht würde sich jetzt auch langsam was in Richtung Transplantation passieren. Darauf ruhten meine gesamten Hoffnungen.
Körperlich wurde meinem Schwiegervater beste Gesundheit bescheinigt, abgesehen von ein paar unerheblichen Erkrankungen.
In der Transplantationsklinik fühlte ich mich auch nicht wirklich wohl. Die Sprechstunde war in einem uralten Gebäude untergebracht, es war nicht gerade Vertrauen einflössend, es erinnerte mich mehr so an Filme über medizinische Entdecker, wie Semmel oder Robert Koch. Der Gedanke, dass man hier transplantieren würde, erschien mir nicht sehr Erfolg versprechend, ehr wie ein Experiment. 
Das Transplantationsteam setzte sich aus verschiedenen Medizinern zusammen: der Nephrologin, die dem Team vorstand und die Entscheidung zu treffen hatte, wann und ob zu transplantieren war. Sie war vielleicht zehn Jahre älter als wir. Eine Frau, die zumindest mich einschüchterte. Die blonden Haare waren streng zurück gekämmt, ihr fester Schritt und Händedruck schienen davon zu zeugen, dass sie wusste, wer sie war, was sie wollte und dass es an ihrer Entscheidung nichts zu rütteln gab. Mich schüchtert so ein Auftreten immer ein. Was muss man tun, um ein derartiges Selbstbewusstsein zu entwickeln? Es machte diese Frau so unnahbar. Sie nahm ohne Zweifel eine Position ein, die sie sich hart erarbeitet hatte und auch wenn ich die Hierarchie in dieser Uniklinik nicht durchschaute und nicht durchschauen wollte, schien sie eine hochgeachtete Ärztin zu sein. Aber ungeachtet ihrer Verdienste war die doch auch ein Mensch, Patienten sollte sich doch wohl fühlen. Vor allem solche Patienten wie wir, die verunsichert, unwissend ihr gegenübertreten und Antworten wollen. Ich traute mich in ihrer Nähe kaum zu atmen, so schüchterte mich ihr Auftreten ein.
Dann war da ein Urologe, der den eigentlichen Eingriff vornehmen würde. Der Mann schien die Ruhe selbst zu sein. Seinen Kittel hatte er immer offen, hielt sich im Hintergrund und sagte nicht viel. Er lächelte uns aber immer entgegen und sein Lächeln schien zu sagen: „Alles wird gut. Ihr schafft das.“
Außerdem gehörte dem Team noch eine Ärztin, die alles organisierte, Termine vereinbarte und die Patienten kontaktierte, zwei Assistenzärzten und manchmal Studenten.
Die 150km Anfahrstrecke waren nie ein Problem. Aber  nachdem wir endlich dort waren, ließ man uns stundenlang sitzen. Klar, das waren alles richtig gute Mediziner, vielbeschäftigte Menschen. Und wir? Wer waren wir? Wir hatten doch einen Termin vereinbart. Warum konnte man diesen Termin nicht einhalten? Wir taten es doch auch. Ich hätte kein Problem damit gehabt, wenn das einmal vorgekommen wäre. Aber es war immer so. Mir vermittelte das immer das Gefühl, dass unsere Belange unbedeutend waren, dass wir so eine Art lästige Pflicht seien.
Das war wohl einer der Gründe, warum ich mich dort eben nicht wohl fühlte.
Wenn sie dann endlich auftauchten, hatte ich immer mal den Eindruck, dass sie nicht einen Blick in die Akten geworfen hatten. Sie bemängelten, dass irgendwelche Unterlagen fehlen würden und man sich doch wohl so kein Bild machen konnte.
Wir hockten also zu siebt in einem winzigen Zimmer und ich hatte den Eindruck, dass es völlig sinnlos war, überhaupt hierher gekommen zu sein.
Sie stellten Tom ein paar Fragen. Dass er darauf tatsächlich antwortete, schien die Ärztin zu beunruhigen. Waren das nur rhetorische Fragen? Und hatte sie gar keine Antwort erwartet?
Das war für mich einfach ein vergeudeter Tag. Es wurden keine Entscheidungen getroffen, es wurden keine Untersuchungen gemacht, es wurden keine Empfehlungen gegeben. Warum mussten wir da überhaupt hin? Ein kurzer Anruf hätte doch genügt. Die Hauptarbeit schienen doch so wie so die Dialyseärzte zu machen.
Anders wurde es, nachdem Toms Vater  - 1 ½  Jahre nachdem er sich zur Spende bereiterklärt hatte – die körperliche Spendetauglichkeit bescheinigt worden war.
Es wurden psychologische Tests angeordnet
Das war für mich das i-Tüpfelchen des Schwachsinns. Nachdem mein Mann am Boden zerstört gewesen war, die Krankheit seine Psyche angeknabbert hatte, er immer wieder Rückschläge ertragen musste, hatte kein Arzt es für notwendig gehalten, ihn zu betreuen. Und jetzt schien es das wichtigste auf der Welt zu sein – unfassbar!
Natürlich wurde der Termin erst 6 Wochen später vergeben. Warum sollte man auch Eile in der Sache machen? Es ging ja „nur“ um einen Kranken. Unsere Geduld wurde wieder auf die Probe gestellt.

5.

Doch auch dieser Termin konnte nicht wahrgenommen werden. Tom wurde wieder krank.
Immer öfter hatte er extreme Magenprobleme.
Die Kochanweisungen, die ich bei Beginn der Erkrankung erhalten hatte, konnte ich immer mehr unberücksichtigt lassen. Toms Werte wurden ja regelmäßig überprüft. Und je nach dem wie sie ausfielen, änderte ich die Ernährung, ließ Joghurt weg, wenn der Kalziumwert zu hoch war, spülte Gemüse und Kartoffeln, wenn der Kaliumwert zu hoch war, es gab keinen Spinat, wenn zu viel Eisen im Blut war, keine Cola, wenn der Phosphor Wert zu hoch war  – ich entwickelte mich zum Ernährungsexperten, hatte mir Bücher mit genauen Tabellen über die Werte der Lebensmittel gekauft.
Trotzdem ging es ihm immer schlechter. Er vertrug keinen kalten Joghurt mehr, brach immer öfter und hatte ständig Bauchschmerzen. Unsere Nächte waren dementsprechend „erholsam“. Wenn ich dann früh um sechs aufstand, war ich manchmal echt erleichtert, dass die Nacht rum war. Ich versuchte, seine Kost zu ändern, mehr Vitamine, um Widerstandskräfte aufzubauen. Aber eigentlich ein völlig sinnloses Unterfangen, denn mit jeder Dialyse spülte er nicht nur die Giftstoffe aus seinen Körper, sondern auch die lebenswichtigen Nährstoffe, Aminosäuren und Vitamine. Es war ein Kampf, den man nur verlieren kann. Aber er wollte zu keinem Arzt, er wollte nicht schon wieder ins Krankenhaus. Doch eines Tages ging es nicht mehr, er konnte nicht mal sein Bett verlassen.
Ich versorgte ihn an der Maschine.
Mit dem  Wechsel des Kuratoriums bekamen wir auch keine Einweg Handschuhe mehr. Also musste ich mir das Desinfektionsmittel auf meine Hände sprühen. Nun habe ich aber ein endogenes Exemen, das in folge des ständigen Putzens, Wischens, und allgemeinen Sauberhaltens immer wieder aufbrach. Die Schmerzen, die ich fühlte, als das Desinfektionsmittel auf die offenen Stellen an meinen Händen auftraf, sind kaum zu beschrieben. Aber ich biss mir auf die Lippen, sagte nichts. Tom tat es ja auch nicht. 
Ich rief den Hausarzt an, der der ihn damals ins Krankenhaus eingewiesen hatte, der die Krankheit damals diagnostiziert hatte, ohne seinen verdacht zu äußern. Er ließ alles stehen und liegen und kam sofort. Der ältere Herr hatte aus einem nicht erklärbaren Grund Interesse an Tom, nahm Anteil an seinem Schicksal und hatte sich in den vergangenen Monaten immer wieder nach seinem Befinden erkundigt.  Vielleicht ist er auch immer so, ich weiß es nicht. Jedenfalls war er einer der wenigen Ärzte, die sich offensichtlich ihren Beruf noch als Berufung betrachteten.
Aber Tom musste sofort ins Krankenhaus eingewiesen werden, sein Blutdruck war so abgesunken, dass er zu keinerlei Bewegung mehr in der Lage war. Er hatte sich häufiger und intensiver dialysiert, als es abgesprochen war. So hatte er gehofft, dass es ihn bald besser gehen würde. Aber das Gegenteil war eingetreten: sein Wasser- und Nährstoffhaushalt war völlig am Boden.
Tom ist so ein Mensch, der sich in jeder Lebenslage zusammenreisen kann und niemanden spüren lässt, wie er sich wirklich fühlt. Und wenn der Arzt ihm nicht zuvorgekommen wäre, hätte er sicher noch seine Tasche gepackt und wäre wohlmöglich noch selber ins Krankenhaus gefahren. Aber der Arzt orderte sofort einen Krankenwagen und ließ nicht zu, dass Tom sich überhaupt bewegte. Bei diesem Blutdruck befürchtete er einen völligen Kreislaufzusammenbruch. Man trug ihn sogar in den Krankenwagen.
Wiedermal Krankenhaus, wieder 3 Wochen. Das herausfließende Dialysat war völlig trüb – ein Anzeichen für vorhandene Bakterien im Körper. Er hatte unglaubliche Schmerzen und man pumpte ihn mit Schmerzmitteln voll. Er sprach kaum noch mit mir und für mich war jeder Gang ins Krankenhaus eine Qual. Ich wollte ihm doch so gerne helfen, aber er ließ mich einfach nicht an sich ran, er sagte mir nichts von seinen Schmerzen, von seinen Ängsten.
Als ich mal zwei Tage hintereinander nicht fahren konnte, weil bei den Kindern Elternversammlungen angesetzt waren, schrieb ich ihm. Es war ein richtiger Liebesbrief, ich erzählte von meinen Ängsten, meinen Sorgen und wie sehr ich ihn doch lieben würde und so gern etwas tun würde, damit er sich besser fühle. Ich wollte ihm Mut geben, wollte ihm sagen, dass ich für ihn da war, aber er reagierte nicht darauf. Er war gefangen in seiner Krankheitswelt und ließ mich nicht zu ihm. Entweder ertrug ich es, oder nicht. Ich weiß nicht, ob es zu dieser Zeit eine Rolle für ihn spielte. Ich glaube, er hatte mit allem angeschlossen. Und das tat mehr weh, als die Nächte, die ich nicht schlafen konnte: sein Desinteresse an mir, an den Kindern, an unserem Leben. 
Entweder erriet ich was mit ihm war, oder ich wusste es eben nicht. Warum sollte er sich die Mühe machen, mir von seinen Ängsten zu erzählen? Eine seiner Ängste war, dass man ihm die Möglichkeit der Perentionaldialyse nahm. Aber das wollte keiner. Jeder betrachtete ihn als erwachsenen Menschen, der das alleine entschieden müsse. Man gab zwar  zu bedenken, dass er immer wieder mit diesen Entzündungen und Schmerzen rechnen müsse und gleich die ersten Anzeichen angeben solle, damit man ihm gleich helfen könne. Aber keiner hätte ihn dazu gedrängt, seine Entscheidung zu überdenken. 
Doch vorerst lag er stumm und regungslos in  seinem Bett. Ich verstand nicht, was mit ihm war. Als sein Freund mit seiner Frau zu ihm fuhr, waren sie völlig schockiert. Auch mit ihnen hatte er kaum gesprochen, sein Bett nicht verlassen und nur an die Wand gestarrt.
Erst viele Monate später erzählte er mir, dass man ihn mit einem so starken Betäubungsmittel ruhig gestellt hatte, dass er schon bunte Muster sah, so Muster, wie wir sie als Kinder immer im Kaleidoskop gesehen hatten. Er sagte, es wäre ein angenehmer Zustand gewesen. Diese Aussage schockierte mich noch ihm nachhinein. Wie allein musste er sich gefühlt haben! Was machte ich nur falsch, dass er sich mir nicht anvertraute?
Wieder zu Hause begannen die Routineuntersuchungen von neuem. HNO-Arzt, Knochendichtemessung, Zahnarzt – alle Fachrichtungen musste er aufsuchen. Und das jährlich.
Der Termin beim Psychologen musste wegen des nahenden Sommers verschoben werden. Es wurde ein neuer Termin für Ende August vereinbart.

6.

Wieder planten wir einen Urlaub. Bloß nicht in der Sonne, das bekam Tom eindeutig nicht, auch wenn ich ein wahrer Sonnenanbeter bin.
Wir wollten nach Österreich, wandern.
Unsere Freunde lachten alle, weil jeder wusste, dass ich der Bewegungsmuffel schlecht  hin bin – und dann will ich wandern!
Tom war im Frühjahr zu einer Produktpräsentation im Leutaschtal gewesen und war begeistert von der Landschaft.
Als die Einladung zu diesem Ereignis kam, waren wir zunächst nicht sicher, ob Tom überhaupt mitfahren könnte. Wie sollten wir das Problem mit der Dialyse lösen? Er konnte doch unmöglich den Cycler nur wegen 2 Tagen mitnehmen. Aber Tom entschloss sich trotzdem zu fahren und wollte manuelle Dialyse machen. Ich hatte Bedenken, und eigentlich auch Angst: er darf ja kein Gewichte tragen, würde er auch genügend Zeit für die Dialysen habe, um nicht unterdialysiert zu sein, würden die Anstrengungen nicht zu viel für ihn sein? Zu meiner Erleichterung fuhr der Filialleiter eines der anderen Geschäfte mit, den ich gern mochte. Ich redete mit ihm, sprach von meinen Bedenken, aber er versprach, auf Tom aufzupassen, ihm beim Tragen zu helfen. „Mach dir keine Sorgen, ich bringe ihn dir gut erholt wieder. Du wirst meinen, er käme aus dem Urlaub.“  Das gab mir ein gutes Gefühl. Ich weiß, dass Tom nie was sagen würde, nie um Hilfe bitten würde und darum hatte ich eben Angst. Die Anreise erfolgte mit dem Flugzeug.
Die Szenerie am Flughafen war wohl einmalig. Obwohl es doch so unendlich viele Dialysepatienten gibt, hatte man  auf diesem Flughafen so etwas noch nie erlebt.
Als er durch den Metalldetektor ging, hupte es natürlich, weil an seinem Katheder ja auch Metall ist. Seine Tasche fürs Handgepäck löste das blanke Entsetzen bei den Beamten aus. Tom wurde sofort in eine separate Kabine mitgenommen.
Er zeigte den Beamten den Katheder. Mit seinem Schwerbeschädigtenausweis konnte der sich zunächst noch ausweisen, aber die Sache mit dem Handgepäck wurde genauer untersucht. Aus Angst, dass etwas mit dem Dialysat passieren konnte, hatte er es ins Handgepäck mitgenommen, ebenso Verbandsmaterial, die Wärmeplatte und die Klemmen und Schere. Die Beamten waren fassungslos. Wie sollten sie das denn akzeptieren können? Sie untersuchten die Wärmeplatte. Ich weiß nicht, ob sie dahinter Sprengstoff vermuteten oder Rauschgift, jedenfalls wurde das Ding gründlichst begutachtet und nach geraumer Weile und nach mehreren Telefonaten als ungefährlich eingestuft. Und da sie ja normalerweise schon ein Problem mit Nagelfeilen haben, wie sollten sie da die Schere akzeptieren können? Tom erklärte und erklärte und nach und nach  erkannte sie dann doch, dass er eigentlich nur krank war und diese Sachen im Notfall jederzeit benutzen können muss.
Während Tom geduldig erklärte, empfand sein Kollege  das ganze als erniedrigend. War Tom nicht genug gestraft mit seiner Krankheit, musste er  sich dann auch den Blicken und Fragen der Leute hier stellen? Er konnte es nicht fassen. Und sicherlich war bei den Beamten auch Stück Neugier dabei. Sie hatten das offensichtlich noch nie gesehen. Aber man ließ ihn ins Flugzeug mit all seinen Sachen einsteigen.
Tom verkraftete die beiden Tage relativ gut. Und er genoss es auch, mal wieder was anderes zu sehen. Nachts waren sie noch in einem Casino und er erzählte mir voller Begeisterung  davon. Klar, als sie wiederkamen, war er nicht unbedingt erholt, hatte wenig geschlafen und sein Rhythmus war ein wenig durcheinander, aber es hatte ihm sichtlich gut getan.
Und da er eben so begeistert von dieser Landschaft in Österreich war, wollte er diesen Wanderurlaub.
Mir war alles recht, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass mir das auch nur andeutungsweise Spaß machen würde. Und Tom, wie sollte er mit seiner Krankheit den körperlichen Strapazen, die ein Wanderurlaub mit sich brachte, klarkommen?
Wieder bekamen wir eine Liste mit den Kliniken und Ärzten in Österreich und dem angrenzenden Deutschland, wieder eine Liste mit den aktuellen Blut und Dialysatwerten und wieder eine lange Autofahrt.
Trotz meiner Bedenken war es ein phantastischer Urlaub. . Wir wanderten von Alm zu Alm, waren den ganzen Tag unterwegs.
Nur einmal überschätzten wir uns. Wir hatten das Hinweisschild „Nur für geübte Bergwanderer und Schwindelfreie geeignet“ übersehen und stellten irgendwann fest, dass der Aufstieg fast nicht möglich war. Wir waren wieder mit Sylvia und Volker unterwegs und an dem Tag hatten uns Freunde von ihnen besucht. Wir waren also sechs Erwachsene, 3 Kinder und ein Hund, die sich an den Drahtseilen an der Bergwand entlang nach oben hangelten. Da ich selbst stellenweise unter Höhenangst leide, hatte ich extrem viel mit mir zu tun und musste aber auch auf Anne achten und sie festhalten. Tom war plötzlich so schlecht, dass er gar nicht weiterkam. Ich war so froh, dass Volker sich um ihn kümmerte, da ich sonst nicht gewusst hätte, wie wir das hätten schaffen sollen. Die Kreuze, die an dem Weg standen und von den Abstürzen anderer zeugten, wirkten nicht gerade aufmunternd auf mich. ‚Ich muss völlig wahnsinnig gewesen sein, als ich mich auf dieses Abenteuer eingelassen hatte‘, schoss es mir durch den Kopf. Aber komischerweise machte sich keinerlei Panik in mir breit. Ich wusste, dass ich das schaffe. Zwar machte sich dieses Gefühl im Bauch breit, wenn ich nach unten sah, so als ob ich schon schwebte, aber ich war die Ruhe selbst. Um die beiden großen machte ich mir keine Sorgen. Ich wusste, dass alles in Ordnung war.
Ich fühlte diese Ruhe in mir – das war fast unheimlich.
Als wir endlich die Hütte erreicht hatten, fanden wir auch die Großen wieder. Sie waren mit Andreas und dem Hund vorneweg geeilt und empfanden es als ein tolles Abenteuer.
Unser höchster Berg war 2600 m, eine fantastische Alm. Hier gab es weder Strom, noch fließend Wasser, dafür deftiges Essen und selbstgebrannten Schnaps. Franzel, der Hüttenbauer, war ein Urvieh. Er sah aus, wie der Großvater von Heidi, aber wesentlicher lustiger. Man tanzte zum Schifferklavier und musste schon mal damit rechnen, dass man von Franzel einen Kuss bekam, oder in den Po gezwickt wurde. Die Wandersleute, die den langen Aufstieg geschafft hatten, waren ausgelassener als woanders. Das war die schönste Alm, die wir gefunden hatten.
Auch die Sonnenfinsternis verbrachten wir auf einer Alm. Wir hielten alle  die Luft an. Die Kühe muhten, als ahnten sie eine Gefahr, die Hühner flatterten ganz aufgeregt umher, die Schafe blökten und auch in uns war eine ganz merkwürdige Unruhe. Und trotzdem hatte ich das Gefühl, dass wir etwas ganz besonderes, einmaliges erleben würden. Es würde die einzige Sonnenfinsternis sein, die ich sehen würde. Auch wenn ich wusste, dass es nichts mystisches, geheimnisvolles war, erlebte ich diesen Moment sehr intensiv. Ich dachte an mein Leben, an die Menschen, die ich liebte – es war ein sehr schöner Augenblick, ich war in dem Moment, als die Sonne verschwand völlig ruhig. Alles um mich war ruhig geworden – nur einen Augenblick lang, dann war es vorbei.
Man hatte uns in unserem Hotel einen Wanderpass gegeben und jedes Mal, wenn wir eine Alm erreicht hatten, holten wir uns den Stempel der Hütte an, so dass wir am Ende des Urlaubs den Wanderpass gegen ein Wanderabzeichen eintauschen konnten. Und wir schafften es, uns das goldenen Wanderabzeichen zu erwandern.
Voller Stolz zeigte ich es den lachenden Freunden. Sie witzelten rum, wen ich denn dafür und mit wie viel Geld bestochen hätte, um das zu bekommen.
7.

Wieder zu Hause, rückte der Termin bim Psychologen immer näher.
Tom fuhr zusammen mit seinem Vater wieder in die Transplantationsklinik. Man wollte die entsprechenden Tests dort machen, sich nur auf die Empfehlungen der eigenen Universitätsärzte verlassen.
Die beiden saßen zusammen in einem Raum und mussten Fragebögen beantworte, zwei Stunden lang nur Fragebögen. Diese waren genau gleich.
Fragen in der Art „haben sie als Kind gerne Mädchenkleider getragen?“ oder „Wenn sie im dunkeln im Kino ein Portemonnaie finden, würden sie es behalten?“
Man wertete die Bögen aus. Da die beiden allein in dem Raum gesessen hatten, beschuldigte man sie, sie hätten die Fragen miteinander angesprochen – die Antworten waren fast identisch. Aber da man beiden gesagt hatte, sie sollten nicht miteinander reden, taten sie das auch nicht. Ich würde es jedem zutrauen, gegen dieses Verbot zu verstoßen, aber nicht meinem Mann und seinem Vater. Die sind so diszipliniert, das geht im normalen Leben eigentlich gar nicht. Und was ich vorher schon wusste, sie sind gleich. Sie haben die gleiche Meinung, das gleiche Lebensmotto, die gleiche Disziplin. Mich überraschte die Tatsache in keiner Weise, dass auch ihre Antworten gleich waren.
Zu dem nachfolgenden Gespräch wurden sie in einen Behandlungsraum geführt. Als Tom nach Hause kam, quälte ich ihn geradezu mit Fragen zu dem Gespräch, da ich noch nie bei einem Psychologen war, konnte ich mir das gar nicht vorstellen und war so gespannt auf seine Erzählungen. Ich finde es immer wieder interessant, woraus die Antworten ableiten und Menschen einschätzen können. Das hat für mich schon was mystisches.
Tom erzählte also weiter: „Der Behandlungsraum hatte ehr was von einem Wohnzimmer, als von einem Arztzimmer. Er war eingerichtet, wie das typische Wohnzimmer einer DDR Wohnung.“ Während er beschrieb, tauchte vor meinem Augen das Wohnzimmer aus dem Film „Sonnenallee“ auf: alter abgetretener Teppich, eine Schrankwand, die auch schon bessere Zeiten gesehen hatte, eckige, samtbezogene Sessel.
„Zwei Ärzte unterhielten sich mit uns. Es war ein völlig normales Gespräch, über ihre berufliche Entwicklung, Familie, Hobbys. Eben so was in der Richtung. Sie sprachen zunächst kein Wort von Krankheit oder Transplantation.
Erst am Ende des Gesprächs, sprach man das Thema direkt an.“ 
Ich weiß nicht, ob die Ärzte es mit Absicht machten, oder ob Tom das falsch verstanden hatte, jedenfalls empfand er das Gespräch als pure Provokation.
Man warf ihm vor, seinen Vater zur Spendebereitschaft gedrängt zu haben. Führte ihm vor Augen, dass seinem Vater das Gleiche passieren könnte wie ihm – Ausfall der verbliebenen Niere und damit Dialysepflichtigkeit. Sie beleidigten mich, weil ich ja nicht bereit war zu spenden – sie fuhren das gesamte Repatuar auf, um Tom zu provozieren, ihn aus der Reserve zu locken. Aber reagierte nicht darauf, war die Ruhe selbst, beantwortete alle Fragen.
Innerlich war er jedoch am Toben und noch zu Hause konnte er gar nicht fassen, was und in welcher Form ihm alles unterstellt worden war.
Beim nächsten Termin in der Trasplantationssprechstunde wurde den beiden jedoch bescheinigt, dass man aus psychologischer Sicht keinerlei Bedenken habe.
Tom war wieder schockiert. Sollte das alles nur dazu gedient haben, um ihn zu provozieren? Hatten sie das gar nicht so gemeint, wie sie es gesagt hatten? War das alles nur eine Inszenierung? Aber Tom schob den Gedanken weit von sich weg. Er hatte nicht mal mehr das Bestreben, das genauer zu hinterfragen. Es war ja alles gut gegangen.
Und zwei Jahre nachdem er erkrankt war, konnte es nun losgehen mit der Transplantation! – dachten wir beide.
Aber sein Blutdruck hatte sich noch immer nicht normalisiert. Nach wie vor traten extreme Schwankungen auf. Das machte eine Transplantation natürlich unmöglich. Es war nicht so, dass ich das einsah. Ich schob alles auf die nicht arbeitenden Nieren. Wenn er erst transplantiert wäre, würde sich auch sein Blutdruck normalisieren.
Die Ärztin erklärte, dass man diese Schwankungen auf jeden Fall in den Griff kriegen müsse. Sie befürchtete, dass der Blutdruck die transplantierte Niere zerstören wird, so wie es auch mit seinen Nieren passiert war. Es war ein Teufelskreis!
Keiner fand die Ursache für die Schwankungen. Tom solle nicht mehr arbeiten gehen. Doch das lehnte er absolut ab. Er könne nicht den ganzen Tag zu Hause bleiben, dann könnten sie ihn gleich erschießen. Und außerdem würde er auch nach der Transplantation arbeiten wollen, ansonsten bräuchten sie das gar nicht machen, weil dann sein Leben nicht mehr lebenswert ist. Er fühlte sich verständlicherweise  noch nicht alt genug, um zu Hause zu bleiben.
Man hatte inzwischen alle möglichen blutdrucksenkenden Mittel ausprobiert. Aber keines schien zu ihm zu passen. Es kam immer wieder zu den gefährlichen Schwankungen. Der Urologe meldete sich zu Wort: „Wir sollten über eine Nephrektomie nachdenken. Möglicherweise belasten die nichtfunktionierenden Nieren den Blutdruck.“ Nachdenklich blickte die Nephrologin ihn an. Ich sah von einem zu anderen und hatte keine Ahnung, wovon die beiden sprachen. Aber mir die Blöse zu geben, nachzufragen, das konnte ich auch wieder nicht. Also wollte ich mir soviel wie möglich von dem Gespräch merken und mit Hilfe des medizinischen Wörterbuches nachschlagen, wovon die beiden gesprochen haben. Andererseits hoffte ich auf eine Antwort, die mir erklärte, um was es ging.
Aber die Ärztin blickte nur finster und schien nachzudenken. Sie wusste, dass es ein gefährlicher Eingriff war, die Nieren zu entnehmen, dass man nie genau vorhersagen konnte, wie der Organismus reagierte, wenn er keine Nieren mehr hatte – auch wenn sie nicht funktionierten.
Ihre Entscheidung konnte Toms Lebensqualität verbessern oder aber enorm verschlechtern.
„Wir werden ein anderes Mittel versuchen. Dieser Eingriff scheint mir zu gewagt. Sie wissen, dass alle möglichen Nebenerscheinungen auftreten können. Wenn wirklich die Nieren an dem schwankenden Blutdruck schuld sind, dann wissen wir wenigstens, womit wir es im Moment zu tun haben. Entfernen wir die Nieren, wissen wir nicht, was alles auf uns zukommt. Ich möchte damit warten, bis wir alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft haben.“
Sie gab ein paar Informationen an die beisitzende Ärztin. Man wollte ein anderes Medikament ausprobieren, das ganz neu war und würde sich dazu aber wieder mit den Dialyseärzten in Verbindung setzen.
Die Information kam allerdings erst 4 Wochen nach unserem Besuch in der Praxis an. Das war genau die Nachlässigkeit, die ich nicht verstehen konnte.

8.

Die ersten Anzeichen der Hauterkrankung nahmen wir gar nicht war. Tom kratzte sich immer mal, aber das taten wir ja alle von Zeit zu Zeit. Ich schob es auf die fehlende Sonne – Tom mied ja Sonne, weil sie ihm nicht so gut bekam und er das Gefühl hatte, vertrocknen zu müssen. Andererseits dachte ich an Vitamin D, irgendwo hatte ich gehört, dass sich das ja mit Hilfe der Sonne bildet und wichtig für die Haut sei.
Es  hatten sich  an Armen und Beinen Flecken gebildet, die unglaublich juckten. Nachts kratzt er sich so schlimm, dass er Schlafanzüge beim Kratzen zerriss. Ich wachte davon auf, streichelte ihn, krabbelte ihn, kratzte ihn, stundenlang. An Schlafen war ja so wie so nicht zu denken, wenn er sich so sehr kratzte, dass  er die Haut bis aufs Blut aufgekratzt hatte. Ich schleppte alle Salben an, die ich fand, streichelte ihn, bis ich völlig ermüdet einschlief, um gleich wieder aufzuwachen, weil er nicht aufhören konnte zu kratzen. Er zog Handschuhe an, um sich nicht völlig kaputt zu kratzen. Nichts half. Die Ärzte in der Dialysepraxis sagten, dass dies eine bekannte Nebenwirkung der Dialyse sei. Aber das half uns auch nicht weiter. Man musste doch was dagegen tun können!
Also zum Hautarzt – aber das ist auch immer so eine Sache. Hauterkrankungen sind so vielseitig und ich verstand, dass auch der nur experimentieren konnte, um eine Linderung zu schaffen. Auch seine Mittel halfen nicht. Erst wenn Tom ein Fleck völlig aufgekratzt hatte, hatte er das Gefühl Ruhe zu haben. Doch dann kam schon der nächste Fleck. Die aufgebrochenen Stellen versorgte er dann mit Desinfektionsmittel und Salben. Das war sicher unvorstellbar schmerzhaft. Aber er konnte nichts dagegen machen und auch die Ärzte konnten nicht helfen.
Manchmal waren die Beine so verbunden, weil er die offenen Wunden auch nicht an der Luft trocknen lassen wollte, dass die Wunden mehr an ein offenes Bein, als an eine Hauterkrankung im herkömmlichen Sinne erinnerte.
Die Transplantationsärzte waren auch ein wenig Ratlos. Sie überwiesen ihn in die Sprechstunde der Hautklinik. Man sollte sich das da mal ansehen.
Die Sprechstunde der Hautklinik war gnadenlos überfüllt. Ärzte, gefolgt von Studenten, oder Assistenzärzte liefen von Behandlungszimmer zu Behandlungszimmer und sahen sich die einzelnen Patienten an. Schwestern hatten mit Verbänden, Terminvergaben oder Einweisungen in die Klinik zu tun. Es wirkte auf mich wie ein großer Ameisenhaufen, in dem alle hin und her eilten, ihren Beschäftigungen nachgingen, ohne sich um ihren  Nachbarn zu kümmern.
Auch wir waren in so einem Behandlungszimmer gelandet und als wir die Tür hinter uns geschlossen hatten,  war es ganz still um uns. Ein Arzt riss die Tür auf, stürzte herein und so wie er die Tür geschlossen hatte, trat auch die Ruhe wieder ein. Von den geschäftigen Treiben war nichts mehr zu spüren. In aller Ruhe ließ er sich Toms Problem schildern, besah sich die Wunden und ich glaubte ihm fast Mitleid anzusehen, so intensiv beschäftigte er sich damit. Er machte einen Abstrich von einem der Flecken, sah in einem seiner vielen Bücher nach, verglich, verwarf seine Idee wieder. Und endlich begann er zu reden.
„Ich glaube, ich weiß um welche Art Erkrankung es sich handelt. Prinzipiell ist es bei Dialysepatienten so, dass sie unter trockener Haut leiden, da  sie ja alle Flüssigkeit aus ihrem Körper filtern müssen. Der Juckreiz, den sie beschreiben, ist also eine normale Reaktion auf ihre Niereninsuffizens. Aber die Knoten, die sich auf ihrer Haut gebildet haben, haben damit nichts zu tun. Das ist was anderes. Beschreiben sie mir den Krankheitsverlauf der einzelnen Knoten“
„Zunächst sind es nur rote Flecken, die verschieden groß sind, etwa Hemdknopfgroß. Die beginnen dann stark zu Jucken und das hört erst auf, wenn sie aufgekratzt sind. Sie bluten auch nicht richtig. Dann bildet sich eine Haut drauf, die Flecken jucken nicht mehr, und heilen ab.“
Verständnisvoll nickte der Arzt und verglich Toms Bericht mit dem Buch, dass er aufgeschlagen hatte.
Er war sich nun ziemlich sicher. „Gestatten Sie mir, einen Kollegen dazuzuholen? Es ist eine sehr seltene Erkrankung, zumal bei einem Mann ihres Alters.“ Er verschwand um gleich darauf mit einem anderen Arzt wieder zu kommen. Der besah sich Tom, seine Arme, seine Beine, seinen Körper, an dem ja eigentlich nichts war. „Ja“, begann er „mein junger Kollege hat Recht. Sie sind an Prurigo Nodularis nach Hyde erkrankt. Die Ursache für diese Erkrankung ist nicht bekannt. Und ich weiß auch nicht, ob ihre Niereninsuffizens, oder der chronische Bluthochdruck im direkten  Zusammenhang damit stehen. Normalerweise tritt diese Krankheit bei Frauen mittleren und höheren Alters auf. In Untersuchungsreihen wurden psychosoziale Störungen und allergische Krankheitsbereitschaft als Ursachen angenommen. Aber bei ihnen?“
Er fuhr fort, dass eine Heilung sehr schwierig sei und gab allgemeine Tipps, zuviel Seife vermeiden und Wasser, das würde die natürliche Schutzschicht der Haut zerstören. UVA und UVB Bestrahlungen könnten sich günstig auswirken. Auch verschiedene Naturheilprodukte sollen schon gut gewirkt haben, Kräuter und in jedem Fall Bäder. Tom verwies gleich darauf, dass es mit Bädern schwierig wäre wegen seines Katheders.
Ich merkte den beiden an, dass sie keine richtige Therapie vorschlagen konnten. Sie verschrieben Salben – man müsse sehen, ob es damit Linderung gab. Mit Medikamenten wollte man sich mit dem Transplantationsteam erst abstimmen.
Wir bekamen einen neuen Termin.
Zu diesem Termin kam gleich einer der Oberärzte dazu. Tom kam sich wie ein Anschauungsobjekt vor. Ganz offensichtlich hatte man den Fall in größerer Runde besprochen. Man hatte die Abstriche ausgewertet.
„Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass diese spezielle Form der Prurigo Erkrankung doch auf ihre Dialyse zurückzuführen ist. Es ist eine psychosoziale Störung, was bedeutet, dass ihr Körper extrem anfällig und bereit  für Krankheiten ist. Um es verständlich auszudrücken: Teile des Harnstoffs, der bei ihnen nicht natürlich ausgeschieden wird, setzt sich unter der Haut ab und reizt sie so, dass sie krank wird. Eine Heilung wird nicht möglich sein. Wir können nur versuchen, eine Linderung herbeizuführen. Eine Heilung wird erst mit der Transplantation eintreten, wenn ihr Körper Urin bildet und ausscheidet.“ 
Tom kratzte also weiter, die Salben schlugen wenig oder gar nicht an. Die Medikamente ermüdeten Tom, so dass er sie nach Absprache mit der Dialysepraxis wegließ.

9.

So beschlossen wir, doch Urlaub in der Sonne zu machen. Vielleicht konnte sie heilen, was die Medikamente und die Salben nicht schafften.
Tom wollte gern an den Plattensee. Dort war er öfters im Urlaub, als wir uns noch nicht kannten und er wollte Ungarn  gerne wieder sehen.
Wir fuhren mit meiner Freundin und deren beiden Töchter.
Wie viele Urlaube mussten wir eigentlich noch hinter uns bringen, mit der Dialyseausrüstung? Wann würde es endlich so weit sein, dass unser Leben wieder in normalen Bahnen verlief? Wann würden wir wiedermal in den Urlaub fliegen können? Ich hasste es inzwischen, Stunden mit dem Auto zu fahren. Es war so anstrengend, es machte mich echt fertig.
Auch wenn die Sonne Toms Haus gut tat, war es andererseits für seinen Kreislauf gar nicht gut, sich der Sonne auszusetzen. Er hatte unendlich Durst und hatte andererseits Angst, dass es zu Wassereinlagerungen kommen könnte. Er scheute sich auch im Plattensee baden zu gehen. Auch wenn wir gelesen hatten, dass die Qualität des Wassers hoch sein soll, so hatten wir doch den Eindruck, dass er unglaublich dreckig war. Vielleicht liegt das daran, dass er nicht tief ist und der aufgewühlte Boden den See dreckiger erschienen ließ, als er in Wirklichkeit war.
Am schönsten war eigentlich immer unser Frühstück. Wir hatten zusammen ein Haus gemietet und saßen dann stundenlang am Frühstücktisch, redeten, lasen, lachten.
Mein Geschmack an Romanen hatte sich auf Grund meines Lebens auch geändert. Ich las jetzt lieber Bücher über Schicksale und wie andere Menschen damit fertig geworden waren. In diesem Urlaub hatte ich Ranickis Biografie in die Hände bekommen und konnte sie gar nicht mehr weglegen. Es lenkte mich von meinen eigenen Problemen ab und zeigte mir immer wieder, dass ich mich nicht und auf gar keinen Fall beschweren kann: Mein Mann lebt, es geht uns gut, unsere Kinder sind gesund und wir können in den Urlaub ...  Und trotzdem blieb ein  „Aber“ Ich hätte nicht erklären können, was mir fehlt, war nicht unzufrieden, oder meckerte über die Situation. Ich war einfach nur müde, müde allem gegenüber.
Aber Dank Ranickis Buch wurden meine eigenen Probleme, Ängste und Sorgen in den Hintergrund gedrängt. Es ist einfach ideal, um in eine andere Welt einzutauchen und zu verschwinden aus der eigenen. 
Da Tom nicht mit uns am Strand des Plattensees liegen wollte, unternahm er gerne mal was mit den Kindern. Das tat auch mir gut und meine Freundin war begeistert.
Die Stätten seiner „Jugend“ besuchten wir zusammen, den Pullovermarkt  von Shiofok – betrübt stellten wir fest, dass er seinen Zauber verloren hatte, Budapest, dass inzwischen noch dreckiger geworden war und die Weinplantagen, die allerdings schöner waren als je zuvor. 

10.

Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Idee kam, aber irgendwie hatte sich die Idee in meinem Kopf festgesetzt, in die Kur zu fahren.
Andere schwärmten immer so davon, ich wollte mich auch mal verwöhnen lassen. Aber was viel mehr zählte, ich wollte einfach nur weg, mal was anderes sehen, mal mich nur um mich kümmern – 3 Wochen nur.
Tom wollte mich fahren, oder meinte, ich solle mit dem Zug fahren, er könne mich ja am Wochenende besuchen  - und all so Sachen.
Bis ich ihn anschrie, daß ich wohl allein in der Lage sein würde, 500 km zu fahren und das ich  nicht will, daß er mich besucht. Das war vielleicht fürchterlich hart für ihn. Aber verstand er nicht, sah er nicht, daß ich nicht vor ihm weglief, sondern vor meinem eigenen Leben und das ich das unbedingt brauchte, um nicht vor unserem gemeinsamen Leben davonzurennen?
Er sagte nichts.
Und er half mir nicht.
Ich packte meine Koffer, die Koffer der Kinder, verstaute die Spielsachen, packte alles ins Auto, gab ihn einen Kuß und war verschwunden.
Hätte er mich nicht in den Arm nehmen können und mir die vor mir liegende Zeit gönnen können?
So gern wie ich gehabt hätte, daß er mich besuchen würde, so sehr fürchtete ich mich davor, vor den Nächten, vor dem Kratzen vor dem Nicht – Schlafen – Können.
Es kam mir vor, als ob ich ewig nicht geschlafen hätte. Erst kam die Kleine auf die Welt, und sie war ein fürchterlich nachtaktives Baby gewesen und als sie gerade angefangen hatte durchzuschlafen, wurde Tom krank und ich schlief wieder nicht.
Es war verrückt, es gab nichts, was mich hier nachts gestört hätte – das Kurheim lag so abgelegen, daß es einfach nur immer ruhig war – abgesehen von dem Kinderlärm tagsüber – und trotzdem, ich konnte nicht schlafen. Kaum dass ich eingeschlafen war, wachte ich wieder auf, wußte oftmals gar nicht wo ich war.  Und lag dann ewig wach. Immer wieder  schreckte ich auf.
Und erst jetzt in der Ruhe der Nacht und bei den langen Spaziergängen, wurde mir klar, wie schwer ich litt. Daß ich mir immer nur Sorgen gemacht hatte, immer Angst hatte, es könnte schlimmeres passieren.
Nach einer Woche gelang es mir dann tatsächlich durchzuschlafen. Ich wachte nicht mehr auf. Das tat unheimlich gut. Ich war wesentlich erholter, wenn ich frühs aufstand.
Es war verrückt, aber ich hatte nicht gemerkt, daß ich so fertig war. Ja, ich hatte bemerkt, daß ich bedrückt war und völlig fertig, aber ich hatte nicht geahnt, daß ich mich soviel besser fühlen konnte. Ich hatte mich an dieses schreckliche Gefühl in mir gewöhnt.
Ich beschloss mit einer der Psychologinnen zu sprechen. Wenn ich so viele Dinge nicht bemerkt hatte, vielleicht war da noch mehr.
In mir war ein Selbsterhaltungstrieb durchgebrochen, ich war besessen von dem Gedanken, mich endlich wieder leicht und lustig zu fühlen, ich war noch nicht mal 35 und kam mir uralt vor – verbraucht und zu nichts mehr fähig.
Ich lachte in mich hinein, ob ich wohl auch auf den „Couch“ landen würde, die ich von Fernsehen kannte?
Ohne Zweifel war auch ein  ungutes Gefühl in mir. Der Gedanke, daß die nun anfange würden, meine Kindheit auseinanderzunehmen, mir Macken einzureden, die ich gar nicht hatte – wenngleich ich sicher genug Echte hatte -  ließ mich doch ein wenig erschaudern.
Eigentlich wollte ich gar nichts über mich erfahren. Was ich über mich wissen wollte, erfuhr ich, wenn ich selber in mich hineinhörte.
Ich wollte wissen, wie es mir besser gehen konnte, wie ich mit Franks Leid umgehen konnte, wenngleich ich dem gar nicht die Schuld daran gab, daß es mir so ging. Vielmehr gab ich mir die Schuld. Ich war doch nicht fähig, mit Krankheit umzugehen.
Also nahm ich all meinen Mut zusammen und bat um ein Gespräch. Die drei Psychologinnen sah ich mir genau an. Wenn ich mit jemanden reden wollte, dann musste vom ersten Moment an die Chemie stimmen. Dabei machte ich mir keinerlei Gedanken, was sie von mir dachte, ob sie mich mögen würde, ich musste sie mögen können, nur das war wichtig.
Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wie ich anfangen sollte. Was sollte ich erzählen? Ich begann einfach, erzählte von mir, den Kindern,  Toms Krankheit und das ich allen Mut verloren hätte. Über manche Sätze wunderte ich mich selber. Ich weiß nicht, wie sie es schaffte, dass ich sie sagte. Ich hatte mich noch nie irgendwo „beschwert“ oder „ausgeheult“, dass es mir zuviel wurde. Sie unterbrach mich nicht. Als ich verstummte, fragte sie „Wovon träumen sie?“ Völlig verwirrt sah ich sie an. „Gibt es einen Traum, der häufig wiederkehrt? Sie scheinen ein sehr phantasiereicher Mensch zu sein. Was fällt ihnen spontan ein?“ Sie hatte Recht. Es gab Träume, die immer wider kehrten. „Zum einem träume ich immer wieder, dass ich wieder studieren würde, ich habe das Studium abgebrochen, zum einen, weil es gar nicht meinen Interessen entsprach und ich dann einfach den ganzen Quatsch nicht stupide lernen kann. In meinem Traum bin ich wieder dort und schaffe es einfach nicht. So sehr ich es auch will, ich bestehe die Prüfung einfach nicht. In einem anderen Traum, sehe ich immer wieder einen Hund vor mir, der mich anfällt. Aber diesen Hundetraum habe ich schon als Kind gehabt. Ich laufe über Berge, immer Bergauf, Bergab und dieser Hund rennt hinter mir her und ich kann einfach nicht vor ihm weglaufen, egal wie sehr ich mich auch anstrenge. Aber in den letzten Monaten ist der Traum anders. Ich gehe z. B. spazieren und da kommt dieser Hund und fällt mich an. Und es ist kein Mensch da, der mir hilft. Ich will schreien, aber es kommt kein Ton aus meinem Mund. Das ist einfach schrecklich.“ Bei dem Gedanken liefen Tränen über meine Wangen. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, doch in diesem Moment war dieser Traum so nah, dass er mir wieder Angst machte und die Tränen, die ich nie hatte weinen können, waren nun einfach da.
Sie sah mich an und ich las alle Antworten in ihrem Gesicht. „Hatten sie so eine Begegnung mit einem Hund?“ Spontan verneinte ich es. Doch dann fiel mir der Urlaub in Frankreich wieder ein. Das hatte ich total vergessen. Ich erzählte ihr davon. „War ihr Mann damals schon erkrankt?“ Ich bestätigte, dass er gerade ein halbes Jahr erkrankt war.
Ganz spontan erzählte ich auch, dass ich gerne joggen, oder Inliner laufen würde, aber immer Angst hatte, dass dieser Hund vor mir stehen würde und ich mir das aus diesem Grund nicht traute.
Ich hatte keine Ahnung, wie viel Zeit sie für mich eingeplant hatte und ich hatte schon Angst, gehen zu müssen, ohne eine Antwort zu erhalten, eine Antwort auf all meine Fragen, auf die wichtigste Frage: Wie soll ich mein Leben schaffen? Ich fühlte mich komischerweise so wohl. Ich erzählte einer Fremden von mir, meinem Innersten und ich fühlte mich wohl dabei.
„Wissen sie, sie schaffen alles. Da bin ich mir ganz sicher. Sie haben Angst und das ist normal. Was sie erleben, ist nicht das, was sie kennen, was wir bei unseren Eltern gelernt haben. Ein Mensch den sie lieben, ein junger Mensch wird schwerstkrank. Sie haben gelernt, dass alte Menschen krank werden und sterben und jetzt sehen sie, dass es uns alle treffen kann. Dass ihr Mann gestorben wäre, hätte er vor 50 Jahren gelebt. Das zu verarbeiten braucht Kraft. Oftmals verarbeiten wir alle das in unseren Träumen. Sie auch. Darum habe ich sie auch danach gefragt, sonst hätte ich die Signale, die ihre Seele, ihr Geist oder wie immer sie das bezeichnen wollen, gibt woanders gefunden. Aber sie müssen was tun, sonst wird es ganz schlimm. Ich bin froh, dass sie doch noch den Weg zu uns gefunden haben. Ihre Angst ist reine Verlustangst, Angst einen geliebten Menschen zu verlieren. Wir werden immer wieder Menschen verlieren, die wir lieben, aber wir dürfen dabei uns selbst nicht verlieren.
Sie leben!
 Und so egoistisch wie das klingen mag. Sie sind der wichtigste Mensch in ihrem Leben. Sie tun alles für andere und nie etwas für sich selbst.  Seien sie mal egoistisch, denken sie mal an sich! Einen ersten wichtigen Schritt haben sie getan, als sie hierher gefahren sind. Und sicher sagen sie sich irgendwo, dass sie eigentlich gar nicht hier sein dürften, weil sie einen kranken Mann zu Hause gelassen haben. Aber laden sie ruhig ein wenig Last auf die Schultern der anderen. Geben sie seinen Eltern ein wenig, der Schwester, den Freunden. Sie helfen gerne. Glauben sie nicht, sei seien Ghandi und müssen alles auf sich laden. Das schlimme ist, sie projizieren ihre Angst in all ihre Lebensbereiche. Ich werde ihnen ihre Angst nicht nehmen können, ich kann ihnen auch kein Medikament verschreiben, das ihnen ihre Angst nimmt. Sie werden selbst was dagegen tun müssen. Und das müssen sie unbedingt. Noch haben sie nur Angst, auf einsamen Wegen sein, wenn sie aber nichts tun, wird die Angst so groß, dass sie eines Tages nicht mehr ihr Haus verlassen.“ Erstaunt sah ich sie an. Sie hatte Recht. Ich hatte in den Jahren der Krankheit nie in mich reingehorcht, obwohl ich doch ein Mensch bin, der sich ständig Gedanken um sich und seine Umwelt macht, hatte ich mich selbst vergessen. Ich akzeptierte die angebotene Hilfe der anderen nicht. Das brauchte ich doch nicht. Ich schaffe alles alleine. Aber ganz offensichtlich war es wohl doch nicht so. Sie rückte mir den Kopf zurecht, war stellenweise richtig aggressiv – und sie schaffte es, sie riss mich aus meiner Angst.
„Sie wollen sich sportlich betätigen? Dann tun sie das. Das ist meine Hausaufgabe für sie. Sie werden den kleinen Weg am Bodden entlang joggen. Packen sie sich am Anfang ein Spray ein, einen  Stock, ein Taschenmesser, irgendwas, von dem sie glauben, ihren Traumhund von sich fern halten zu können. Machen sie es und dann sehen wir uns wieder.“ Damit hatte sie mich entlassen.
Ich dachte darüber nach. Verflucht sie hatte Recht. Mein wider aufgenommenes Studium: ich hatte Angst zu versagen, die sich vor mir aufbauenden Aufgaben nicht zu schaffen, auch wenn es dazu eigentlich gar keinen Grund gab. Selbst wenn ich etwas nicht schaffen sollte, ich war doch auch nur ein Mensch. Und da waren doch genug andere um mich herum, die zu helfen bereit waren. Warum nahm ich die Hilfe nicht an? Glaubte ich dann, weniger gut, oder stark zu sein? Hatte ich Angst, für Tom dann weniger wichtig zu sein? Ich hatte keine Probleme mit der Situation, ich hatte Probleme mit mir selber. Ich mutete mir zuviel zu. Und ich hatte es nicht erkannt. Keiner hatte es erkannt. Auch Tom nicht, meine Freunde nicht. Keiner sah, dass es mich  zerstörte. 
Und wenn ich ganz tief in mich hineinhörte, hatte ich damit ein Problem, dass es keiner sah, auch wenn ich das vor mir selber noch nicht zugegeben hatte. Ich war doch auch immer für andere da, half, wo immer ich konnte, gab alles und nun war keiner für mich da!
Aber ich durfte mich nicht unterkriegen lassen. Und ich würde mich nicht unterkriegen lassen. Mit zittrigen Beinen machte ich mich auf den Weg am nächsten Morgen. Die Kinder schliefen noch und sie würden noch schlafen, wenn ich wiederkam. In jeder Hand mit einem Spray bewaffnet machte ich mich auf den Weg. Und ich hatte Angst, den ganzen Weg entlang hatte ich Angst. Ob meine Beine nun vor Aufregung zitterten, dass ich laufen würde, ob vom Laufen selber oder vor Angst, wusste ich nicht. Ich wiederholte meinen Ausflug jeden Morgen und es tat mir immer besser. Irgendwann hatte ich den Mut, ohne meine Sprays in der Tasche loszulaufen. Ich musste es wagen. Und dann passierte es: mein Alptraum wurde wahr: Da stand dieser Hund auf meinem Weg. Ich erstarrte, verfluchte die Frau, die mich geschickt hatte, wollte in Panik ausbrechen. Doch plötzlich kamen mir ihre Worte in den Sinn. Wenn dieser Hund mich zerfleischen wollte, dann würde er es eben tun. Ich würde nicht mehr davor weglaufen. Meinem Schicksal kann ich nicht davonlaufen. Ich beruhigte mich, die Ruhe, die ich bei der Sonnenfinsternis empfunden hatte, überkam mich, eine seltsame Ruhe. Ich rannte an dem Hund vorbei und sagte „Guten Morgen Hund.“ Er sah mich an und lief in eine andere Richtung davon.
Sprachlos stand ich da.
Doch dann jubelte ich, sprang in die Luft, schrie vor Freude. Ich fühlte mich so stark. In das nächste Gespräch mit der Psychologin ging ich wesentlich entspannter. Ich erzählte ihr davon und konnte den Stolz auf mich selbst in meiner Stimme nicht verbergen. Sie lenkte die Sprache, ohne ein weiteres Wort über die Ereignisse zu verlieren, auf mein angesprochenes Eheproblem, auf die Sprachlosigkeit, die Unfähigkeit über Gefühle zu reden. Ich war zunächst irritiert. Warum sagte sie nichts zu meinem Laufen. Ich hatte Lobesworte erwartet, erwartet, dass sie sagt: „Na sehen sie, es geht doch. Alles wird gut!“ aber nichts dergleichen kam. Auch so eine Lektion, die sie mir lernte: Wenn mir etwas gelungen ist, brauche ich keine Anerkennung von anderen. Ich hatte meine Bestätigung doch bereits gefunden.
Sie führte mir vor Augen, dass die Sprachlosigkeit meines Mannes über die ich mich beklagt hatte, ehr meine eigene Sprachlosigkeit war. Wenn ich ein Problem hätte, solle ich mit ihm sprechen. Ich wusste, was sie meint. Ich konnte mich nicht beklagen ohne bereit zu sein, Probleme anzusprechen. Oft genug verschwieg ich meine eigenen Gefühle, befürchtete, dass sie lächerlich klingen würden. Aber sie waren nicht lächerlich, nicht für mich. Und dazu muss ich stehen. Sie waren wichtig für mich und schrieen danach rausgelassen zu werden. Und was wichtig für mich ist, dafür muss ich zu kämpfen bereit sein.
Als ich meine Kur beendete gab sie mir noch gute Ratschläge mit auf den Weg. „Sie werden weitere Rückschläge erleiten. Auch wenn ihr Mann gesund werden sollte, ihr Leben bleibt bis zum letzten Atemzug ein Abenteuer, dass wir nicht immer bewältigen können. Aber versprechen sie mir, sich nicht zu verkriechen, schon gar nicht in sich selbst. Wenn sie glauben, nicht klar zu kommen und niemanden haben, mit dem sie reden können, der sie zu verstehen scheint, suchen sie sich professionelle Hilfe. Sie haben gemerkt, wie schwer es ihnen gefallen ist, zu mir zu kommen. Scheuen sie nie mehr davor zurück. Sie wollen leben. Und das wissen sie.“
Sie hatte Recht. Und ich bin ihr unendlich dankbar für das, was sie mir geraten hatte. Ich war gestärkt und bereit mein Leben wider aufzunehmen.

11.

Es war wieder Winter. Tom war nun schon 3 Jahre krank.
Die Faschingszeit stand vor der Tür und da wir leidenschaftliche Faschingsgänger sind,  hatten wir schon mit den Vorbereitungen begonnen. Wir sind meist eine Gruppe von 10 Leuten und allein an der Vorbereitung haben wir schon richtig Spaß. Im Dorf gehen dann immer schon Gerüchte rum, als was wir in diesmal gehen könnten. Die besten Kostüme werden dann prämiert. Aber es geht nie darum, was der 1.Preis ist, sondern nur darum, ob wir ihn kriegen. Die Konkurrenz ist immer sehr stark und das spornt uns immer wieder an. In diesem Jahr wollten wir die „Gesundheitsreform“ aufs Korn nehmen. Wir malten und bastelten schon Wochen vorher und hatten wie immer Spaß. Tom machte zwar mit, aber so richtig fehlte ihm die Lust. Meist war ich der treibende Teil bei diesen Aktivitäten und meisten trafen wir uns auch bei uns zu Hause. Seit ich in einer Faschingshochburg studiert hatte, war ich von diesem  verrückten Treiben ums Verkleiden absolut fasziniert.
Tom ging es wiedermal schlechter. Mit der Dialyse ging es auch immer schlechter. Die halbe Nacht hupte die Maschine, die Flüssigkeit wollte einfach nicht ablaufen. Es waren anstrengende Nächte, wir schliefen beide nicht. Seine Füße schwollen an, das Dialysat war trüb – Bauchfellentzündung? Schon wieder?
Er gab eine Probe des Dialysats bei den Ärzten ab: keine Bakterien, die darauf schließen ließen. Was war es dann?
Es dauerte einige Zeit, bis wir dahinter kamen. Der Katheder arbeitete nicht mehr einwandfrei. Immer wieder setzten sich kleine Glukose Brocken vor den Katheder, so dass er nicht mehr arbeiten konnte. Also wieder Krankenhaus, Kathederwechsel. Den neuen Katheder setzt man nicht an die gleiche Stelle, damit die Haut und das Gewebe an der alten Stelle besser abheilen konnte.
Tom war also im Krankenhaus und es war Fasching. Ich stellte gar keinen unmittelbaren Zusammenhang her. Aber er wurde für mich hergestellt.
Toms Eltern  fanden es absolut unpassend, dass ich trotzdem zum Fasching gehen wollte. Und das könne man doch gar nicht machen. Was sollen denn die Leute sagen? Mich hat es noch nie interessiert, was die Leute sagen. Die Leute leben einfach nicht mein Leben. Wer will sich anmaßen, mir etwas vorzuschreiben. Tom sagte zwar, dass ich gehen solle, aber ich merkte ihm an, dass er es auch nicht wollte. Hatte er seine Eltern nur „vorgeschickt“? Ich fühlte mich total schlecht! Ich meine, ich war doch immer für ihn da, ging nicht weg, obwohl ich das gerne gemacht hätte. Ja, er war krank und es ging ihm oft nicht gut. Aber ich war kerngesund und ich hätte gern auch mal was anderes gesehen als Krankheit. Mir ging dieser blöde Hochzeitssatz nicht mehr aus dem Sinn „..in guten wie in schlechten Zeiten..“  Also sagte ich mir ‚Es sind eben jetzt schlechte Zeiten, halte durch. Es wird auch wieder besser.‘
Ich ging nicht. Und ich sprach – entgegen dem Rat der Psychologin – auch nicht mit ihm darüber. Unsere Freunde waren total enttäuscht und wollten mich wieder und wieder überreden. Sie riefen Tom an und sagten, sie werden schon auf mich aufpassen, und er soll mich doch gehen lassen. Wahrheitsgemäß sagte er, dass er nichts anderes gesagt hätte.
Aber ich wusste, dass er es nicht wollte.
Sie zogen sich noch bei mir um und als sie gegangen waren, hätte ich heulen können. Ich hatte ein echtes  Problem damit, dass ich zu Hause geblieben war, ich liebe eben Fasching, wenn sich alle verkleiden, wenn man einmal im Jahr jemand anders sein kann, als man ist.
Aber wie hätte ich das erklären sollen?
Ich räumte die Spuren des lustigen Treibens in meiner Küche weg, brachte die leeren Sektflaschen in den Keller, räumte die Gläser weg, kehrte die Küche und  ging mit den Kindern ins Bett und wir machten es uns gemütlich vor dem Fernseher.
Als Tom das Thema anschneiden wollte, war die Wunde bereits geheilt und ich war nicht bereit, sie erneut von ihm aufreisen zu lassen. Ich unterbrach ihn einfach mitten im Satz. „Vergiss es und fang nie wieder davon an!“
Ich spürte, daß er Angst hatte, ich könnte ihn betrügen und letztlich verlassen. Wir sprachen wie immer nicht darüber. Aber diesmal vermied ich das Thema. Ich wollte ihm keine Erklärungen geben, oder Versprechen. Das erschien mir so absurd und irrsinnig, wie wenn ich ihm hätte versprechen sollen, daß die Sonne frühs wieder aufgeht.
Es gibt Dinge, die sind eben so, wie sie sind.
Klar spürte er auch, daß es Männer gab, die der Meinung waren, „dass mir doch auf jeden Fall was fehlen musste“.
Am Anfang fühlte ich mich ja noch geschmeichelt, weil ich die Aufmerksamkeit anderer erregte. Und so wie ich manchmal aussah – übermüdet und völlig fertig - , mußte ich doch eine wahnsinnige Ausstrahlung haben! Und das waren gut situierte Männer, nicht irgendwelche Chaoten, denen  der Alkohol schon das Gehirn zersetzt hat. Ich glaube, da hätte sich jeder geschmeichelt gefühlt.  
Als ich dahinter kam, war mein Entsetzen einigermaßen groß.
Ich hatte wirklich geglaubt, dass sie mit mir Fahrradfahren, oder Inliner laufen wollten, oder die Einladung zum Essen ernst meinten.
Aber das und was sonst noch an  obskuren Einladungen ausgesprochen wurde, schien nur darauf abzielten, mit mir zu schlafen. Es ekelte mich an. Und es gab Momente, in denen ich das auch ziemlich deutlich und ohne Umschweife sagte. Das komische war nur, die verstanden das gar nicht. Je deutlicher ich wurde, um so mehr fühlten sie sich angespornt, mir weiter Offerten zu machen. Das mag absurd klingen, aber immer wenn ich „Nein“ sagte, dann schienen sie „Ja“ zu verstehen.
Also überließ ich es ihrer Phantasie, wie lächerlich sie sich machen wollten. Komisch nur, dass mir Verhältnisse mit genau den Männern nachgesagt wurden, die ihre Frauen unbedingt betrügen wollten und die ich abblitzen ließ. Warum wurde eigentlich nie darüber getratscht, was sie sagten, oder machten? Sondern nur darüber, was ich nicht machte? Diese Mutmaßungen und Unterstellungen, diese Falschheit und Verlogenheit hat eben dazu geführt, dass mir egal ist,  was die Leute denken.
Ich weiß, dass ich  mich niemals darauf eingelassen habe und nur das ist wichtig für mich, nicht, was die Leute sagen. Nicht nur, weil ich Tom damit unendlich verletzt hätte, sondern weil es mich selber extrem verletzt hätte. Ich hätte mich nicht mehr im Spiegel ansehen können.
Ich erzählte Tom nichts davon. Weder von den merkwürdigen Angeboten, noch von dem Getratsche der Leute. Ich wollte nicht, dass er sich darüber Gedanken macht, oder mir ganz und gar misstraut.
Und so beleidigend das auch war, sowohl für mich, als auch für Tom, ich bog mich im Stillen vor Lachen darüber, wie sich erwachsene Männer zum Clown machen konnten.  Ich konnte gar nicht anders.
Immer wenn Tom wieder aus dem Krankenhaus heimkam, war ich bitterlich enttäuscht. Ich hatte jedes Mal die Erwartung, dass sich in unserem Leben irgendwas ändern würde, dass wir aufmerksamer miteinander umgehen würden. Aber nichts tat sich und ich merkte, dass ich immer kälter wurde. Das machte mir am meisten Angst: ich merkte, dass ich mich veränderte und merkte, dass ich nichts dagegen tun konnte obwohl ich es gewollt hätte.
Wenn ich Sonntags kochte, dann passierte es, dass  Tom in die Küche kam und sagte er könne das heute unmöglich essen und aß bei seiner Mutter. Als er das das erste Mal machte, stand ich da wie vom Donner gerührt. Hatte er das eben wirklich getan? 
Ich verstand schon, dass er nachts gebrochen hatte, sich absolut unwohl fühlte, und sich mehr nach seinem Appetit richtete, als danach, dass er mich verletzten könnte, aber trotzdem war es wie ein Schlag, dass er vorzog mit seinen Eltern zu essen  und nicht mit mir und seinen Kindern.
Ich verstand es nicht. Und sprach nicht darüber. Auch wenn ich es als beleidigend empfand, ich konnte ihn doch nicht zwingen. So redete ich mir ein, er habe kein Interesse an mir und den Kindern, an unserem Leben. Rational betrachtet war das totaler Blödsinn, aber ich konnte nicht rational denken.
Und damit mich sein Benehmen nicht verletzte, fand ich mich einfach mit der Tatsache ab. Was hätte ich auch sonst tun sollen?

12.

Anne sollte in die Schule kommen Urlaub hatten wir keinen geplant. Tom wollte einfach zu Hause bleiben. Auch er war müde.Ich wollte gern mit den Kindern ins Euro Disney fahren. Ich dachte wieder daran, dass wir das vor 3 Jahren schon mal wollten und es nicht geklappt hatte. Diesmal würde ich fahren. Ich buchte nicht. Ich würde mit einem T4 Bus fahren und auch darin schlafen.Diese Entscheidung fiel mir unendlich schwer. Aber nachdem ich sie gefällt hatte, würde ich sie auch durchsetzen. Nichts würde mich davon abhalten, weil ich die Entscheidung für unser Kind traf. Ich wollte die Schuleinführung für Anne zum Höhepunkt werden lassen und ihr diese Reise schenken. Nach reiflicher Überlegung fragte ich  meine Schwester, ob sie mich begleiten würde. Die Vorstellung, dass ich allein mit den Kindern durch Frankreich fuhr, ließ mich doch ein wenig ängstlich werden.

Sie zögerte zwar erst, konnte nicht verstehen, dass ich das wollte, stimmte dann aber zu. Nachdem ich ihr erklärte, dass es für Tom nicht zumutbar ist, den ganzen Tag durch diesen Park zu schlendern, dass es seine Kraft übersteigen würde, aber es in diesem Fall um Anne geht, verstand sie mich.
Wir fuhren und es waren 3 herrliche Tage. Selbst Nele, die inzwischen schon fast 13 war, hatte einen unglaublichen Spaß. Sie war viel zu erwachsen geworden für ihr Alter, ihre Vernunft und ihr  Verständnis für das Leben schockierten mich manchmal. Wo war das Kind in ihr geblieben? Doch hier kam es wieder. Sie  erinnerte sich wieder daran, dass sie hier gewesen war, als sie 3 Jahre war, erkannte den Drachen im Schloss wieder und ich sah das Glück in ihren Augen. Als wir uns die nächtliche Parade ansahen, als Peter Pans Glöckchen durch die Luft schwebte, konnte ich die Tränen in ihren Augen sehen. Sie war unsagbar glücklich.
Anne war von den vielen Eindrücken fix und fertig. Sie konnte gar nicht genug bekommen, wollte alles wieder und wieder erleben und machte die Feststellung, dass wir das gar nicht konnten. Nach 2 Tagen hatten wir alles in den Park erlebt, na ja, fast alles. Aber wir hatten alle genug. Ich schlug vor, doch noch die paar Kilometer bis Paris zu fahren. Klar, dass da alle dabei waren. Auch meine Schwester war noch nie in Paris gewesen. Was ich mir dabei gedacht hatte, weiß ich nicht: ich mit einem nagelneuen T4 Bus in Paris! Mir graute bei dem Gedanken an die Fahrweise der Pariser. Allein der 6-spurige Kreisverkehr am Arc de Triomphe war ein Alptraum. Aber wir wagten es uns. Ich fühlte mich so stark. Schließlich hatte ich es bis hierher geschafft! Und wir machten eine Stadtrundfahrt. Weniger weil wir das wollten, einfach weil wir den Eifelturm nicht fanden. Dafür sahen wir einige der berühmten Bauwerke: den Notre Dame, den Louvre, fuhren die Champs-Elysees entlang – bis ein idiotischer Moped Fahrer uns rechts überholen wollte und nicht bedachte, dass ich rechts abbiegen wollte. Die Tür meines Busses war hin. Der Mopedfahrer, strauchelte, fuhr aber weiter und winkte – ihm war nichts passiert. Völlig geschockt saß ich hinter meinem Lenkrad. In Deutschland  hätte sofort jeder die Polizei geholt. Aber was hätte es mir denn genützt? Ich verstand kein Wort Französisch, der Mopedfahrer war weg – Ce las vie, so ist das Leben. Sofort machte ich mir Sorgen, was würde das wieder kosten, was würde Tom sagen, was mein Freund, von dem ich mir den Bus geborgt hatte? Doch dann holte ich tief Luft. Nein! Es war passiert, na und?! Jetzt und hier denke ich nicht mehr daran, ich lasse mir nicht die Laune von meiner Angst und meinen Gedanken verderben. Hier wollte ich nur die Stadt genießen. Und es funktionierte.
Wir bestiegen den Eifelturm und Paris lag uns zu Füßen. In dem Stadtführer lasen wir nach, was wir sahen. Gerne wäre ich durch den Louvre geschlendert und hätte mir all die berühmten Gemälde angesehen. Aber mit dem Wissen, dass es für Anne unendlich langweilig sein würde, verwarf ich den Gedanken.
Dann  fuhren wir  wieder Richtung Heimat.
Meine Schwester war richtig froh, diese Fahrt mit uns unternommen zu haben. Es hatte ihr Spaß gemacht, mit mir und den Kindern rumzuziehen. Auch das Schlafen im Bus war gar kein Problem, wir hatten genügend Platz und kamen uns vor wie Zigeuner, Zeitvergessen und ohne Sorgen.
Die Schuleinführung war einfach herrlich. Ich war so stolz auf meine kleine Tochter, die so groß geworden war. Wo waren die Jahre hin? Ganz selbstverständlich stellte sie sich vor die ganze eingeladene Besucherscharr, hielt eine kleine Rede und bedankte sich. Ja, ich hatte wirklich allen Grund, stolz auf sie zu sein.

13.

Der Herbst war angebrochen, die Kinder gingen in die Schule und unser Leben drohte fast „normal“ zu sein, als ich mich eines Tages in einem Alptraum wieder zu finden schien. Ich war ziemlich zeitig unterwegs, um den Geschäften meine Version des Herbstes zu verpassen. Da rief Bianca an. Sie war Buchhalterin in Toms Geschäft.
Ich mochte sie, ohne dass man behaupten konnte, wir wären so was wie Freunde. Sie war Buchhalterin mit Leib und Seele, und von gnadenloser Ehrlichkeit, dass sie sich regelmässig  mit Ihrem Chef anlegte, was sie aber nicht zu stören schien. Anstatt eine Bemerkung runterzuschlucken, wie es sicherlich dem Chef gegenüber klüger wäre, sprach sie aus, was sei dachte.
Und auch wenn ich manchmal nicht fassen konnte, wie man so undiplomatisch sein konnte, bewunderte ich sie auch teilweise dafür.
Sie redete zwar nicht viel, aber wenn wir ins erzählen kamen, konnte sie urkomisch sein.
Ich weiß auch nicht, warum sie mich an diesem Morgen anrief. Vielleicht hatte sie, auch wenn sie nicht davon sprach einen Draht zu mir, den ich bis dahin nie gesehen hatte.
Sie heulte und konnte keinen zusammenhängenden Satz sprechen. „Ich komm nicht.“, brachte sie hervor.
„Was ist denn los?“, wollte ich wissen. Das etwas unglaubliches passiert sein mußte, war aus ihrem unzusammenhängenden Gerede rauszuhören
Sie schluchzte. „Hast du’s noch nicht im Radio gehört?“ Ein Schauer überlief mich und ich hatte ein schreckliches Vorahnung. „Er… er hat sie erschlagen, überall ist Blut, er ist weg… das Schwein…“ Sie schluchzte wieder und ihre Stimme drohte sich zu überschlagen. „Sag nichts zu den anderen… sie ist im Krankenhaus. ich weiß nicht, ob sie überlebt…“
Plötzlich schien ich gefangen in den wirren Verwicklungen von Romanen, die ich nicht lese, weil ich mich fürchte, oder Filmen, die ich ganz schnell wegschalte, weil sie einfach schrecklich sind.
Warum sie an diesem Morgen bei ihrer Mutter vorbeischauen wollte, hätte sie gar nicht beantworten können. Es war so ein Impuls, ein Gefühl, das man manchmal verspürt und nicht beschreiben kann.
Und schon als sie die Treppe hinauflief, vorbei an der Wohnung ihrer Großmutter, war da so ein  Ziehen in der Magengegend und sie meinte, zu sich selbst, dass sie vielleicht doch hätte frühstücken sollen. Aber vielleicht könnte sie das ja gleich mit ihrer Mutter tun.
Hoffentlich war sie da. Bianca hatte den Schuppen offen stehen sehen und das war eigentlich immer ein Zeichen dafür, daß jemand mit dem Auto weggefahren war.  Aber vielleicht war ihr Stiefvater ja nicht da und sie konnte es sich mit ihrer Mutter gemütlich machen. Sie mochte ihn nicht. Und sie wußte warum: Er war einfach nicht gut zu ihrer Mutter.
Doch warum war es überall so still? Und die Tür – nur angelehnt?
Sie sah die Blutspritzer auf dem Boden der Küche und rief nach ihrer Mutter. Wo hatte die denn nur wieder den Verbandskasten? Sicher suchte sie ihn überall. War sie vielleicht unten im Schuppen gewesen und Bianca hatte sie gar nicht bemerkt? Rufend lief sie durch die Wohnung. Im Wohnzimmer war noch mehr Blut.
Und da begriff sie ihr Gefühl vom Morgen, traute sich kaum zu atmen und ein fürchterliche Ahnung stieg in ihr hoch. Hier hatte sich niemand in den Finger geschnitten. Eine Gänsehaut überzog ihren Körper bis hoch ins  Gesicht und ihre sonst schon immer blasse Gesichtsfarbe nahm graue Töne an.
Hatte ihre Mutter nicht immer Angst gehabt vor ihrem Mann? War sie nicht erst letzte Woche bei ihr gewesen, um sich  Bianca anzuvertrauen, sich Trost und Hoffnung zu holen?
Leise – auf Zehenspitzen – schlich sie weiter in Richtung Schlafzimmer.   
Stöhnend und Röchelnd fand sie ihre Mutter in ihrem eigenen Blut liegend.
Wegen einer Nichtigkeit, hatte ihr Mann so lange mit einer Axt auf sie eingeschlagen, bis sie mit gebrochenem Schädel liegengeblieben war.
Bevor sie all die Telefonate führte, die sie nun führen mußte, hatte sie sich zu ihr runter gebeugt, sie gestreichelt und immer wieder „Mama“ geflüstert. Und es schien, als ob sie sie gehört hätte.
Ich konnte nichts sagen. Was sollte man auch dazu sagen.
Ich fühlte, was sie gefühlt hatte, spürte die Angst und die Einsamkeit, als sich der Hubschrauber mit ihrer Mutter entfernte, spürte den Hass, als die Polizei Spuren sicherte und immer wieder fragen stellte.
Aber ich konnte sie nicht trösten. Ich wußte einfach nicht, was ich sagen sollte und wie ich es sagen sollte.
Wie sollte man da Trost spenden? Wie sollte man das verstehen? Ich fand keine Worte. Aber vielleicht war ihr das Trost genug – mein Unverständnis. „Bianca, soll ich kommen? Brauchst du mich?“ Auch wenn wir nie so enge Freunde waren, dass ich so was hätte anbieten können, aber es war mein erster spontaner Gedanke.
Sie tat mir unendlich leid.
Mehrmals an diesem Tag rief sie mich noch an. Sie hatten ihn gefunden. Er hatte sein Auto vor die Schmalspurbahn im Nachbarort gefahren und sich selbst gerichtet.
Bei dem Gedanken, wie viele Menschen er damit noch in Gefahr gebracht hatte, wurde mir ganz schlecht.
Noch schlechter wurde mir allerdings, als mir klar wurde, dass ich nicht in einem Film war, dass ich nicht mit der Heldin eines Romans telefonierte, sondern dass das tatsächlich passierte. Dass so etwas Menschen traf, die doch einfach nur lebten, die frühs aufstanden, zur Arbeit gingen und sich abends wieder hinlegten.
Es konnte jeden treffen. Das Schicksal suchte sich einfach seine Opfer
Ich spürte die alten Ängste in mir aufsteigen und alle Kurerfolge waren hin.  
Ängstlich verkroch ich mich in mir selber. Ich sprach zwar mit Tom darüber, aber die Angst, die in mir erwacht war, Angst vor unbekannten Bedrohungen, konnte er mir nicht nehmen.
Ich entwickelte ganz neue Ticks: Wenn ich abends oder frühs allein in den Geschäften war, und mich die Dunkelheit zu verschlucken drohte, ging ich erst in alle Räume, um zu sehen, ob da niemand war.
Ich brauchte lange, um damit fertig zu werden, Vertrauen in meine gewohnte Umgebung zu setzen, mich an das zu erinnern, was ich doch in der Kur gelernt hatte: Ich kann meinem Schicksal nur bedingt entgehen und Angst wird es mir nicht leichter machen, mein Leben zu leben.
Biancas Mutter starb nach wenigen Tagen im Krankenhaus. Es war schwer zu sagen:„das ist besser so.“ Aber die Verletzungen waren einfach so schwer, dass die Ärzte wussten, dass sie nie wieder so sein würde, wie Bianca sie kannte.
Mich übermannte immer wieder der Schmerz, es traf mich ganz überraschend wie ein Blitz, wenn ich sie in ihren schwarzen Sachen sah. Sie sprach nie viel, manchmal, weinte sie und wir redeten, aber das war ehr weniger.
Aber wir telefonierten.
Abends, wenn auch sie die Stille aufzufressen drohte, rief sie mich an. Wir tranken und redeten, lachten und trauerten. Ich hatte ihr immer wieder geraten, zu einem Psychoanalytiker zu gehen. Ich hatte ja gemerkt, wie mir das geholfen hatte, aber sie lehnte das schlicht ab. Ich wusste, dass ich ihr nicht helfen konnte, aber ich wusste auch, dass ich nie ein Gespräch, das sie wollte abgewürgt hätte und dass ich ihr immer das Gefühl geben wollte, da zu sein, wenn sie brauchen würde. Für mich war nie jemand da und ich wusste, dass mich das verändert hatte, offener machte für Probleme anderer. 

14.

Toms monatliche Untersuchungen ergaben, dass der Kalzium und Phosphatwert permanent zu hoch war. Trotz Ernährungsumstellungen bekamen wir das einfach nicht in den Griff. Tom hatte andauernde Knochenschmerzen. Auch wenn die Ärzte mal wieder wussten, was er hatte, sagten sie nichts, sondern überschütteten ihn mit neuen Untersuchungen. Sie äußerten keine Vermutungen. Es wurde eine Computer- und Kernspintomographie durchgeführt. Immer öfter war die Rede von einem Parathormon. Welche medizinischen Kenntnisse musste ich mir eigentlich noch aneignen, um all die Dinge zu verstehen, die geschahen? Und ich wollte sie doch unbedingt verstehen!
Die Untersuchungsergebnisse gingen wieder zur Nephrologin und dem Transplantationsteam. Sie stellte die Diagnose, sie traf die Entscheidungen.
Die Diagnose: Nebenschilddrüsenüberfunktion. Ich hatte keine Ahnung, was das wieder war, oder woher das gekommen war.  Was hatte er denn noch alles für Organe in sich, die von der Erkrankung betroffen werden können?
Sie überwies uns in eine andere Klinik, in der es eine Kapazität auf diesem Gebiet gab. Dass wir um diese Klinik zu erreichen 2,5 Stunden fuhren, interessierte sie dabei nicht. Am Anfang war ich echt erbost. Ich empfand es als Zumutung so weit fahren zu müssen. Gab es denn keinen Arzt in unserer Nähe, der schon mal was von Nebenschieldrüsen gehört hatte. Gedanklich unterstellte ich sogar, dass das „Vetternwirtschaft“ sei.
Im nach hinein war ich dankbar und entschuldigte mich  - wiederrum rein gedanklich.
Wir bekamen einen Sprechstundentermin und fanden einen jungen, äußerst sympathischen Arzt vor. Er untersuchte Tom und kam zu der eindeutigen Diagnose, dass die Nebenschilddrüsen entfernt werden müssen.
Die Nebenschilddrüsen sind winzig kleine Organe, die etwa 5 mm groß sind. Man hat 4 Stück davon, die normalerweise hinter der Schilddrüse sitzen. Bei Tom waren sie erkrankt und vergrößert. Die Ursachen für die Erkrankung lag vermutlich in seiner Niereninsuffizens. Es war eine häufige eintretende Nebenerscheinung. Im Grunde ist das ganze ein gutartiger Tumor.
Er würde Tom 3 der vier Organe entnehmen. Das kranke Gewebe der vierten entfernen und die verkleinerte wieder einsetzen.
„Und was passiert, wenn das zurückgelassene Organ nicht mehr arbeitet? Irgendeine Funktion wird es doch haben, die dann meinem Körper fehlt?“
„Die Nebenschilddrüsen regulieren ihren Kalzium und Phosphathaushalt. Da ihre einfach zuviel arbeiten, müssen sie entfernt werden. Sie entziehen ihren Knochen Kalzium, was verheerende Wirkungen haben kann. Ihr Knochengewebe ist geschwächt und die Knochen könnten einfach brechen. Das Gewebe der entnommen Drüsen wird  eingefroren und falls die vierte nicht mehr arbeitet, wird es ihnen in die Muskulatur des Unterarmes eingesetzt. Sie nimmt dann ganz normal ihre Arbeit auf.“ Ich konnte das nicht fassen. Ich kam mir vor wie in einem Roman von Robert Merle. So einfach ging das?
Er würde Toms Hals aufschneiden, am unteren Halsrand, so dass man die Narbe möglichst später nicht mehr sah und er versicherte uns, dass man sie nicht mehr sehen würde. 
Dann erfolgten die Aufklärungen über möglichen eintretenden die Risiken.
Falls er nämlich die Nebenschilddrüsen dort nicht vorfinden würde, würde er das Brustbein spalten und den Brustkorb öffnen. Der Eingriff könnte eine Schieldrüsenunterfunktion hervorrufen - aber die Wahrscheinlichkeit betrage nur 2%. Und mit Stimmbandverletzungen musste ein Prozent der operierten rechnen.
Irgendwie schockierte mich das schon, aber der Arzt rasselte das so runter, dass ich mir sicher war, dass unter seiner Hand so was noch nicht passiert war.
„Der Wert des Parathormons muss nach der Operation auf 50% des Ausgangswertes zurückgehen. Wir werden das noch unter der Narkose messen können und je nach dem entscheiden, ob wir mehr Gewebe entfernen müssen. Machen sie sich keine Sorgen. Wir haben diese Operation schon sehr oft durchgeführt. Und auch wenn es Risiken gibt, sie sind sehr unwahrscheinlich.“
Nach diesem Gespräch war mir klar, warum man uns hierher geschickt hatte. Klar, die Operation konnte jeder Chirurg durchführen. Doch nur Kliniken und Ärzte, die darauf spezialisiert waren, waren in der Lage, diese Messungen durchzuführen. In anderen Kliniken hätte er möglicherweise mehrfach operiert werden müssen.
Tom zog also wieder mal in ein Krankenhaus ein, wieder ein anderes.
In den letzten 3 Jahren hatten wir so viele Krankenhäuser gesehen, Sprechstunden besucht, dass ich über die Möglichkeit nachdachte, eventuell einen Krankenhausführer zu schreiben. Ich stellte mir das recht interessant vor. Und so was gab es bestimmt noch nicht. Tom bog sich vor Lachen. Ich habe keine Ahnung, ob das Galgenhumor war, oder ob er die Idee wirklich lustig fand. Als ich ihn alleine zurückließ, meinte er scherzend, er werde sich schon mal Notizen über die Schwestern und das Essen machen.
Über die Frage der Unterbringung konnte er sich eigentlich nie beschweren, er bekam auf Grund seiner Maschine und Utensilien immer ein Einzelzimmer.
Auch wenn der Arzt souverän auf mich gewirkt hatte, machte ich mir Sorgen. Wenn  Tom nun zu den 1% gehörte und seine Stimmbänder verletzt wurden? Wenn der Tumor doch bösartig war?
Ich hasste es inzwischen, mir Sorgen zu machen. Es zog mich so zu Boden und ich fühlte mich ohnmächtig und klein. Und trotzdem machte ich mir Gedanken, dachte an nichts anderes.
Sprechen konnte er nach dem Eingriff nicht, das übernahm die Schwester. Hatten sie doch die Stimmbänder verletzt? Aber sie beruhigte mich. Es war alles gut verlaufen. Die Werte hätten sich normalisiert, man beobachte das jetzt. Morgen könnte Tom auch wieder sprechen.
Ende des Gespräches.
Ich hatte mich daran gewöhnt allein zu sein, die Probleme der Kinder allein zu lösen.
Am Wochenende fuhren wir hin. Wir fuhren schon früh los, weil wir den Tag auch nutzen wollten, wir hatten schließlich 2 ½ Stunden zu fahren. Wir verbrachten den Tag in einem Wildgehege, das direkt neben der Klinik war. So versuchte ich, den Kindern den Tag nicht allzu langweilig werden zu lassen. Ich konnte mich gut erinnern, wie schlimm ich als Kind immer Besuche im Krankenhaus gefunden hatte. Ich lachte, machte Späße, tobte mit ihnen rum, war liebevoll zu Tom und war gar nicht ich. Ich versteckte mich hinter mir. Für mich war schließlich später noch Zeit. Und meine wahren Gefühle hatte ich inzwischen gut verstecken gelernt. Hätte ich ihn etwa mit meinen Ängsten, meiner Müdigkeit und meiner eigenen Hoffnungslosigkeit belasten sollen? Ich empfand das als unfair. Ich wollte ihm nicht das Gefühl geben, dass ich mit der Situation nicht klar kam. Im Grunde kam ich ja klar. Ich war nur so allein!
Tom musste noch 2 Wochen dort bleiben. Man wollte die Werte prüfen, wollte sicher gehen, dass die Operation gelungen war und der Parathormonwert nicht wieder anstieg. Also fuhr ich noch zweimal hin.
Der Wert hatte sich wieder normalisiert und blieb auch in einem normalen Bereich. Der Arzt war wirklich die lange Anfahrt wert gewesen.

15.

Toms Haut war wirklich schlimm. Man hatte bei dem Termin in der Hautklinik ja nichts machen können. Die Erkrankung war da und würde nicht geheilt werden können. Aber es musste unbedingt eine Linderung geschaffen werden. Ich weiß nicht, wieviel Schafanzüge ich inzwischen weggeschmissen hatte, weil er sie nachts beim Kratzen zerrissen hatte und sie einfach nicht wieder zu reparieren waren. Selbst meiner Schwiegermutter, der ich inzwischen diese Stopfarbeit aufgebürdet hatte, gab auf. Lieber kauften wir beide neue. Ich weiß auch nicht mehr, wieviel Nächte ich ihn gestreichelt und gekratzt habe, um ihm einigermaßen Linderung zu verschaffen. Dieses Geräusch war für mich inzwischen zum Grauen geworden. Vielleicht weil mein Unterbewusstsein mit dem Kratzen Schlafentzug verband.
Und ich konnte mich nie wieder davon befreien, wenn ich höre, wie sich jemand kratzt, werde ich fast verrückt und  muss  mir wirklich innerlich gut zureden, um nicht in einem hysterischen Anfall zu enden 
Aber es ging ja weniger um mich. Für Tom sollte eine Erleichterung geschaffen werden.
Seine Mutter ging mit ihm zu einem Heilpraktiker, die anderen Ärzte hatten offensichtlich versagt. Durch eine Bekannte war sie auf ihn gestoßen. Ich weiß genau, mit mir wäre er da nie hingegangen. Also war ich ganz froh, dass seine Mutter ihn dorthin schleppte. Der untersuchte und stellte eine haarsträubende Diagnose, die mit der Meinung der Hautärzte nichts gemein hatte. Aber letztlich war es egal, er riet zu  einen Saft, der täglich frisch zubereitet werden sollte: Rote Beete, Sellerie, Apfel. Und wenn der wirklich half, dann war die Diagnose doch erstmal egal. Toms Mutter presste jeden Tag den frischen Saft. Sie wollte das gerne tun. Und ich hatte keine Kraft mehr, mich gegen irgendwas aufzulehnen. Wenn sie das wollte, bitte. Ich würde keine Hilfe mehr ablehnen. Tom war es egal, ob ich das machte oder nicht. Dann hatte ich doch wohl auch das Recht, dass es mir egal war. Mir fiel wieder die Psychologin in der Kur ein: „Lehnen sie angebotene Hilfe nicht ab. Sie können nicht alles alleine schaffen!“ Daran hielt ich mich. Und obwohl sie das Gemüse wochenlang kaufte und presste – geholfen hat es nicht. Leider.
Die Flecken waren nun auch an seinem Kopf aufgetreten, hinter den Ohren und an und in der Nase. Dagegen musste unbedingt was unternommen werden. Er fuhr in eine HNO Praxis. Dort verfügte man sogar über die Möglichkeit, kleine Operationen selber durchzuführen.
Man brauchte nicht lange um festzustellen, dass es zu extremen Verwachsungen und Vernarbungen gekommen war, die unbedingt entfernt werden mussten. Stellenweise bekam er durch das eine Nasenloch schon keine Luft mehr. Die Vernarbungen waren durch das Kratzen aber so extrem, dass es ein echtes Problem war, die wuchernde Haut wegzuschneiden. Tom, der nur einen Lokalanästhesie bekommen hatte, spürte jeden Schnitt, die Tränen liefen ihm übers Gesicht, aber die Ärzte konnte das nicht wirklich erweichen. Völlig fertig lag er in einem der Aufwachräume, als ich ihn abholte. Die Nase war zwar wieder symmetrisch zurechtgeschnitten, aber die Schmerzen müssen unbeschreiblich gewesen sein.
Bei der nächsten Vorstellung in der Dialysepraxis verschrieb man nach Konsultation mit den HNO Ärzten und der Transplantationsklinik ein Immunsupressiva, dass Cortison enthielt.
Zum einen wollte man seine Körperreaktion auf diese Mittel  testen, zum anderen wollte man durch dieses spezielle Medikament den Juckreiz wenigstens zum Teil unterdrücken und die extremen Hautwucherungen unter Kontrolle bringen. Das dieses Mittel Kortison enthielt, erfuhren wir erst später. Tom hatte sich abgewöhnt, die Packungsbeilagen zu lesen. Anfangs hatte er das noch getan, aber je mehr man las, desto kranker fühlte man sich.
Als wir mitbekamen, dass es Kortison enthielt, las ich erstmal nach, was das eigentlich ist. Ich hatte soviel negatives über Kortison gehört, dass ich es eben wissen wollte. Für mein eigenes Ekzem verwendete ich auch stellenweise Kortisonhaltige Salben, die mir allerdings sehr gut halfen. Aber jetzt wollte ich es doch genauer wissen.  Und ich fand da einiges:
‚Kortison ist eigentlich kein Medikament. Es ist ein körpereigenes Hormon, das in der Nebennierenrinde gebildet wird.
Das Nebennierenrindenhormon erfüllt im menschlichen Körper wichtige, teilweise lebenswichtige Aufgaben. Es wird vermehrt bei Stress ausgeschüttet und hilft auch mit Krankheiten wie Entzündungen besser fertig zu werden. Gleichzeitig reguliert es Stoffwechselvorgänge und hemmt Allergien.
Kortison sollte also zur Linderung und Heilung eingesetzt werden. Andererseits sind bei diesem künstlich nachgekautem Hormon auch viele Nebenwirklungen bekannt.’
Mit einer Steigerung des Appetits und Einlagerung von Wasser im Gewebe hatten wir keine Probleme. Aber bald nach der Einnahme kam es zu Störungen  des Zuckerstoffwechsels, Tom erkrankte an Diabetes. Am Anfang wollte und konnte ich es gar nicht glauben. Doch die Werte deuteten immer mehr darauf hin. Als er dann mit den Teststreifen nach Hause kam, sah ich es selber. Ich beschäftigte mich mit dem „Zuckerbesteck“, dem Zuckertester und dem Reco-Pen, der Spritze für Zuckerkranke.
Ich las und las und wurde einfach nicht schlau aus dieser Anleitung. Auch die Einstellung blieb mir ein völliges Rätsel. Man musste die Dosierung auf einer Skala einstellen und dann einfach mittels eines Knopfes in die Haut jagen. Der Einstich war so minimal, dass Tom wirklich nichts davon merkte. Ob ich ihm dabei allerdings auch Insulin zuführte, das war mir nicht wirklich klar. Man konnte das auch nicht wirklich irgendwo sehen, da die Menge so gering war und die Ampullen nicht nach jedem Einstich gewechselt werden mussten. Krampfhaft versuchte ich mich zu erinnern, wie das Ding bei meiner Freundin funktionierte. Sie war vor einigen Monaten auch daran erkrankt und hatte es mir genau erklärt und vorgeführt. Aber ich erinnerte mich einfach nicht. Bei ihr sah das alles so einfach aus. Warum stellte mich das vor solche Probleme?
Aber eigentlich waren wir nur noch verzweifelt. Die Haut wurde nicht besser, der Blutdruck spielte verrückt, er hatte Zucker… Ich glaube, da würde jeder verzweifeln.
Nach Absprache mit der Dialysepraxis und dem Transplantationsteam wurde das Medikament abgesetzt und mit dem Absetzen änderte sich sogleich vieles. Der Blutdruck wurde wieder normal, der Insolinwert auch. Von einer dauerhaften Schädigung konnte man nicht ausgehen und doch hatte ich immer wieder Angst, dass es wieder beginnen könnte. Klar, man kann auch mit Zucker leben, lange leben. Aber muss Tom wirklich alles kriegen, was es gibt?

16.


Wieder ein Termin in der Transplantationsklinik. Ich war so mürbe, ich wollte keinen mehr sehen, wenn nicht endlich ein Termin zustande kam. Tom war vor 4 Jahren erkrankt. Vier Jahre, in denen wir einen Alptraum nach dem anderen erlebten.
Ich sagte meinen Schwiegereltern, sie sollen zu Hause bleiben, ich würde mitfahren. „Ich habe die Nase voll. Ich denke, es ist an der Zeit, dass ich mal richtig auf den Tisch haue. Das geht doch so nicht weiter! Tom wird immer kränker und keiner macht was. Warum fangen die nicht endlich an? Diesmal bekomme ich meine Antwort.“
Ich dachte an meine Telefonate mit Gabi. Auch sie konnte nicht verstehen, warum nicht transplantiert wurde. Und sie war Ärztin. Es konnte also nicht nur an mir, meiner Ungeduld  und meinem medizinischen Unverstand liegen.
Sie hatte mir auch geraten, doch mal nachzufragen, wenn ich es nicht verstand. „Das kann doch keiner falsch verstehen.“, hatte sie gesagt. „Du willst doch auch nur, dass es Tom besser geht. Und warten bringt doch wirklich nichts. Sie hatten wirklich viel Zeit, ihn auf die Transplantation vorzubereiten. Wenn es ernsthafte Bedenken gibt, dann solltet ihr wissen welche, um sie aus dem Weg zu räumen. Aber idealere Vorraussetzungen als bei euch gibt es doch wirklich nicht: ihr bringt die Niere auch noch mit! Anders wäre es, wenn ihr auf ein Transplantat warten müsstet. Und auch dann, wenn es da wäre, müsste auch sofort transplantiert werden und man kann nicht darauf warten, dass es sein Gesundheitszustand zulässt. Also – frag endlich!“
Das hatte mir Mut gemacht.
Die gesamte Fahrt dachte ich darüber nach, was ich sagen wollte. Ich wusste, dass Tom das nicht wollte, aber meine Geduld, meine Kraft war am Ende. Ich konnte nicht mehr. Und ich würde mir jetzt Luft machen.
Es war wie immer, man ließ uns warten. Wie immer.  Die anderen Ärzte steckten bedächtig die Köpfe zusammen, wie immer, die Oberärztin sagte nichts, was uns weitergebracht hätte – auch wie immer. 
Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen. „Ich habe da mal eine Frage.“, begann ich. Die Ärztin schaute über ihren Brillenrand zu mir und musterte mich. Sie hatte mich sicher noch nie wahrgenommen. War ich doch die Frau, die ihrem Mann keine Niere spenden wollte. „Können sie mir, oder uns erklären, worauf wir eigentlich warten? Womit haben sie ein Problem?“ „Das erkläre ich jedes Mal.“, fuhr sie mich von oben herunter an „Solange nicht alle Risiken ausgeschlossen sind, transplantieren wir nicht. Wir können es uns nicht leisten, durch irgendwelche Unachtsamkeiten oder Ungeduld, die gesunde  Niere ihres Schwiegervaters zu verlieren. Wir haben nur eine Chance.“ Herausfordernd sah sie mich an.
Nein, damit gab ich mich nicht zufrieden. „Alle Risiken ausschließen? Wie soll denn das bitte gehen? Wenn sie alle Risiken ausschließen wollen, bräuchten sie nicht mehr zu transplantieren. Dann wäre er nämlich gesund. Was muss denn noch alles kommen, damit sie endlich anfangen? Wir haben doch inzwischen wirklich alles durchgemacht was geht, von den unzähligen Bauchfell Entzündungen, Wasserüberschuss im Körper, Nebenschieldrüsenoperation, Kathedereinsetzen, Hauterkrankungen, Diabetes – und da zähl ich nur die großen Dinge auf. Ich rede nicht von den kleinen Problemen, die Nacht für Nacht, Tag für Tag unser Leben ganz bizarr bereichern.  Was noch? Was müssen wir noch erleben, bis sie endlich transplantieren? Sein Zustand wird doch nicht besser, bloß weil sie länger warten. Ich verstehe nicht, was sie hier tun.“
Inzwischen hatten alle aufgehört, geschäftig in ihre Papiere zu sehen, oder zu schreiben. Sie sahen mich an, sahen die Tränen in meinen Augen, die Verzweiflung.
Ja, ich war am Ende meiner Kraft. Aber ich hatte gelernt, nicht mehr zu schlucken, sondern endlich mal was zu tun.
Voller Erwartung sahen alle zur Chefärztin, was sie erwidern würde.
„Frau Schneider, wir wollen doch transplantieren. Verstehen sie uns da nicht falsch, aber wir befürchten, dass wir einen Fehler machen, wenn wir es wagen und  ihr Mann nicht völlig gesund ist.“
„Er wird nicht völlig gesund, nie wieder. Das wissen sie doch genau. Und ich kann eben nicht verstehen, warum sie es immer wieder verschieben. Sie müssten doch besser wissen als ich, dass es nicht mehr besser wird, dass jeden Tag neue Erkrankungen hinzukommen können.“
Sie holte tief Luft, stand auf und nahm Tom mit ins Nebenzimmer. Völlig irritiert sah ich mich um. Was sollte das denn?
Die anderen im Raum standen auf. Mit der Ärztin war auch die Spannung aus dem Raum verschwunden. Ganz offensichtlich war sie nicht nur auf dem Papier die Chefärztin. Was sie sagte schien Gesetz zu sein.
Die junge Assistenzärztin lächelte mich an. Hatte ich es richtig gemacht? Als Tom mit der Nephrologin wieder den Raum betrat, war fast so was wie ein Lächeln auf ihrem Gesicht.
„Wir transplantieren.“
„Frau Schmidt,  rufen sie bitte in der Hautklinik in der Erfurter Straße an, wir schicken ihn sofort hin, die sollen einen stationären Termin machen, damit sich die Wunden schließen, wir können nicht bei offenen Wunden transplantieren. Die Gefahr einer Infektion wäre viel zu hoch. Wir schließen uns mit der Abteilung kurz und sobald der Abschluss der Behandlung in Sicht ist, werden wir einen Termin festsetzten. Alles Gute, auf Wiedersehen.“
Damit war sie aus dem Raum verschwunden. Die anderen schauten sich genauso entsetzt an, wie ich Tom ansah. Was war das denn nun? Aber keiner hatte Zeit, was zu sagen, sie stürzten alle hinter ihr her.
Wir fuhren zur Hautklinik. Wiedermal. Es dauerte auch nicht lange, bis wir uns auf einen Termin einigen konnten. Am liebsten hätte ich Tom gleich dagelassen, aber einige Sachen wollte er ja doch verständlicherweise erst noch klären.
Toms Mutter war begeistert von dem Auftritt, den ich hingelegt hatte und davon, dass jetzt endlich was in gang zu kommen schien. Auch sie war müde, konnte die endlosen Untersuchungen und Erkrankungen ihres Sohnes nicht mehr ertragen. „Wir hätten dich da viel öfter mit hinnehmen müssen.“, war ihr abschließender Kommentar.
Es war März, als ich ihn in die Klinik brachte.
Es war ein altes Gebäude, in dem die Renovierungs-  und Umbauarbeiten als nur mäßig gelungen eingeschätzt werden mussten. Aber das neue Klinikgebäude war schon im Bau. Ein gemeinsames Bad für alle Patienten schien mir in einer Klinik mit diesem Profil völlig indiskutabel. Aber es war nun mal so und Tom musste sich mit den Gegebenheiten abfinden. Er bekam auf Grund seiner Dialyse wieder ein Einzelzimmer und war darüber auch richtig froh. Und trotzdem vermittelte das  Haus ein unglaubliches Gefühl - mit seinen alten Gängen und dem Hörsaal, hatte man das Gefühl, dass hier gelernt und geforscht wurde, dass Medizin gelebt wurde und man glaubte, Hypokrates schleiche selber durch die Gänge und  versuche die Ärzte und die, die es mal werden wollten zur Vorsicht und Sorgsamkeit gegenüber ihren Patienten  zu mahnen.
Tom erzählte oft, dass Studenten kamen und sich seine Wunden ansehen sollten, um eine Diagnose zu stellen. Keiner kam auf die Spur, die Ursache und die einzige Heilung. Obwohl alle wussten, dass er Diealysepflichtig war, sah keiner, dass seine einzige Heilungschance eine Transplantation war. In einer derartigen Form, so intensiv war die Krankheit so selten, dass Tom gefragt wurde, ob man das Erscheinungsbild für ein medizinisches Fachbuch fotografieren dürfte. Halb scherzend erzählte er davon, dass er nun seine „Modell –Karriere“ starten würde.
Wir fuhren jedes Wochenende zu ihm. Bei einer Anfahrtszeit von 1,5 Stunden wäre es nicht möglich gewesen, das öfter zu tun. Irgendwie erholte Tom sich auch von seinem Berufsstress, der auf Grund seiner Krankheit viel zu hoch war, er war zwar genauso ernst und nachdenklich wie immer, aber er fühlte sich rein körperlich viel besser. Wir verbrachten die Nachmittage in den Einkaufszentrum und Eiscafes der Stadt. Er durfte sich frei bewegen und so waren wir wenigstens nicht die ganze Zeit in seinem Zimmer. Wir verbrachten auch dort Zeit, die Kinder konnten fernsehen und ich legte mich zu Tom auf Bett.
Man behandelte ihn neben verschiedenen Medikamenten hauptsächlich mit Bestrahlungen. Er bekam auch ein neues  Immunsupressiva, um den Körper an das Medikament zu gewöhnen. Nach den ersten Versuchen mit solchen Mitteln war mir nicht wohl bei dem Gedanken. Trotzdem war mir klar, dass man ein  Präparat finden musste, dass er vertrug. Nach der Transplantation musste er es ja ein Leben lang nehmen, um die Abstoßung des fremden Organs zu unterdrücken. Wer weiß, was sich mit diesem Mittel für neue Nebenwirkungen einstellten. Aber sie blieben aus. Man hatte also das richtige gefunden.
Auch auf die Bestrahlungen reagierte sein Körper sehr positiv. Der Juckreiz blieb, aber die Wunden schlossen sich nach und nach. Sechs Wochen lang bekam er täglich UV Strahlen, zum Schluss bis zu einer Stunde am Stück.
Als er aus der Klinik entlassen wurde, sah er aus, als käme er von einem Urlaub aus der Karibik, so braun war er geworden. Wieder ein Termin in der Transplantationsklinik.
Diesmal fuhr ich nicht mit. Ich hatte ja meinen Standpunkt klar gemacht, außerdem ging es weniger um mich, als um Tom und seinen Vater. Die Ärzte waren zufrieden mit dem Ergebnis, dass in der Hautklinik erzielt worden war.
Hoffentlich wartete man jetzt nicht zu lange, damit Tom die Wunden nicht wieder aufkratzte.
Der Termin wurde für August festgesetzt – erst drei Monate später! Warum fing man nicht gleich an? Aber man wollte seine Reaktionen auf das Immunsupressiva  auswerten können. Man wollte absolut sicher sein, dass alles funktionierte, jedes kalkulierbare Risiko sollte ausgeschlossen werden. Ich wusste, dass ich ungeduldig war, dass ich Entscheidungen und Taten wollte, aber ich war eben am Ende. Ich wollte wieder schlafen können – ohne Angst.
Der Sommer kam und wir hatten keinen Urlaub geplant. Wir hatten einfach Angst, mit Tom könnte noch was passieren, wenn er aus seinem normalen Trott gerissen würde.
Doch nachdem ich eine halbe Woche zu Hause war, fiel mir die Decke auf den Kopf. Ich musste weg!
Kopflos fuhr ich ins Reisebüro, zu der Freundin meiner Schwester und erklärte ihr meine Lage. Sie verstand mich. Komisch, Fremde verstanden immer besser, als Freunde. Ich buchte eine Woche Türkei mit den Kindern. Mir war egal wohin, es sollte preiswert sein und in der Sonne. Alles andere war egal.
Ich weiß nicht mehr, wie viele nicht verstanden, dass ich alleine fuhr. Aber inzwischen war ich so gleichgültig gegenüber der Meinung anderer eingestellt, dass es mir nichts mehr ausmachte. Sollte sie doch reden, ich wusste, dass ich es mir und den Kindern schuldig war. 2 Tage später fuhren wir. Da wir so kurzfristig gebucht hatten, flogen wir ab Köln und landeten in Erfurt. Mir war es völlig egal, dann fuhren wir eben durch die Nacht mit dem Zug. Nele hatte richtig Angst vorm Fliegen. Sie war ja auch seit 10 Jahren nicht mehr geflogen und Anne noch nie. Es ging in all den Jahren ja nicht mit Tom. Und die beiden waren total begeistert – sie fanden es toll. Allein das Strahlen in den Augen meiner Kinder war es wert, dass ich die Strapazen der letzten Nacht auf mich genommen hatte. Ich hatte kein Auge zugemacht, während wir durch die Nacht gefahren waren, aus Angst, wir könnten den Umsteigebahnhof verpassen, oder den Kindern könnte was passieren. Völlig übermüdet  kamen wir an. Schwitzend und sicher nicht mehr gut riechend brachte uns der Hotelpage in unser Zimmer, der trug sogar unsere Koffer! Es war ein Traum, von der ersten Minute an. Als Anne das Zimmer betrat, schrie sie gleich „Wir haben die Königssuite!“, dabei war es nur ein einfaches Zimmer, aber sie war überwältigt und Nele und ich auch.
Wir verbrachten eine herrlich erholsame Woche, wir taten einfach nichts, wir lagen am Pool, spielten oder waren stundenlang im Wasser. Auch Neles Wunsch nach einem Einkaufbummel kamen wir nach. Und nicht mal der war stressig. Wenn einer eine Idee hatte, machten wir es, wenn die anderen auch dazu Lust hatten, oder wir ließen es, wenn auch nur einer dagegen war.
Ich genoss es wieder, mich verwöhnen zu lassen, nicht kochen zu brauchen, nicht waschen zu müssen und schlafen zu können und den ganzen Tag nur für die Kinder da zu sein, die dafür unendlich dankbar waren.
Als wir nach Hause flogen, waren wir alle drei richtig traurig.
Meine Eltern holten uns vom Flughafen ab – Tom hatte keine Zeit. Er war an der Arbeit. Eigentlich fand ich das total traurig, aber es berührte mein Herz nicht mehr. War er verärgert, dass ich mir diese eine Woche gegönnt hatte? Oder waren wir ihm einfach egal? Ich nahm die Tatsache einfach so hin und freute mich, in die Arme meiner Eltern fliegen zu können.
Die Tage bis  zur Transplantation zogen sich hin. Tom erledigte alle wichtigen Sachen an der Arbeit, wirkte immer hochkonzentriert, während ich gar nicht richtig bei mir war. Eine Woche vor dem festgesetzten Termin mussten die Zwei noch mal vor eine Ethik Kommission. Auf Grund eines neuen Gesetzes, das kurz zuvor verabschiedet worden war, mussten Lebendspenden sich nochmals einer Kommissionsbefragung unterziehen. Sie setzte sich aus einem behandelndem Arzt, Psychologen und einem Rechtsanwalt zusammen. Sie sollten feststellen, ob die Entscheidung aus freien Stücken getroffen worden war und ob sich kein Abhängigkeitsverhältnis daraus ergab. Wieder Befragungen, wieder Angst, vor Ablehnung. Ich konnte diese Ungewissheit, ob es endlich gemacht werden konnte kaum noch ertragen. Aber die Kommission kam zu dem eindeutigen Ergebnis, dass keinerlei Bedenken bestand.
Endlich war es soweit, wir fuhren in die Klinik. Der eigentliche Eingriff sollte in der Urologie gemacht werden, in dem alten Gebäude, in dem auch immer die Transplantationssprechstunde abgehalten worden war. Die beiden zogen auf der Wachstation ein. Den Eindruck, den die Klinik bei meinem ersten Besuch auf mich gemacht hatte, verlor sich hier vollkommen. Hier war nichts mehr von Düsterheit und den Lebzeiten Robert Kochs zu spüren. Hier war moderne Medizin zu Hause. Der Urologe aus dem Transplantationsteam begrüßte die beiden. Es gab nicht viele Patienten, zwei warteten auf die Transplantation, waren mehr tot als lebendig, einer war transplantiert. Von anderen wusste ich nicht, warum sie da waren. Die Zimmer waren hell und freundlich und mit allem medizinischen Details ausgestattet. Für die wenigen Patienten waren verhältnismäßig viele Pfleger und Schwestern da.
Ich schleppte Tom den Cycler und das Dialysat in sein Zimmer und hoffte, ihn  das letzte mal umhergeschleppt zu haben. Man legte sie in getrennte Zimmer. Ein wenig schockiert von dieser Tatsache erklärte mir der Arzt: „Das hat psychologische Hintergründe. Ihrem Schwiegervater wird es nach dem Eingriff sehr schlecht gehen, auf jeden Fall schlechter als ihrem Mann, weil der Eingriff für ihn wesentlich schwerer wird. Ihr Mann soll und darf das nicht sehen, um ihn vor Schuldgefühlen zu bewahren.“ Das leuchtete mir nicht nur ein, ich konnte so viel Weitblick gar nicht fassen. War ich in meinem Urteil über die Transplantationsärzte ungerecht gewesen?
Ich dachte an Gabi und ihre Kollegin, die Nephrologin, die wir in der Zwischenzeit kennen gelernt hatten. Sie hatte uns erzählt, dass es sehr viele Ärzte in Deutschland gibt, die eine Lebendspende ablehnen, die nicht bereit sind, einen solchen Eingriff vorzunehmen. Gebunden an ihren Eid sehen sie es als Art eine Verletzung an, einem gesunden Menschen eine Niere zu entnehmen.


Das Wochenende verbrachten die beiden hauptsächlich in der Stadt, oder mit lesen, oder einfach nur mit ihren Ängsten und Erwartungen. Am Montag sollte der Eingriff sein. Die üblichen Prozeduren, Urin, Dialysatwerte prüfen. Alles verlief völlig normal.
Gespannt warteten wir auf einen Anruf. Meine Schwiegermutter rief mich an. Die OP war verschoben worden. Ich zitterte am ganzen Körper. Das durfte einfach nicht war sein! Der PSA Wert war bei meinem Schwiegervater in einem kritischen Bereich. Man wollte abklären, um was es sich da handelte. PSA ist die Abkürzung für das prostataspezifisches Antigen. Es ist ein Eiweiß und wird vor allem von den Epithelzellen der Prostatadrüsen gebildet und in die Samenflüssigkeit abgegeben. Im Blut kommt es nur in sehr geringen Mengen vor. Bei verschiedenen Erkrankungen der Prostata aber wird PSA vermehrt an das Blut abgegeben. Und genau das war passiert. Man befürchtete eine Erkrankung, die die Niere geschädigt haben könnte. Man unterzog ihn in Windeseile allen möglichen Untersuchungen, um die Ursache zu finden. Warum hatte man das nicht schon lange bemerkt? Man fand nichts. Plötzlich hatte der Wert sich auch wieder normalisiert. Man fand weder die Ursache für die Erhöhung des Wertes, noch für die plötzliche Normalisierung. Alle Aufregung war umsonst.
Ich fluchte und heulte und wir machten uns gegenseitig Mut, dass schon wieder alles werden würde.
Es war an einem Mittwoch, als die beiden in den OP geschoben wurden. Zunächst wurde meinem Schwiegervater die Niere entnommen. Dazu schnitt man ihm den vom Brustbein bis zum Nabel auf und entnahm eine Niere von vorne. Es war lange diskutiert worden, wie es wohl am einfachsten wäre. Andere Ärzte waren der Meinung, es sei günstiger, Nieren vom Rücken aus zu entnehmen. Aber die Entscheidung fällte der Oberarzt und führte auch die OP durch. Ihm wurde eine Narbe verpasst, die tatsächlich wie ein Reißverschluss aussah. Keine Schwester durfte in den ersten zwei Wochen die Wunde versorgen, auch das behielt sich der Arzt vor. Die Niere wurde gespült, untersucht. Dann war Tom dran. Man ließ das Dialysat aus seinem Bauraum ab und setzte die Niere in den Beckenraum. Die Narbe war so klein, wie eine Blinddarmnarbe. Ich hatte immer gedacht, man setzte sie an die gleiche Stelle, an der die  Nichtfunktionierenden  Nieren lagen, aber der Eingriff wäre aus medizinischer Sicht unnötig kompliziert. Vom Beckenraum aus schuf man eine Verbindung zur Blase und zu den Blutgefäßen. Unvorstellbar für mich! Das war wirklich ein Wunder, dass so was möglich war.
An diesem Tag war ich zu nichts zu gebrauchen. Ich lief hin und her und war so nervös. Endlich war es soweit. Würde alles klappen? Würde die Niere arbeiten? Würde sich unser Leben normalisieren? Ich hatte in den letzten 4 ½ Jahren 24 Tonnen Dialysat geschleppt, hatte extreme Schlafstörungen, konnte keine Gefühle mehr an mich ranlassen, da ich befürchtete, sonst zusammenzubrechen, war einfach nur da, ohne zu leben. Hatte mehr Zeit in Krankenhäusern zugebracht, als mit mir selbst. Ich wollte endlich aus diesem Alptraum raus.
Ich versuchte mich mit Arbeit abzulenken, bastelte völlig sinnlose Dinge, als Toms Chef um die Ecke kam und fragte „Und, wie sieht es aus mit Tom?“ Ich sah ihn an und alle Tränen der Welt schossen aus meinen Augen. Ein Heulkrampf schüttelte mich. Ich war nicht in der Lage zu antworten. Es war wie damals, als er plötzlich an Toms Bett stand. Die Bilder der letzten Jahre zogen an mir vorbei und ich hoffte nur auf ein Ende. Dirk antwortete für mich, da mein Chef völlig irritiert auf mich sah „Er wird gerade operiert.“ Er nickte Dirk zu und sein Nicken schien zu sagen „Tröste, ich kann es nicht.“ Leise schlich er davon  und überließ mich meinen Tränen, meiner Angst und meinen Hoffnungen.
Gegen Abend erwachten die beiden aus der Narkose. Ich fuhr mit meiner Schwiegermutter am nächsten Tag hin.
Wieder fand ich Tom an Maschinen, Drähten und Kabeln vor, wieder mit diesem OP Hemdchen.
Aber diesmal lächelte er mir entgegen. „Mir geht es so gut. Es juckt nicht mehr.“